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»Wir wollen Gleichberechtigung«

Archiv Linksfraktion - Rede von Gregor Gysi,

Gemeinsame Sitzung der französischen Nationalversammlung und des Bundestages zum 50. Jahrestag der Unterzeichnung des deutsch-französischen Élysée-Vertrages

Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort hat nun der Kollege Gregor Gysi für die Fraktion Die Linke.

(Beifall)

Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
Meine Herren Präsidenten! Liebe Präsidenten, ich habe so wenig Zeit, dass ich Sie gemeinsam ansprechen muss. Sehr geehrter Herr Premierminister! Liebe Frau Bundeskanzlerin! Heute kann ich keine Auseinandersetzung zu konkreter Politik führen; dazu ist die Zeit zu kurz. Aber es ist zu Recht betont worden, dass vor 50 Jahren vom damaligen Staatspräsidenten General Charles de Gaulle und von Altbundeskanzler Konrad Adenauer durch Abschluss des Élysée-Vertrages eine wichtige Tat vollbracht wurde.
Ich will aber betonen: Die noch wichtigere Tat ist durch beide Völker vollbracht worden, weil sie nämlich wirklich zueinandergefunden haben.

(Beifall)

Ich muss betonen, dass die Leistung des französischen Volkes in der damaligen Zeit etwas größer zu bewerten ist. Sie wissen: Der letzte Krieg zwischen Deutschland und Frankreich war am Ende der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Nazidiktatur war noch zu frisch, auch die Verbrechen, die in Frankreich begangen worden sind. Das deutsche Volk wünschte sich Aussöhnung; das ist gut verständlich. Aber im französischen Volk gab es auch Vorbehalte. Sie haben diese Vorbehalte überwunden und die Versöhnung mit Deutschland gesucht. Das ist bravourös und muss gewürdigt werden.

(Beifall)

Meine Familie ist auch betroffen. Meine Schwester und ich haben unsere Großmutter Erna Gysi überhaupt nur kennengelernt, weil es Frankreich gab; denn sie hatte in Nazideutschland keine Chance, zu überleben, und fand im nicht besetzten Teil Frankreichs Unterschlupf. Dort lebte sie auch nach dem Zweiten Weltkrieg bis zu ihrem Tode in Paris. Sie war wirklich eine sehr intelligente, sehr gebildete und sehr humorvolle Frau. Ich danke Frankreich, dass wir die Chance hatten, sie kennenzulernen.

(Beifall)

Auch meine Eltern haben übrigens in Frankreich Unterschlupf gefunden, mussten dann allerdings nach Nazideutschland zurück, aber nicht, weil Frankreich das wollte, sondern weil ihre Partei das beschloss. Dazu sage ich gar nichts weiter. Glücklicherweise haben sie überlebt, sonst hätte es meine Schwester und mich nicht gegeben, und Letzteres hat zumindest für mich eine gewisse Relevanz.

(Heiterkeit)

Jetzt muss ich noch etwas aus meiner Familie erzählen. Meine Tochter   das ist die neue Zeit   lernt seit ihrem fünften Lebensjahr Französisch. Sie ist jetzt 16 Jahre alt, und alle, die Französisch können, sagen mir, dass sie gut Französisch spricht. Das Problem ist: Ich spreche gar nicht Französisch. Deshalb fährt sie gerne mit mir nach Frankreich, geht sehr gerne mit mir in ein Restaurant, spricht mit den Kellnerinnen und Kellnern und liest die Karte. Ich sitze wie ein Dummkopf daneben. Wenn Sie mich etwas besser kennen würden, würden Sie ahnen, wie sehr sie das genießt.

(Heiterkeit)

Ich muss zugeben, die Französinnen und Franzosen können etwas besser als wir Deutschen: Protestieren. Dabei denke ich nicht nur an den Sturm auf die Bastille oder an die Pariser Kommune, sondern auch daran, als Millionen durch Paris marschierten, als der Kündigungsschutz für Hochschulabsolventen abgeschafft werden sollte, für zwei Jahre. Ich weiß, dass man in Frankreich hervorragend zu Abend essen kann, aber ich muss Ihnen sagen: das Frühstück!

(Heiterkeit)

Wissen Sie, es gibt in Frankreich kleine Hotels, da kriegt man einen Croissant, einen Klacks Butter und einen Klacks Marmelade. Das ist ja ganz nett, aber noch kein Frühstück.

(Heiterkeit)

Wir Deutschen können besser frühstücken, und ich glaube letztlich: Nur gut gefrühstückt kann man auch richtig protestieren.

(Heiterkeit und Beifall)

Deshalb sage ich Ihnen: Wir können gegenseitig voneinander lernen. Wir sollten Folgendes lernen: Wir wollen keine Nation, die über uns steht, aber auch keine, die unter uns steht. Wir wollen Gleichberechtigung.

(Beifall)

Wir brauchen ein demokratisches, ein soziales, ökologisch  nachhaltiges, ein solidarisches und ein friedliches Europa der Bevölkerungen. Dafür müssen wir streiten.
Lassen Sie mich zum Schluss noch etwas zu der jungen Generation sagen. Es wächst eine Jugend heran, die sich Krieg zwischen unseren Ländern gar nicht mehr vorstellen kann, obwohl der letzte Krieg noch gar nicht so lange her ist. Sie denken bei dem Stichwort „Krieg zwischen Deutschland und Frankreich“, man rede über das Mittelalter. Wenn wir eines schafften, nämlich dass für sie Krieg zwischen Deutschland und Frankreich so absurd erscheint, dass sie selbst dann, wenn es einen Idioten geben sollte, der dazu aufruft, einfach nicht hingingen, dann hätten wir etwas geschafft.
Merci.

(Beifall)

Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege Gysi, darf ich Ihre Frühstücksinitiative als förmlichen Antrag der Fraktion zur Einsetzung einer weiteren deutsch-französischen Arbeitsgruppe verstehen? -  Sehr gut.

(Beifall)