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»Wir haben die Demokratie bereichert«

Archiv Linksfraktion - Rede von Gregor Gysi,

Gregor Gysi in der Haushaltsdebatte über den Kanzleretat 2013, der so genannten Elefantenrunde

Herr Präsident! Meine Damen und Herren!

Das Bundesverfassungsgericht hat heute früh entschieden, die einstweiligen Anordnungen nicht zu erlassen.

(Dr. Günter Krings (CDU/CSU): Mensch!)

Sie haben davon gesprochen, Frau Bundeskanzlerin, aber Sie haben nichts zu den Auflagen gesagt. Herr Trittin meinte, die Linke hätte heute eins auf die Mütze bekommen.

(Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ja!)

Ich glaube, er hat das Urteil nicht verstanden.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich will versuchen, es Ihnen kurz zu erklären. Nach meiner Kenntnis - ich bin mir nicht hundertprozentig sicher - ist es überhaupt das erste Mal in der Geschichte der Bundesrepublik, dass das Bundesverfassungsgericht entschieden hat, dass völkerrechtlich verbindliche Vorbehalte erklärt werden müssen - das ist sehr viel mehr als nichts -,

(Beifall bei der LINKEN)

und zwar in zwei Richtungen: Erstens muss völkerrechtlich verbindlich geklärt werden, dass es ein Überschreiten der Haftung Deutschlands von 190 Milliarden Euro nur dann geben darf, wenn Deutschland vorher zugestimmt hat.

(Norbert Barthle (CDU/CSU): Das ist schon geregelt! - Otto Fricke (FDP): Das steht doch im Gesetz!)

Zweitens - ich sage gleich etwas zu Ihnen - muss trotz der Schweigepflicht der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Europäischen Zentralbank und anderer Regelungen gesichert werden, dass der Bundesrat und der Bundestag umfassend und vollständig zu informieren sind. Wenn Sie sagen, dass das schon im Gesetz steht, dann sagen Sie dem Bundesverfassungsgericht, dass es Überflüssiges entschieden hat. Hat es aber nicht, ganz im Gegenteil.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich sage Ihnen auch, warum. Das ist ein indirekter Eingriff in die Verträge. Völkerrechtlich verbindliche Vorbehalte zu erklären, ist schwierig. Ich warne Sie jetzt vor Folgendem, Frau Bundeskanzlerin: Wenn Sie die Vorbehalte formulieren, lassen Sie das nicht allein die Regierung entscheiden. Bundestag und Bundesrat müssen über die Vorbehalte mitentscheiden.

(Beifall bei der LINKEN)

Um eine völkerrechtlich verbindliche Regelung zu treffen, könnte es sogar sein   das ist noch strittig  , dass alle anderen Länder zustimmen müssen. Ich sage Ihnen: Hier hat das Bundesverfassungsgericht erst einmal ein Stoppzeichen gesetzt, weil vieles zu klären ist. Das Bundesverfassungsgericht hat noch etwas gesagt: Wenn die Vorbehalte nicht wirksam werden, dann gelten die Verträge für Deutschland nicht. Das hat es ausdrücklich betont.
Wir haben also zwei Dinge erreicht   wir, nicht Sie; die Fraktionen von Union, SPD, FDP und Grünen haben diesbezüglich nichts unternommen; es hat sie nicht interessiert  : Wir haben erreicht, dass es eine Haftungsbegrenzung für Deutschland gibt

(Volker Kauder (CDU/CSU): Das ist ja gar nicht wahr!)

und dass Bundesrat und Bundestag mehr Rechte haben. Das heißt, wir haben die Demokratie bereichert.

(Beifall bei der LINKEN)

Eigentlich müssten Sie sich heute hier hinstellen und sagen: Danke, liebe Linke!   Denn das verdanken Sie uns. Das ist die Wahrheit.

(Otto Fricke (FDP): Nein! - Norbert Barthle (CDU/CSU): So ein Blödsinn!)

Sie haben zu Recht, Frau Bundeskanzlerin, darauf hingewiesen, dass die Krise von den Banken verursacht wurde. Deshalb   ich wiederhole es   ist der Begriff „Schuldenkriese“ völlig falsch, weil damit immer der Eindruck erweckt wird, als seien die Sozialausgaben und Ähnliches in den betroffenen Ländern zu hoch gewesen. Nein, wir haben für die Pleitebanken, die spekuliert und gezockt haben, gezahlt, in Griechenland, in Spanien, in Italien, in Deutschland, überall. Das hat die hohe Verschuldung verursacht. Ich frage Sie: Warum können wir uns nicht darauf verständigen, dass es nicht die Pflicht der europäischen und damit auch der deutschen Steuerzahlerinnen und Steuerzahler ist, für die Zockerei der Banken zu bezahlen? Wieso werden die dafür eigentlich in Anspruch genommen?

(Beifall bei der LINKEN)

In den Bundesländern wurde gerade über einen Staatsvertrag, in dem es um Spielkasinos geht, verhandelt. Folgendes fand ich ganz witzig: Eine linke Landtagsfraktion hat beantragt, die Banken mit aufzunehmen. Das ist von Ihnen natürlich abgelehnt worden. Aber ich sage Ihnen: Ja, die Banken sind zu Spielkasinos verkommen. Ich nenne Ihnen nur ein Beispiel: Was zurzeit weltweit in Bezug auf Lebensmittel geschieht, ist abenteuerlich. Da wird spekuliert, und die Lebensmittel werden immer teurer. Die nehmen Hunger in Kauf, nur um Profite zu machen. Das spricht für Menschenverachtung. Dagegen sollten Sie etwas tun, Frau Bundeskanzlerin.

(Beifall bei der LINKEN)

In Europa wird nun der Weg der harten Kürzungsauflagen beschritten. Ich halte diesen Weg für falsch; denn er verschärft die Krise. Ich nenne einige Zahlen: In Griechenland beträgt die Arbeitslosenquote derzeit 25 Prozent, in Spanien 22 Prozent. Die Jugendarbeitslosenquote beträgt in Griechenland 55 und in Spanien 53 Prozent. Ich frage Sie: Was soll aus diesen Jugendlichen werden? Ich ahne schon, wie die Überschriften in der Bild-Zeitung lauten werden, wenn diese Jugendlichen später kriminell werden und strafbare Handlungen begehen. Jetzt werden die Ursachen dafür gelegt. So kann man die Probleme Europas nicht lösen.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir erleben Kürzungen bei Löhnen, bei Renten, beim Arbeitslosengeld und bei Investitionen. Ich nenne Ihnen nur ein Beispiel   Sie haben es ja sehr gewürdigt, Frau Bundeskanzlerin  : Portugal. In Portugal müssen alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ab 2013 um 7 Prozent höhere Versicherungsbeiträge zahlen, und die Unternehmen werden bei den Versicherungsbeiträgen um 5,5 Prozent entlastet. Es findet wie immer eine Umverteilung von unten nach oben statt. Und die Rentner in Griechenland? Sie sind krankenversichert und müssen trotzdem alle Medikamente selbst bezahlen, weil ihnen sonst nicht geholfen wird. Eine Frau, die in Griechenland zur Entbindung in ein Krankenhaus muss, muss die Entbindung selbst bezahlen; sonst wird ihr ärztlich nicht geholfen. Sagen Sie einmal: Wo leben wir eigentlich? Es gibt doch wohl Grenzen, die nicht überschritten werden dürfen!

(Beifall bei der LINKEN - Norbert Barthle (CDU/CSU): Wir leben in Deutschland!)

Die Wirtschaftsleistung Griechenlands ist um ein Fünftel zurückgegangen; solche Zahlen gab es früher nur im Krieg. Aber in einem Punkt hat Frau Bundeskanzlerin recht: Wenn Griechenland aus dem Euro-Raum austritt, dann wird Griechenland nicht nur verelenden, sondern das wird auch teuer für Deutschland. Das kostet uns mindestens 62 Milliarden, wenn nicht gar 80 Milliarden Euro. Außerdem würde das einen Dominoeffekt auslösen. Ich sage Ihnen: Die Ratingagenturen und Hedgefonds greifen sich dann Portugal, später Spanien und Italien, und dann ist der Euro tot. Wenn der Euro tot ist, führt das zu einer Katastrophe in Deutschland. Würden alle Länder in Europa ihre nationalen Währungen wiederbekommen, wäre das nicht nur ein Rückschritt, sondern hätte auch zur Folge, dass die anderen Länder ihre Währungen so lange abwerten würden, bis wir dorthin so gut wie nichts mehr verkaufen können. Dann bricht hier die Außenwirtschaft zusammen, mit allen damit verbundenen Folgen wie Arbeitsplatzproblemen etc. Tun Sie nicht so, als seien Sie altruistisch! Deutschland braucht dringend den Euro. Das ist die Wahrheit.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir müssen - ich sage es noch einmal - auch endlich von der gescheiterten Politik der Kürzungen wegkommen. Herr Steinmeier, Sie sind darauf eingegangen, dass SPD und Grüne die Voraussetzungen dafür geschaffen haben. Gerade jährte sich die Agenda 2010. Womit war die Agenda 2010 verbunden? Mit der Senkung des Rentenniveaus, mit der Teilprivatisierung der Rente, mit der Schaffung eines Niedriglohnsektors, mit einer umfassenden prekären Beschäftigung, wie erzwungener Teilzeit, Befristung, Leiharbeit und all diesen üblen Sachen. Vorgestern feierte Gerhard Schröder den Jahrestag der Agenda 2010.

(Zuruf des Abg. Dr. Frank-Walter Steinmeier (SPD))

- Auch Sie würdigen ihn; auch die SPD ist stolz. - Oskar Lafontaine sprach vor denselben Studierenden dagegen und erklärte: Sie war die Einleitung des Sozialabbaus und die Entsozialdemokratisierung der SPD. - Ich finde, nicht Gerhard Schröder, sondern Oskar Lafontaine hat recht.

(Beifall bei der LINKEN)

In den letzten zehn Jahren sind die Reallöhne um 4,5 Prozent, die Renten um 8 Prozent und die Sozialleistungen um 5 Prozent gesunken. Knapp 8 Millionen Menschen arbeiten im Niedriglohnsektor, sie verdienen Stundenlöhne von unter 7 Euro, unter 6 Euro, sogar unter 5 Euro brutto. Im letzten Jahr waren 2,7 Millionen Menschen befristet beschäftigt. Fast jede zweite Neueinstellung ist befristet. Hinzu kommen Leiharbeit, Aufstockerinnen und Aufstocker und anderes. Sie können doch die Probleme nicht einfach negieren. Schröder und Fischer, SPD und Grüne, aber auch Union und FDP begründen das immer damit, dass das im Interesse der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft, also im Hinblick auf hohe Exportzahlen, nötig sei. Deutschland lebt über seine Verhältnisse, weil wir sehr viel mehr herstellen, als wir verbrauchen. Andere Länder leben unter ihren Verhältnissen, weil sie weniger herstellen. Deutschland ist ja nicht zufällig Vizeexportweltmeister.

(Jörg van Essen (FDP): Was ist das für eine schreckliche Denke?)

- Nein, Moment doch mal! - Aber wenn wir Länder arm machen, die bei uns kaufen, dann kaufen sie hier weniger ein, und auch wir spüren das dann. Fragen Sie doch einmal die Beschäftigten bei Opel, die das schon erleben. Die Exporte aus Deutschland nach Italien, Spanien, Griechenland und Portugal sind schon um 10 Prozent zurückgegangen. Wir senken in anderen Ländern die Kaufkraft, und das hat Folgen auch für uns; so einfach ist das. Alles steht doch in einem Zusammenhang. Wenn der Export in Deutschland zusammenbricht, führt das - ich habe es schon gesagt - zu einer steigenden Arbeitslosigkeit mit verheerenden sozialen Folgen.

(Dr. Michael Meister (CDU/CSU): Das reden Sie doch gerade herbei!)

Ich höre schon jetzt, wie Union, SPD, FDP und Grüne dann rufen: Wir müssen die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands wiederherstellen! - Wenn sie das rufen, dann heißt das: wieder runter mit den Löhnen und den Renten, noch mehr Geringverdienende und noch mehr prekär Beschäftigte.

(Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ach Mensch! Erzählen Sie doch mal was Neues!)

Das ist der falsche Weg.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir brauchen endlich, und zwar im Süden Europas wie in Deutschland, einen Weg, um die Binnenwirtschaft zu stärken. Wir brauchen höhere Löhne, höhere Renten und Sozialleistungen, mehr soziale Gerechtigkeit und darüber eine Stärkung der Binnenwirtschaft.

Für die Südländer, also Griechenland, Italien, Spanien, Portugal, brauchen wir einen Marshallplan, wir brauchen Aufbau- und nicht Abbaukredite; das wissen wir aus unserer eigenen Geschichte. Außerdem müssen wir nicht immer den Umweg über private Banken gehen, die wir reich machen, sondern Direktkredite gewähren. Nur wenn die Länder über Steuereinnahmen verfügen, können sie Darlehen zurückzahlen. Anders kann das überhaupt nicht funktionieren. Wenn Sie den Süden pleite machen, sorgen Sie damit dafür, dass Deutschland seine Gelder nicht zurückbekommt. So einfach ist das.

Übersetzt bedeutet das Folgendes: Ich will immer, dass es meiner Nachbarin gut geht. Aber wenn ich ihr Geld gebe, will ich erst recht, dass es ihr gut geht, denn nur dann bekomme ich mein Geld zurück. Das ist ganz einfach.

Die EZB leiht den Privatbanken Geld für 0,75 Prozent Zinsen für drei Jahre, und die Banken unterstützen dann Italien und andere Länder für 6 Prozent Zinsen; das heißt, sie nehmen Staatsgeld, geben es einem Staat und verdienen die Differenz. Womit rechtfertigen Sie das eigentlich gegenüber den Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern in Deutschland?

(Beifall bei der LINKEN)

Auch ich sage: Es muss Auflagen für Griechenland geben. Zum Beispiel müssen die Militärausgaben halbiert werden, die reichen Griechen endlich gerecht besteuert werden, Steuerhinterziehung wirksam bekämpft werden. Dafür bin auch ich. Aber wir brauchen noch etwas: Wir müssen endlich den Weg gehen, die Verursacher der Krise und die, die einen Nutzen von der Krise haben, zur Bezahlung heranzuziehen, und nicht die Rentnerinnen und Rentner, nicht die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, nicht die Erwerbslosen.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich nenne Ihnen nur zwei Zahlen: Vor der Krise gab es in Deutschland 720 000 Vermögensmillionäre. Jetzt gibt es 960 000 Vermögensmillionäre. Die Reallöhne wurden gekürzt, und die Zahl der Vermögensmillionäre ist größer geworden. 0,6 Prozent - 0,6 Prozent! - unserer Bevölkerung besitzen ein Vermögen von 2 Billionen Euro. Das entspricht der Höhe unserer gesamten Staatsschulden. Was ist das eigentlich für eine maßlose Ungerechtigkeit?
Beim Kampf gegen die Steuerhinterziehung höre ich immer ein Argument. Es kommt von der Union und, jetzt vielleicht nicht mehr - das hoffe ich jedenfalls  , von der SPD. Das Argument heißt immer: Die Reichen bringen dann ihr Vermögen ins Ausland, oder sie nehmen ihren Wohnsitz auf den Seychellen oder in anderen Ländern. Deswegen kann ihr Vermögen nicht besteuert werden.

(Joachim Poß (SPD): Das haben Sie von der SPD noch nicht gehört!)

- Ich kenne das Problem.

Deshalb haben wir Ihnen vorgeschlagen - Sie haben das bisher aber abgelehnt -, dass wir diesbezüglich US-Recht einführen und die Steuerpflicht auch an die Staatsbürgerschaft binden. Ein Deutscher, egal wo er wohnt, wäre dann verpflichtet, hier in Deutschland sein Einkommen und sein Vermögen bekannt zu geben. Er kann auch bekannt geben, welche Steuern er woanders zahlt. Das wird angerechnet. Hinsichtlich der Differenz bekommt er einen Steuerbescheid. Dazu müsste jeder Deutsche, egal wo er wohnt, verpflichtet werden. So haben das die Amerikaner geregelt. Warum können wir das in Europa nicht endlich auch so regeln?

(Beifall bei der LINKEN)

Das wäre übrigens auch für die 2 000 griechischen Familien wichtig; denen 80 Prozent des Vermögens Griechenlands gehört. Dann können auch sie zur Kasse gebeten werden. Aber Sie sträuben sich immer dagegen. Ich finde, Sie haben dafür keine guten Gründe.

Wenn ich das zusammenfasse, sage ich immer Folgendes: Es gibt drei Wege im Zusammenhang mit der Krise. Union und FDP gehen den Weg, Geld durch die Europäische Zentralbank drucken zu lassen. Wenn man Geld drucken lässt, entwertet man das Geld, entwertet man die Sparguthaben, entwertet man die Löhne und Renten. Sie dürfen die Folgen von dem, was Sie dort anrichten, nicht unterschätzen.

SPD und Grüne wollen den Weg über die gemeinschaftliche Verschuldung gehen. So, wie Sie das vorschlagen, ist das abenteuerlich, weil die Leute für Dinge im eigenen, aber vor allen Dingen auch in anderen Ländern haften, auf die sie nicht den geringsten Einfluss haben.

(Otto Fricke (FDP): Sehr wahr!)

Ich sage: Man kann das eine und das andere ein bisschen machen. Im Kern muss es aber einen anderen Weg geben, den Weg der Umverteilung, und zwar endlich einmal von oben nach unten und nicht von unten nach oben.
(Beifall bei der LINKEN)

Wenn wir das nicht machen, bekommen wir die Krise weder bezahlt noch sozial gerecht bewältigt.
Kommen wir doch kurz einmal zur Energiewende. Als der Bundestag den Ausstieg aus der Atomenergie beschloss, Frau Bundeskanzlerin, habe ich hier - das muss ich einmal sagen - als Einziger darauf hingewiesen, dass damit auch die soziale Frage verbunden ist. Das hat Sie damals alle noch nicht beschäftigt. Ich habe Ihnen gesagt: Der Strom wird sich verteuern. Die Frage ist: Wie wollen wir dieses Problem lösen?

(Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Haben Sie etwas gegen den Ausstieg?)

- Nein, ich habe nichts gegen den Ausstieg aus der Atomenergie, aber die sozialen Fragen müssen wir in diesem Zusammenhang sehen und beantworten.
Jetzt wird angedroht, dass sich die Preise um 30 Prozent erhöhen. Wollen wir, dass ganze Familien ohne Strom leben?

(Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Was denn jetzt?)

Ich finde übrigens die Millionen Stromabsperrungen, die wir haben, indiskutabel. Es verletzt die Würde eines Menschen, wenn er keine Energie hat. Ich finde, Stromabschaltungen müssten wir verbieten.

(Beifall bei der LINKEN)

Das Zweite, das wir endlich begreifen müssen: Energieversorgung ist eine öffentliche Daseinsvorsorge. Deshalb gehört auch sie in öffentliche Hände. Ich möchte, dass demokratisch gewählte Parlamente und Regierungen über das Verhältnis von Kosten und Preisen entscheiden. Genau das lehnen Sie ab.

(Otto Fricke (FDP): Über Ernährung auch?)

Wahr ist - da haben Sie Recht -, dass wir erneuerbare Energien benötigen. Aber dann erklären Sie mir doch einmal, warum Sie gesetzlich garantierte Förderung der erneuerbaren Solarenergie herunterfahren und die der Windenergie hochfahren. Dafür gibt es einen Grund: Die gesetzlich geförderte Solarenergie nutzt auch mittelständischen Unternehmen. Die Windparks an Nord- und Ostsee können sich nur die vier Konzerne leisten. Immer wieder treffen Sie Maßnahmen zugunsten der Konzerne. Hier kommt noch hinzu, dass die Solarindustrie nicht nur, aber überwiegend im Osten und besonders in Sachsen-Anhalt entstanden ist. Ich sage Ihnen: Deindustrialisieren Sie den Osten nicht zum zweiten Mal! Das ist nicht zu verkraften.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir wollen auch Sozialtarife. Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Wir könnten doch sagen: Pro Person ist eine bestimmte Menge an Kilowattstunden - wir können über die Höhe diskutieren, vielleicht 500; ich weiß es nicht - beitragsfrei.

(Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): „Beitragsfrei“?

Dafür muss nichts bezahlt werden. Aber danach beginnt eine lineare Steigerung. Das heißt, wir erreichen zwei Dinge: Erstens. Es ist sozial. Zweitens. Wir setzen ökologisch durch, dass man mit Energie sparsam umgeht, weil man sie danach, linear steigend, zu bezahlen hat.
Wir wissen, dass es gerade bei ärmeren Familien viele Stromfresser gibt, weil sie sich keine neuen Haushaltsgeräte leisten können. Wie wäre es denn hier statt beim Auto mit einer Abwrackprämie von 100 Euro, wenn jemand sein Gerät zum Schrott bringt und sich dafür eine stromsparende Maschine kauft?

(Beifall bei der LINKEN)

Aber es gibt ein weiteres Problem: die Mieten. Die Mieten werden langsam unbezahlbar. Das gilt für München und für viele andere Städte in Deutschland. Wohnen muss aber bezahlbar bleiben. Auch das hat etwas mit der Würde des Menschen zu tun. Ich finde, dass Obdachlosigkeit keine Lösung ist. Ergo müssen wir doch über eine Deckelung der Mieten nachdenken. Von der Bundesregierung kommt aber nichts. Ich möchte, dass Sie endlich Vorschläge unterbreiten.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Nun kommen wir zur Rente. Frau Bundeskanzlerin, Sie haben über die Rente gesprochen, aber ein wirklich wichtiges Thema ausgelassen. Die Stärke der Linken reichte aus, um CDU, CSU und FDP dazu zu bringen, die Angleichung der Rentenwerte Ost und West in den Koalitionsvertrag aufzunehmen. Leider   das muss ich den Wählerinnen und Wählern sagen   reichte aber unsere Stärke noch nicht aus, Sie dazu zu bringen, das auch umzusetzen. Sie haben sich jetzt für den Koalitionsvertragsbruch entschieden und sagen: Die Angleichung fällt aus.   Ich bitte Sie: Wir haben jetzt 22 Jahre deutsche Einheit, und wie 1990 muss ich immer noch sagen: Zur Einheit gehört, dass man endlich für die gleiche Arbeit in gleicher Arbeitszeit den gleichen Lohn bekommt und für die gleiche Lebensleistung die gleiche Rente. Wer das nicht will, der spaltet Deutschland.

(Beifall bei der LINKEN)

Nach der Entscheidung - auf unsere Kleine Anfrage hat die Regierung mitgeteilt, dass die Angleichung der Rentenwerte ausfallen wird - habe ich einen Brief von CDU-Frauen, Rentnerinnen aus dem Osten, bekommen, Herr Kauder, die sich bei mir über Sie beschweren. So weit ist es inzwischen schon gekommen.

(Volker Kauder (CDU/CSU): Die Welt ist verrückt!)

Dann haben wir noch ein weiteres Thema: Altersarmut. Das betrifft ganz Deutschland. Ich danke Frau von der Leyen und auch Herrn Gabriel dafür, dass plötzlich die 35- und 45-Jährigen begriffen haben, dass es sie treffen wird und dass sie in noch schlimmerer Altersarmut als heute leben werden.

Die Grünen darf ich daran erinnern, dass sie bei der Senkung des Rentenniveaus immer behauptet haben, sie machen das im Interesse der jungen Generation. Gerade die junge Generation wird unter Altersarmut leiden. Korrigieren Sie sich diesbezüglich endlich!

(Beifall bei der LINKEN)

Wir hatten im Jahr 2000 ein Rentenniveau vor Steuern von 53 Prozent. Heute sind es 51 Prozent, und im Jahr 2030 werden es nur noch 43 Prozent des durchschnittlich erzielten Lohns sein. Die Ursache der Rentenkürzungsprogramme haben Sie letztlich alle zusammen geschaffen, weil die Rentenformel geändert wurde. Sie haben Kürzungen bei der Ausbildung vorgenommen, und Sie haben noch dafür gesorgt, dass für Hartz-IV-Beziehende überhaupt keine Rentenbeiträge mehr gezahlt werden.

Natürlich hat Herr Gabriel völlig recht: Der Niedriglohnsektor und die prekäre Beschäftigung verschärfen die gesamte Situation. Er hätte aber auch sagen müssen, dass er es eingeführt hat, und er hätte wenigstens sagen müssen, dass das ein schwerwiegenden Fehler der Sozialdemokratie war und dass er ihn korrigieren will.

(Beifall bei der LINKEN)

Frau Bundeskanzlerin, Sie haben recht, wenn Sie feststellen, dass der flächendeckende gesetzliche Mindestlohn die Probleme der Altersarmut nicht löst.

(Joachim Poß (SPD): Es hat auch keiner behauptet, dass er das tut!)

Aber ein bisschen hilft er schon. Wenn wir nämlich höhere Löhne haben, dann gibt es auch höhere Beiträge und damit höhere Renten. Insofern gibt es schon einen Zusammenhang. Es reicht nicht aus, aber immerhin.

Die private Vorsorge ist ein Flop. Die private Lebensversicherung können sich die Geringverdienenden nicht leisten. Die Riester-Renten bringen viel weniger Erträge als versprochen.

Nun kommen die Vorschläge von Frau von der Leyen und auch von der SPD. Frau von der Leyen will eine Zusatzrente, aber viele, die sie brauchten, sollen sie nicht bekommen. Das ist völlig unvollständig. Bei der SPD geht es um eine Mindestrente von 850 Euro brutto. Netto wären das übrigens 760 Euro, nur dass man auch das weiß. Das löst das Problem aber auch nicht, weil Sie nicht bereit sind, das Rentenniveau zu erhöhen. Das ist aber der wichtigste Schritt.
Ich schlage Ihnen noch einmal   weil das Schicksal der älteren Menschen uns alle angeht   einen Rentengipfel vor, an dem alle Parteien teilnehmen. Wir müssen dann über elf Fragen nachdenken. Ich will Sie Ihnen stellen.

(Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Elf?)

- Ja, elf Punkte.

Präsident Dr. Norbert Lammert:
Sie berücksichtigen dabei bitte, Herr Kollege Gysi, dass Sie dafür genau eine Minute Zeit haben, ja?

Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
Herr Bundestagspräsident, ich weiß das.

Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ich verfolge das wie immer mit sportlichem Ehrgeiz.

(Heiterkeit)

Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
Also: Erstens. Verzicht auf Beitragssenkung im nächsten Jahr. Wir brauchen das Geld.
Zweitens. Wiederherstellung des ursprünglichen Rentenniveaus, das heißt 53 Prozent des Lohns.
Drittens. Mindestrente beginnend mit   sagen wir mal, als einem Zuschlag auf die erworbenen Rentenansprüche   900 Euro bei schrittweiser Anhebung auf 1 050 Euro.
Viertens. Abschaffung der Kürzung der Rente um zwei Jahre, also keine Rente erst ab 67 Jahre.

(Beifall bei der LINKEN)

Fünftens. Ausbildungs-, Erziehungs- und Pflegezeiten müssen besser berücksichtigt werden.
Sechstens. Die Geringverdienenden sollen in der Rente so behandelt werden, als ob sie drei Viertel des Durchschnittsverdienstes verdient hätten. Das war früher so geregelt. Das können wir wieder einführen.

Siebtens. Unverzüglich müssen wieder Beiträge in die gesetzliche Rentenversicherung für Hartz-IV-Beziehende gezahlt werden, und zwar so, als ob sie die Hälfte des Durchschnittslohns bezögen.

Achtens. Dann brauchen wir die Abschaffung der Abschläge und die Erhöhung der Erwerbsminderungsrenten.

Damit komme ich schon zum neunten Punkt, Herr Bundestagspräsident.

Präsident Dr. Norbert Lammert:
Sie sind auch schon über die Redezeit, Herr Kollege Gysi.

(Heiterkeit)

Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
Ab einem bestimmten Zeitpunkt muss endlich eingeführt werden, dass künftig alle Menschen mit Erwerbseinkommen in die gesetzliche Rentenversicherung einzahlen, auch Unternehmer, Rechtsanwälte, Beamte und Bundestagsabgeordnete.

(Beifall bei der LINKEN)
Zehntens. Dann müssen wir die Beitragsbemessungsgrenze aufgeben. Dann muss eben der nächste Ackermann einen bestimmten Prozentsatz von seinem gesamten Einkommen in die Rentenversicherung einzahlen. Die damit verbundenen Rentensteigerungen müssen abgeflacht werden.

Elftens brauchen wir eine Rentenangleichung zwischen Ost und West.

(Beifall bei der LINKEN)

Meine vorgesehenen Schlussworte lasse ich nun weg. Nur so viel: Sie bringen nichts mehr zustande. Es gibt überhaupt keinen Grund   das hat die SPD völlig zu Recht festgestellt  , warum wir noch ein Jahr bis zur nächsten Bundestagswahl warten sollten. Eigentlich müssten wir sofort wählen. Es gibt nur ein Problem: Diese Koalition bringt noch nicht einmal ein grundgesetzgemäßes Wahlrecht zustande. Wir haben überhaupt keins mehr.

(Beifall bei der LINKEN)

Liebe Herr Präsident, eine Bitte: So nett es mit Ihnen ist, aber dass wir beide lebenslänglich hier bleiben müssen, sollten wir nicht zulassen. Also schaffen sie endlich ein grundgesetzgemäßes Wahlrecht! Das ist doch nicht zu viel verlangt, oder?

(Beifall bei der LINKEN)