Rede in der Debatte zum sechzigjährigen Bestehen des Grundgesetzes.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Über die Verabschiedung des Grundgesetzes und die Gründung der Bundesrepublik Deutschland kann man nicht sprechen, wenn man nicht wenigstens ein oder zwei Sätze zu der vorangegangenen Zeit sagt. Die Gründung eines neuen Staates wäre nicht erforderlich gewesen, wenn die deutsche Gesellschaft, wenn das deutsche Volk das Naziregime verhindert hätte. Aber dieses Regime hat von 1933 bis 1945 existiert. Nicht nur seine Methoden waren in einer bis dahin nie gekannten Art und Weise verbrecherisch. Vielmehr hatte dieses Regime ausschließlich verbrecherische Ziele, keine anderen. Insofern sage ich: Der 8. Mai 1945 war - das müssen endlich alle begreifen - ein Tag der Befreiung, egal wie es damals aussah. Es konnte nur ein Tag der Befreiung sein.(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Dann war Deutschland besetzt, zuerst von vier Siegermächten. Es stellte sich die Frage, was jetzt geschehen sollte. Ich glaube, dass die deutschen Politiker in Ost und West nicht die Geduld der Österreicherinnen und Österreicher hatten; denn auch Österreich war von vier Mächten besetzt, aber Österreich ist ein Land geblieben. Von Konrad Adenauer stammt der Satz: Lieber das halbe Deutschland ganz als das ganze halb. - Die im Osten dachten genauso. Ich glaube, die vier Mächte hätten gar nichts machen können, wenn wir alle gesagt hätten: Nein, wir gründen nur einen Staat zusammen. - Wie hätten sie das verhindern sollen? Aber wir hatten diese Geduld nicht.
(Zuruf von der CDU/CSU: Es ist nicht zu fassen!)
Was wäre eigentlich daran so schlimm gewesen, wenn wir diesen Weg zusammen gegangen wären? Gut, wir wären nicht in der NATO oder im Warschauer Vertrag gewesen, so wie Österreich. Na und?, kann ich nur sagen. Ich sehe darin keine Katastrophe. Wir hätten auf die Art und Weise die Spaltung verhindern können. Sie dürfen übrigens nicht vergessen, dass zuerst die Bundesrepublik Deutschland ohne den Osten gegründet worden ist und erst danach die DDR. Nachdem die vier Mächte das alles mitgetragen und mitorganisiert hatten, da waren sie sich einig, den Kalten Krieg hier zwischen beiden deutschen Staaten auszutragen. Machen wir uns nichts vor: Wäre es zu einem dritten Weltkrieg gekommen, existierte Deutschland heute nicht mehr. Das war zwischen ihnen verabredet. Es gab Politiker, auch wieder in Ost und West, die das erkannten und zu verhindern versuchten. Das ist gelungen.
Wenn wir darüber reden, dann müssen wir auch sagen, dass die Besetzung Ostdeutschlands durch die Sowjetunion doch ein Zufall war. Stellen Sie sich einmal vor, die sowjetischen Truppen wären anders vorgedrungen und nach Bayern einmarschiert. Dann wäre aus Bayern eine Art DDR geworden. Herr Ramsauer würde heute die Kompliziertheit seiner Biografie erklären, und wir alle würden leicht arrogant zuhören. Das ist die Wahrheit.
(Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN)
Ich will damit sagen: Das, was ich nicht mag, ist, wenn jemand, der nur in der Bundesrepublik Deutschland gelebt hat, einer ehemaligen Bürgerin oder einem ehemaligen Bürger der DDR erklärt, wie er in der DDR gelebt hätte, wenn er dort gelebt hätte. Er kann es eigentlich nicht wissen und sollte einen gewissen Grad an Bescheidenheit diesbezüglich an den Tag legen.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Dr. Guido Westerwelle (FDP))
Das Grundgesetz ist zweifellos eine hervorragende Verfassung. Es erstaunt mich, wie tief zwei Sätze aus dem Grundgesetz im Denken und Fühlen der Menschen verankert sind. In fast jedem zweiten Brief, den ich bekomme, wird entweder der eine oder der andere Satz zitiert. Der eine Satz lautet „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, und der zweite Satz lautet „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“ Immer wieder kommen diese Sätze vor. Das kriegt keiner mehr aus dem Kopf. Selbst wenn jemand heimlich darüber nachdenken würde, diese Sätze zu streichen - dafür wird es, glaube ich, in Deutschland niemals eine Zweidrittelmehrheit geben, sodass das ausgeschlossen und auch gar nicht gestattet ist.
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos))
Heute sind der zweite und der erste Satz nach wie vor von großer Bedeutung. Beide Sätze beschreiben doch keinen Istzustand. Nie kann eine Gesellschaft behaupten, das sei verwirklicht. Aber es muss ein Ringen darum geben, und in den letzten Jahren gab es mir zu wenig Ringen darum, die Würde des Menschen wirklich für unantastbar zu erklären und die soziale Eigentumsverpflichtung herauszuarbeiten. Das Gegenteil haben wir in der Krise erlebt.
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos))
Das Grundgesetz unterstreicht die politischen und demokratischen Grundrechte sehr deutlich, die sozialen Rechte werden weniger betont. Dazu ist hier schon einiges gesagt worden.
Aber wir müssen in der Geschichte weitergehen. Die Mauer fiel friedlich, die deutsche Einheit kam friedlich zustande. Das ist ein großes Verdienst und ein großes Glück in unserer Geschichte, woran wir früher überhaupt nicht geglaubt hatten. Trotzdem sage ich: Seitdem gibt es einen ungeheuren Fortschritt für die ostdeutsche Bevölkerung; denn sie lebt in Freiheit und Demokratie, was sie vorher nicht kannte. Es war eine Zäsur in der Geschichte, aber die Einheit erfolgte leider durch Beitritt, nicht durch eine neue Verfassung und nicht durch Vereinigung. Es gab zwei Mängel, die sich bis heute auswirken. Es gab vielleicht noch mehr, aber ich nenne zwei, die mir wichtig sind. Eine Ursache, warum wir gesellschaftlich immer noch gespalten sind, sehe ich darin, dass die ostdeutschen Eliten in Kultur, Wissenschaft und anderen Bereichen nicht am Einigungsprozess beteiligt, sondern abgewickelt wurden. Die zweite Ursache sehe ich darin, dass das westdeutsche System eins zu eins auf den Osten übertragen wurde und Erfahrungen, die dort existierten, nicht berücksichtigt wurden.
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos))
So nahmen viele Westdeutsche die Einheit zwar erfreut zur Kenntnis, aber sie konstatieren, dass es seit der Einheit auch im Westen wirtschaftlich und sozial bergab geht. Viele glauben, schuld daran sei der Osten, der Milliarden erhalte, ohne dass sich die wirtschaftliche Lage dort und im Westen verbessere. Obendrein seien die Ostdeutschen zum Teil auch noch unzufrieden und wählten komisch. Letzteres passiert zunehmend auch im Westen, sodass wir uns diesbezüglich schon vereinigen.
(Heiterkeit bei Abgeordneten bei der LINKEN)
Aber die gegenwärtige Krise beweist, dass die Thesen zur Wirtschafts- und Soziallage falsch sind. Der Sozialabbau im Westen und auch im Osten erfolgt doch nicht wegen des Ostens, sondern überall wegen der gigantischen Umverteilung von unten nach oben. Genau diese Umverteilung muss gestoppt und umgekehrt werden.
(Beifall bei der LINKEN)
Nach 19 Jahren sind die Renten im Osten im Durchschnitt noch um 15 Prozent niedriger als im Westen; das ist ein Problem. Die Löhne im Osten sind durchschnittlich ein Drittel niedriger als im Westen, und zwar bei gleicher Arbeit und längerer Arbeitszeit. Der Niedriglohnsektor umfasst 41 Prozent im Osten und 19 Prozent im Westen. Die Arbeitslosigkeit im Osten ist doppelt so hoch.
Das größte kulturelle Defizit liegt in der häufigen Missachtung ostdeutscher Biografien. Geradezu symbolisch und massiv kommt dies in der Ausstellung „60 Jahre Bundesrepublik Deutschland“ zum Ausdruck: Die Geschichte der DDR wird nicht als Teil der deutschen Geschichte begriffen. Es gibt kein Bild, keine Plastik von einem Maler oder Bildhauer der DDR, nicht von John Heartfield, nicht von Wolfgang Mattheuer, nicht von Fritz Cremer, nicht von Otto Niemeyer-Holstein, nicht von Jo Jastram, nicht von Bernhard oder Johannes Heisig, nicht von Hartwig Ebersbach, nicht von Willi Sitte, nicht von Werner Tübke, nicht von Albert Ebert, nicht von Wieland Förster, nicht von Arno Mohr. Das ist nach 60 Jahren Grundgesetz, nach 60 Jahren Bundesrepublik Deutschland nicht vertretbar.
(Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Jetzt mal die Frauenliste!)
- Ja, das war genauso einseitig.
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Rolf Stöckel (SPD))
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Herr Gysi, kommen Sie bitte zum Schluss.
Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
Ich bin sofort fertig.
Lassen Sie mich noch eines sagen: Meine Generation hatte Schwierigkeiten mit dem eigenen Land. Das lag an der Geschichte vor 1945, mit der umzugehen so kompliziert war. Ich habe zur Fußballweltmeisterschaft eine neue junge Generation kennengelernt, auf die ich meine Hoffnung setze.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Herr Gysi, bitte!
Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
Ich glaube, diese Generation will keine Nation mehr unter sich haben und auch keine über sich. Sie erfüllt damit einen Traum Brechts. Ich glaube, dass diese junge Generation die Teilung unserer Gesellschaft überwindet. Sie wird deutsch, aber auch europäisch und vor allem weltbürgerlich sein.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)