Gregor Gysi, Vorsitzender der Fraktion DIE LINKE., in der Debatte um den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu Anhebung des Renteneintrittalters auf 67 Jahre
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren!Kollege Brauksiepe, vom Leiden bei Debatten verstehen auch wir eine Menge, wenn auch in ganz anderen Zusammenhängen. Zweitens muss ich Ihnen doch eine kleine rechtliche Belehrung erteilen: Der Bundespräsident ist nicht berechtigt, nach eigenen Vorstellungen zu entscheiden, ob er ein Gesetz unterschreibt oder nicht. Er ist verpflichtet, Gesetze zu unterschreiben, es sei denn, sie sind offenkundig grundgesetzwidrig; das ist der einzige Anhaltspunkt, den er hat.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Aus diesem Grunde hat er zwei Gesetze nicht unterschrieben.
Ich finde es gut, wenn wir viele Amateurverfassungsrichterinnen und verfassungsrichter haben, weil das nämlich bedeutet, dass sie sich Gedanken darüber machen, ob das, was sie beschließen, grundgesetzwidrig ist oder nicht. Ein Finanzgericht hat gerade festgestellt, dass Ihre Kürzung der Pendlerpauschale zumindest nach dessen Auffassung grundgesetzwidrig ist, und den Fall deshalb zum Bundesverfassungsgericht geschickt. Ich finde, etwas mehr Belehrung auf der Strecke ist für Sie sinnvoll.
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb (FDP))
Wir haben einen wirtschaftlichen Aufschwung; darauf weisen Sie ständig hin. Doch ich würde Sie gerne einmal fragen, wer von diesem wirtschaftlichen Aufschwung eigentlich etwas hat. Gibt es für die Arbeitslosen irgendeine Verbesserung? Sie haben die Jüngeren vom Arbeitslosengeld II ausgeschlossen, und es gibt keinen Inflationsausgleich; die Arbeitslosen haben alle Verteuerungen aus eigener Tasche zu bezahlen. Es gibt also keine Verbesserungen.
Bei den Geringverdienenden kann man nur sagen: Es gibt jetzt mehr von ihnen. Auch sie bekommen keinen Inflationsausgleich. Die Geringverdienenden dienen im Kern nicht nur als billige Arbeitskräfte, sondern auch zum Vertuschen, wie hoch die Arbeitslosigkeit tatsächlich ist.
(Beifall bei der LINKEN)
Den Kranken bleiben die Zuzahlungen erhalten. Die Große Koalition hat eine Gesundheitsreform beschlossen, die ich in bestimmten Teilen für verfassungswidrig halte wieder so ein Amateurrichter.
(Dr. Guido Westerwelle (FDP): Sie haben das doch gelernt!)
Wir werden sehen, ob das eines Tages auch das Bundesverfassungsgericht so einschätzt. Klar ist bei der Gesundheitsreform, dass die Beiträge der Versicherten ständig steigen werden. Den Beitrag, den die Unternehmen zahlen, wollen Sie dagegen an einer bestimmten Stelle einfrieren. Das Ganze hat mit mehr sozialer Gerechtigkeit nichts zu tun, ganz im Gegenteil.
(Beifall bei der LINKEN)
Den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern haben Sie trotz der zunehmenden Entfernung zwischen Wohnung und Arbeitsplatz die Pendlerpauschale für die ersten 20 Kilometer gestrichen und für die restlichen Kilometer deutlich gekürzt. Das hat, wie gesagt, bereits das erste Finanzgericht als verfassungswidrig eingestuft. Dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer etwas vom wirtschaftlichen Aufschwung hätten, kann also keiner behaupten.
Zur Lohnentwicklung. Wir sind das einzig neoliberal geprägte Land, das so konsequent ist, dass die Löhne in Deutschland in den letzten acht Jahren um 0,9 Prozent gesunken sind selbst in den USA, in Großbritannien, in Frankreich, in der gesamten EU sind die Löhne und Gehälter gestiegen. Nur in Deutschland sind sie gesunken. Jene haben vom wirtschaftlichen Aufschwung nichts.
(Klaus Brandner (SPD): Sie müssen den Abschluss in der Chemieindustrie sehen!)
Jetzt gibt es die erste Ausnahme: Im Bereich der Chemie ist eine Lohnsteigerung von 3,6 Prozent vereinbart worden. Ich bin sehr gespannt, wie es in den anderen Bereichen ausgeht. Nur, wir müssen hinzufügen: Es gibt immer weniger Menschen, die tarifgebunden bezahlt werden; im Osten sind es gerade noch 20 Prozent. Die anderen Menschen freuen sich schon, wenn sie einen Haustarif haben.
(Beifall bei der LINKEN)
Den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern nützt der Wirtschaftsaufschwung also auch nicht.
Nun zu den Rentnerinnen und Rentnern, um die es heute geht. In dieser Debatte geht es weniger um die heutigen Rentnerinnen und Rentner als vielmehr um die künftigen weshalb ich auch nie verstehe, warum die Grünen immer sagen, das alles geschehe im Interesse der jungen Leute. Wieso soll es im Interesse der Jungen liegen, dass sie erst zu einem späteren Zeitpunkt Rente bekommen?
(Beifall bei der LINKEN Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Ja! Das verstehen Sie wirklich nicht! Das merkt man immer wieder!)
Draußen demonstrieren übrigens gerade 3 000 junge Leute, weil sie von Ihren Vorschlägen so „begeistert“ sind; das sollten Sie sich einmal ansehen.
(Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN)
Seit Jahren gab es für die Rentnerinnen und Rentner Null- und Minusrunden. Jetzt wird beschlossen, das Renteneintrittsalter schrittweise auf 67 Jahre zu erhöhen. Bundesminister Glos der sich gerade amüsiert und Bundesminister Schäuble weisen regelmäßig darauf hin: Das ist nicht das Ende, sondern erst der Anfang. Sie müssen das Renteneintrittsalter in Zukunft noch weiter erhöhen. Mich würde interessieren: An welches Renteneintrittsalter denken Sie? Wo soll das Ganze enden, bei 70, bei 75?
(Elke Ferner (SPD): Gucken Sie nicht uns an! Gucken Sie lieber mal in Richtung Union!)
Ich muss Ihnen ganz klar sagen: Das ist keine Lösung des Problems.
(Beifall bei der LINKEN)
Wahr ist aber - hier sind wir gefordert -, dass wir Alternativen anbieten müssen. Es reicht nicht aus, nur zu sagen, dass einem das nicht passt. Solche Alternativen gibt es. Wir müssen zum Beispiel über die Frage nachdenken: Wer zahlt eigentlich in die gesetzliche Rentenversicherung ein? Zu Bismarcks Zeiten taten dies 90 Prozent der Beschäftigten, weil 90 Prozent aller Einkommensbezieher abhängig beschäftigt waren. Heute sind dies nur noch 60 Prozent. Nur 60 Prozent der Einkommensbezieher sind abhängig beschäftigt und zahlen in die gesetzliche Rentenversicherung ein.
Deshalb schlagen wir Ihnen erstens vor, schrittweise dazu überzugehen, alle Einkommensbezieher in die gesetzliche Rentenversicherung einzubeziehen. Dann wäre das Finanzierungsproblem an einer entscheidenden Stelle gelöst.
(Beifall bei der LINKEN Klaus Brandner (SPD): Das ist zwar sachlich richtig, aber einfach nicht machbar! Das wissen Sie! Ein billiger Trick! Dummes Zeug! )
Zweitens. Es gibt Beitragsbemessungsgrenzen. Das heißt, mit dem oberhalb einer gewissen Grenze liegenden Einkommen haftet man nicht mehr für die Rentenversicherung. Wir schlagen Ihnen vor, die Beitragsbemessungsgrenzen schrittweise aufzuheben, sodass man auch für das höhere Einkommen Beiträge zahlen muss. Damit die Renten nicht ins Unermessliche steigen, sollte dieser Rentenanstieg abgeflacht werden. All diese Maßnahmen wären grundgesetzgemäß und möglich.
Schließlich schlagen wir Ihnen vor, bei den Unternehmen die Sozialabgaben, die Sie leichtfertig Lohnnebenkosten nennen, nicht länger nach der heutigen Form zu berechnen, sondern andere Kriterien heranzuziehen. Man könnte zum Beispiel die Wertschöpfung der Unternehmen zugrunde legen, um bei der Berechnung flexibler vorgehen zu können und zu gerechteren Ergebnissen zu kommen. Ich möchte nicht, dass ein Unternehmen, das die doppelte Zahl von Beschäftigten, aber den gleichen Gewinn wie ein anderes Unternehmen hat, doppelt so hohe Abgaben wie letzteres Unternehmen zahlen muss. Hier muss man mehr Gerechtigkeit herstellen. Das wären echte Reformen. Aber Sie verschieben immer nur alles nach hinten, um die Rente zu kürzen.
(Beifall bei der LINKEN)
Lassen Sie mich zum Schluss auf Folgendes hinweisen: Sie ignorieren die ökonomische Tatsache, dass die Produktivität schneller wächst als die Wirtschaft. Jahr für Jahr werden in derselben Arbeitszeit mehr Güter hergestellt und mehr Dienstleistungen erbracht; so viel können wir gar nicht verkaufen. In eine solche Zeit passt eine Kürzung der Arbeitszeit, nicht aber eine Verlängerung der Arbeitszeit um zwei Jahre.
(Beifall bei der LINKEN)
Es gibt nur zwei Gruppen, die etwas vom Wirtschaftsaufschwung haben - das ist leider viel zu wenig -: die Best- und Besserverdienenden und ein bestimmter Teil der Konzerne. Das ist das Problem.
(Beifall bei der LINKEN)