Erwiderung von Gregor Gysi auf die Regierungserklärung von Bundeskanzlerin Angela Merkel
"Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! Die Geiselnahme verbietet jede Polemik. Wir alle haben von diesem schrecklichen Ereignis gestern erfahren. Wir drücken unsere Hoffnung aus, dass es Ihnen, Frau Bundeskanzlerin, und der gesamten Regierung gelingt, wenigstens das Leben dieser beiden zu retten, nachdem im Irak schon so viele sinnlos getötet worden sind. Es wäre ungeheuer wichtig, das Leben unserer Mitbürgerin und ihres Kraftfahrers zu retten.(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Aber natürlich lohnt es sich in diesem Zusammenhang - nicht nur in diesem, sondern auch in jedem anderen -, über Außenpolitik zu streiten, weil es unterschiedliche Ansätze in unserer Gesellschaft gibt. Wir stehen vor der Tatsache, dass die Bundesregierung ihr Verhältnis zum Völkerrecht und zum Krieg klären muss.
(Jörg Tauss (SPD): Das ist geklärt!)
Es ist von den USA - nicht nur von den USA, auch in unserem Land - immer wieder erklärt worden, man müsse einen Krieg gegen den Terror führen. Ich habe festgestellt: Der Krieg, der da geführt wird, egal wo, führt nicht zu weniger Terror, sondern zu mehr Terror. Wir müssen raus aus dieser Spirale der gegenseitigen Gewalt.
(Beifall bei der LINKEN)
Das Verhältnis der Regierung Schröder/Fischer war diesbezüglich nicht bestimmt, nicht klar. Sie hat das Völkerrecht beim Jugoslawienkrieg verletzt. Sie hat dann beim Irakkrieg auf dem Völkerrecht bestanden. Deshalb sage ich: Wir brauchen hier ein klares Verhältnis. Das muss ein Ja zum Völkerrecht sein;
(Beifall bei der LINKEN)
denn nur das Völkerrecht kann die Macht der USA in gewissen Grenzen beschneiden, kann die USA einschränken.
Wir haben noch einen zweiten Kampf der USA. Wir haben eine Weltwirtschaft. Also gibt es auch eine Weltpolitik. Die Frage ist: Wer macht Weltpolitik, die UNO oder die USA? Das ist die Auseinandersetzung, die gegenwärtig geführt wird. Dazu sage ich: Unsere Regierung - Sie, Frau Bundeskanzlerin - muss sich für die Geltung des Völkerrechts einsetzen. Das bedeutet dann aber auch, dass man in schwierigen Situationen, wie damals in Jugoslawien, zum Bruch des Völkerrechts Nein sagt.
(Beifall bei der LINKEN)
Die USA negieren das Völkerrecht, wie wir das beim Irakkrieg erlebt haben. Sie haben eine andere Schwierigkeit. Das ist ihr eigenes inneres Recht. Das kann auch Präsident Bush nicht so schnell ändern; denn es ist über Jahrzehnte entstanden und gewachsen. Die Gefangenenlager, die sie in Guantanamo, in Kuba und, wie wir jetzt erfahren, auch in anderen Ländern eingerichtet haben, dienen dem Zweck, ihr eigenes Recht gegenüber den Gefangenen nicht gelten zu lassen. Das ist dreist!
(Beifall bei der LINKEN)
Dass, wie man jetzt hört, auch deutsche Flughäfen zu diesem Zweck missbraucht worden sind, ist ein starkes Stück. Entschuldigen Sie, dass ich meine Zweifel habe, wenn die Regierung sagt, sie habe davon nichts gewusst. Bei der hohen Sicherheit auf unseren Flughäfen kann ich mir nicht vorstellen, wie so etwas heimlich funktionieren soll, sodass eine Regierung davon nichts erfährt. Aufklärung ist dringend geboten.
(Beifall bei der LINKEN)
Ich habe gesagt, dass das Völkerrecht auch dazu dient, die Macht der Stärksten zu begrenzen. Wenn das so ist, brauchen wir in dieser Situation gegenüber Präsident Bush starke, klare und deutliche Worte statt Zurückhaltung.
(Beifall bei der LINKEN)
Nun haben Sie, Frau Bundeskanzlerin, zusammen mit Herrn Müntefering einen Koalitionsvertrag vorgelegt. Ich glaube, es wird leider eine große Koalition zur Verschärfung statt zur Lösung ökonomischer, arbeitsmarktpolitischer, sozialer und kultureller Probleme in unserer Gesellschaft. Verschärft setzen Sie den falschen Kurs der SPD/Grünen-Regierung fort.
(Beifall bei der LINKEN)
Sie, Herr Struck, haben eben davon gesprochen, dass es eine erfolgreiche ökonomische Politik gegeben habe. Aber 5 Millionen Arbeitslose sind der Beweis dafür, dass die Politik nicht erfolgreich war.
(Beifall bei der LINKEN)
Im Mittelpunkt Ihres Koalitionsvertrages steht die Haushaltskonsolidierung, mit der Sie allerdings erst 2007 anfangen wollen, weil Sie hoffen, dass 2006 irgendein Aufschwung kommt, der Ihnen nutzen könnte. Ich glaube, solche Tricks funktionieren im Privatleben nicht und sie funktionieren auch in der Politik und der Gesellschaft nicht.
Sie wollen wieder Einsparungen im sozialen und im investiven Bereich vornehmen. Damit sparen Sie die Gesellschaft kaputt.
(Beifall bei der LINKEN)
Sie haben zu Recht, Frau Bundeskanzlerin, auf die Chancen durch den Zusammenbruch der Sowjetunion und des Staatssozialismus hingewiesen. Damit waren Chancen verbunden; das stimmt. Aber wir können doch nicht leugnen, dass es Vertreterinnen und Vertreter des Kapitals gibt, die seitdem denken, der Sozialstaatskompromiss sei vorbei und wir könnten schrittweise zurück zum Turbokapitalismus. Dagegen muss sich die Politik doch wehren. Selbst die Union hätte, wie ich meine, sagen müssen: Das Primat der Politik auch über Wirtschaftsinteressen ist und bleibt uns wichtiger. - Erst recht hätte das die Sozialdemokratie sagen müssen. Aber Sie haben es nicht gesagt.
(Beifall bei der LINKEN)
Welchen Weg ist die vorherige Regierung gegangen? Sie haben die Körperschaftsteuer von 42 Prozent auf 25 Prozent gesenkt. Die Kapitalgesellschaften haben sich wie verrückt gefreut. Natürlich fehlten Milliarden im Haushalt der Bundesrepublik Deutschland. Die drittgrößte Einnahmequelle Deutschlands haben Sie so geschröpft, dass noch zwei Jahre ausgezahlt werden musste. - Das ist übrigens damals auch von der Union kritisiert worden. - Erst danach waren allmählich wieder Einnahmen zu verzeichnen, aber viel schwächer als vorher.
Sie haben die Veräußerungsgewinnsteuer abgeschafft. "Veräußerungsgewinnsteuer" klingt kompliziert. Wenn eine Kapitalgesellschaft etwas verkauft, erzielt sie einen Kaufpreis. Auf dieses Geld muss sie eine Steuer bezahlen - bzw. musste sie unter Kohl. Die SPD hat diese Steuer völlig abgeschafft und dafür die Steuern bei den Handwerkern verdoppelt. Das war Ihre ökonomische Politik.
Sie haben den Spitzensteuersatz der Einkommensteuer - ich bitte Sie! - von 53 Prozent auf 42 Prozent, also um 11 Prozentpunkte, gesenkt, so stark wie noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Das sind übrigens 11 Milliarden Euro Einnahmen weniger pro Jahr. Das ist eine ganze Menge, die man da so einfach an die Besser- und Bestverdienenden weggibt. Und was machen Sie dann? Dann stellen Sie sich vor die Kranken, Alten und Arbeitslosen hin und sagen: Es tut uns furchtbar Leid, aber wir haben kein Geld und müssen bei euch sparen. - Das ist unredlich, unfair und nicht solidarisch.
(Beifall bei der LINKEN)
Auch die Reallöhne sind in Ihrer Regierungszeit gesunken; das muss man ebenfalls sehen.
Diese Politik will die neue Regierung nun fortsetzen. Ich weiß, dass auch die FDP Anhänger dieser Politik ist, sogar noch konsequenter als die Regierung. Aber ich glaube, das Ganze geht in eine völlig falsche Richtung. Wir setzen etwas anderes dagegen: Nur steigende Reallöhne, nur mehr soziale Gerechtigkeit führen auch zu einer wirtschaftlichen Belebung; denn unsere Binnennachfrage ist eine Katastrophe und muss gestärkt werden. Dass wir Exportweltmeister sind, nutzt den Arbeitslosen gar nichts.
(Beifall bei der LINKEN)
Sie haben gesagt, Sie wollen eine Unternehmensteuerreform machen; wir erfahren aber erst 2007, welche. Da darf man ja sehr gespannt sein. Mal sehen, ob Sie die Gewinne, die im Unternehmen bleiben, anders behandeln als die, die herausgenommen werden. Es gäbe da viele Möglichkeiten, was man verbessern könnte. Wir werden es abwarten.
Wir begrüßen Ihre neuen Abschreibungsvorstellungen. Sie enthalten etwas Positives.
(Hartmut Koschyk (CDU/CSU): Haben wir da einen Fehler gemacht? - Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)
- Wir können durchaus lesen. - Ich sage Ihnen aber auch, dass Sie nicht den Mut haben, auch nur von einem Konzern in Deutschland 1 Euro mehr Steuern zu verlangen. Das zeigt das klägliche Verhalten der Politik gegenüber der Wirtschaft. Das ist nicht hinnehmbar. So kommen wir mit dieser Bundesrepublik nicht weiter.
(Beifall bei der LINKEN)
Es wird immer behauptet, wir hätten die höchsten Quoten. Ich habe mir einmal die Zahlen angesehen. Die Steuerquote im Vergleich zum Bruttoinlandsprodukt beträgt 20 Prozent. Damit liegen wir als eines der wirtschaftlich stärksten Länder auf dem vorletzten Platz in Europa. Geringere Steuern hat nur noch die Slowakei. Dann wird gesagt, man müsse auch die Lohnnebenkosten sehen. Also haben wir sie addiert und landen bei 34,6 Prozent. Damit liegen wir, Frau Bundeskanzlerin, auf Platz 16 nach Griechenland, nach Spanien und nach Großbritannien. Das ist doch ein Skandal. So können wir unsere Probleme nicht lösen.
(Beifall bei der LINKEN)
Solidarität erfordert auch, dass die mit mehr Eigentum und mehr Vermögen mehr leisten als andere.
(Zuruf des Abg. Klaus Uwe Benneter (SPD))
Ich komme zur Vermögensteuer. In Deutschland werden Steuern in Höhe von 0,8 Prozent des Bruttoinlandsproduktes auf das Vermögen gezahlt. Wissen Sie, was die "Financial Times Deutschland" geschrieben hat, welche Länder weniger von ihren Reichen verlangen? - Mexiko, Tschechien, Slowakei und Österreich. Für mich sind das keine Vorbilder.
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
Andere Länder, selbst die USA, verlangen deutlich mehr von ihren Eigentümerinnen und Eigentümern als wir. Hätten wir die Eigentums- und die Vermögensteuern der USA, hätten wir Mehreinnahmen in Höhe von 50 Milliarden Euro im Jahr. Damit könnte man eine ganze Menge anfangen.
(Beifall bei der LINKEN)
Wie sehen also Ihre Lösungsvorschläge aus? Sie sagen, ab 1. Januar 2007 soll die Mehrwertsteuer um 3 Prozentpunkte erhöht werden. Alle wissen, das belastet die unteren sozialen Schichten und die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer viel mehr als andere Schichten. Das ist ökonomisch eine riesige Katastrophe. Ich könnte jetzt alle Argumente der SPD aus dem Wahlkampf wiederholen. Dies war doch Ihr zentrales Wahlkampfthema. Jeder kennt das Plakat, mit dem Sie gegen die "Merkelsteuer" polemisiert haben.
In Bezug auf den gefundenen Kompromiss hat Herr Westerwelle völlig Recht. Ich dachte in meiner Naivität, dass Sie sich in der Mitte, also auf eine Erhöhung um 1 Prozentpunkt, verständigen würden. Nein, Sie erhöhen die Mehrwertsteuer um 3 Prozentpunkte. Heute sagen Sie sogar, es sei erforderlich und völlig unmöglich, etwas anderes zu tun. Dann sollten Sie wenigstens sagen, dass Sie im Wahlkampf gelogen haben. Denn das ist wirklich ein Wahlbetrug.
(Beifall bei der LINKEN und der FDP sowie des Abg. Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))
Ich habe mir das einmal angesehen: Wenn wir die Steuerquote und die Lohnnebenkostenquote von Frankreich hätten - dort sind es 10 Prozent mehr als bei uns -, dann hätten wir jährlich Mehreinnahmen in Höhe von 220 Milliarden Euro. Ich bitte Sie, eine Sekunde darüber nachzudenken, dass wir über Nullrunden bei Rentnern, über Kürzungen bei Arbeitslosen und über Zuzahlungen bei Kranken gar nicht diskutieren müssten, wenn wir diese Art von Steuergerechtigkeit in Deutschland einführten.
(Beifall bei der LINKEN)
Lassen Sie mich auch etwas zur Arbeitsmarktpolitik sagen. Wir fanden von Anfang an den Weg bezüglich Arbeitslosengeld II und Hartz IV im Kern, abgesehen von ein paar Einzelumständen, für falsch. Wir haben immer gesagt, dass die dahinter stehenden Ideen falsch sind.
Ich werde von meinem Beispiel nicht abrücken. Ein Ingenieur, der 50 Jahre alt ist und der 25 Jahre in seinem Beruf gearbeitet hat, bekommt ein Jahr lang Arbeitslosengeld I, das nach seinem Einkommen berechnet wird. Nach diesem Jahr bekommt er nur noch einen lächerlichen Betrag in Höhe des Arbeitslosengeldes II. Aber nicht nur das! Der Gesetzgeber verlangt auch noch, dass sein Sparvermögen, seine Altersversorgung, seine Wohnung und sein Auto nur das Niveau eines Sozialhilfeempfängers haben dürfen. Wenn er darüber liegt, weil er sich den Lebensstandard eines Ingenieurs aufgebaut hat, bekommt er gar nichts. Das darf man Armut per Gesetz nennen. In einer so reichen Gesellschaft wie der unseren ist das nicht hinnehmbar.
(Beifall bei der LINKEN)
Gerhard Schröder hat in einem Punkt Recht gehabt. Er hat im Wahlkampf gesagt, dass gerade die Jungen besser gestellt sind. Das stimmte auch. Die Jungen waren besser gestellt. Aber was vereinbaren Sie jetzt miteinander? Sie vereinbaren, die Besserstellung der Jungen wieder zurückzunehmen, indem Sie sagen, dass es keinen Anspruch bis zum 25. Lebensjahr gibt. Ich möchte, dass wir über folgenden Widerspruch nachdenken. Das Grundgesetz regelt die Volljährigkeit. Im Strafrecht ist festgelegt, ab wann man voll strafmündig ist. Das Zivilrecht regelt, ab wann man zivilrechtlich voll belangt werden kann. Dem 24-Jährigen wird also gesagt, dass er voll verantwortlich ist. Aber wenn er arbeitslos wird, soll er zu Mami und Papi gehen, weil er für uns sozusagen noch minderjährig ist und wir für seinen Lebensunterhalt nicht aufkommen. Das ist nicht hinnehmbar. Das ist ein Widerspruch in sich.
(Beifall bei der LINKEN)
Nun haben Sie gesagt, sie wollten beim Arbeitslosengeld II und den übrigen Kosten noch einmal 4 Milliarden Euro einsparen. Folgendes ist ja interessant: Sie haben - das weiß kaum jemand - durch die Bundesagentur für Arbeit eine Art Subventionierung des Bundeshaushalts festgelegt. Sie haben nämlich gesagt: Für all diejenigen, die in dem einen Jahr, in dem sie Arbeitslosengeld I beziehen, nicht vermittelt werden - das sind die meisten -, muss die Bundesagentur 10 000 Euro an den Bund zahlen. Damit kommt er auf eine Einnahme von über 5 Milliarden Euro. Jetzt habe ich gedacht: Da kürzen Sie irgendetwas. Nein, da kürzen Sie natürlich nicht. Auf diese Einnahme bestehen Sie.
Aber Sie wollen 4 Milliarden einsparen. Das geht wieder zulasten der Arbeitslosen, zulasten einer, wie ich meine, völlig falschen Gruppe. Deutlich über 90 Prozent unserer Arbeitslosen wollen arbeiten. Dass es einzelne Ausnahmen gibt, braucht mir niemand zu erzählen; das weiß auch ich. Das ist aber nicht unser gesellschaftliches Problem. Unser gesellschaftliches Problem sind diejenigen, die Erwerbsarbeit - auch zur Wahrung ihrer Würde - wollen und keine reale Chance dazu haben. Daran muss sich etwas ändern.
(Beifall bei der LINKEN)
Jetzt haben Sie noch festgelegt, dass der Rentenbeitrag, der für die Arbeitslosen gezahlt wird, gesenkt wird. Es ist völlig klar: Dann bekommen diese nur Minirenten und wir haben später das Problem der Altersarmut. Das hilft uns doch nicht weiter. Wir verlagern hier ein Problem auf die nächste Generation.
Die Rentnerinnen und Rentner sollen jetzt vier Nullrunden durchmachen. Zwei Nullrunden haben sie schon hinter sich. Es gab sogar erstmalig eine Bruttorentenkürzung und dann eine Nettorentenkürzung durch Beitragserhöhungen. Nullrunden bei Mehrwertsteuererhöhungen und anderen Kostensteigerungen sind natürlich in Wirklichkeit Nettorentenkürzungen - und das sechs Jahre lang; das muss man sich einmal überlegen. Dass wir in einer Gesellschaft, die so reich ist, dass sie in den letzten Jahren ihren großen Konzernen sowie den Besser- und Bestverdienenden alle möglichen Geschenke machen konnte, bei den Rentnerinnen und Rentnern sagen: "Wir haben kein Geld", ist nicht hinnehmbar.
(Beifall bei der LINKEN)
Es soll ja noch die Rentenformel verändert werden und dann wollen Sie das Renteneintrittsalter anheben. Sie wollen das langfristig tun. Sie betonen immer, dass die Menschen älter werden. Das stimmt; den demographischen Faktor sehen auch wir. Warum erwähnen Sie aber nicht einmal, wie sehr die Produktivität gestiegen ist? Daimler-Benz brauchte vor 20 Jahren für einen bestimmten Produktionsgang vier Arbeitskräfte; heute wird dafür nur noch eine Arbeitskraft benötigt. Das heißt, wenn damals vier Arbeitskräfte vier Rentner mit ernähren konnten, müsste das heute angesichts der Produktivitätsentwicklung einer können. Aber die Lohnentwicklung und anderes haben damit nicht Schritt gehalten. Das ist das Problem, mit dem wir es zu tun haben.
(Beifall bei der LINKEN)
Wir sind die einzige große Industriegesellschaft mit einem Rückgang der Reallöhne um 0,9 Prozent in den letzten Jahren. Ich bitte Sie: Selbst in den USA haben die Reallöhne um 15 Prozent zugenommen. In Großbritannien und in Skandinavien sind sie um über 20 Prozent gestiegen. In anderen Ländern - sie mögen sich ansonsten sehr voneinander unterscheiden - gibt es eine völlig andere Entwicklung als in Deutschland. Sie behaupten aber im Ernst, wir hätten als Einzige Recht und gingen den wahren Weg.
Ich sage Ihnen: Dieser Weg ist auch ökonomisch eine Katastrophe. Ohne eine höhere Kaufkraft und mehr Zuversicht der Bevölkerung wird es keine Rettung für kleine und mittlere Unternehmen in Deutschland geben. Wir werden vielmehr weiter höchste Insolvenzzahlen haben.
(Beifall bei der LINKEN)
Nun gibt es ja seit ewigen Zeiten den Streit zwischen Angebot und Nachfrage. Der Linken wird immer vorgeworfen, sie denke nur an die Nachfrage, und wir werfen den Konservativen immer vor, sie würden nur an das Angebot denken. Es hilft nichts: Man muss einfach beides sehen. (Klaus Uwe Benneter (SPD): So ist es!)
- Nur, Herr Benneter, Ihre liebe Regierung hat über sieben Jahre ausschließlich die Angebotsseite behandelt, statt einmal auch die Nachfrage zu erhöhen, wie es übrigens auch im Interesse der kleinen und mittleren Unternehmen dringend erforderlich gewesen wäre.
(Beifall bei der LINKEN - Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Steuerreformen haben wir gemacht!)
Deshalb sage ich Ihnen: Sie werden sich um die Nachfrageseite in Deutschland kümmern müssen, wenn Sie die Wirtschaft stärken und mehr soziale Gerechtigkeit schaffen wollen. Wir machen das nicht aus rein ideologischen Gründen. Wir denken dabei auch ökonomisch; aber wir wollen natürlich - das ist unser Ziel als demokratische Sozialistinnen und Sozialisten -, dass es den Menschen in dieser Gesellschaft besser geht. Man sollte nicht einerseits Wasser predigen und abbauen und andererseits Wein trinken. Wir haben gesagt: Wir predigen wenigstens auch Wein.
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN - Widerspruch bei der SPD)
Das ist der Unterschied. Wir wollen, dass es den Leuten besser geht. Sie wollen das für viele nicht mehr erreichen. Das ist nicht hinnehmbar.
(Beifall bei der LINKEN)
Frau Bundeskanzlerin, Sie sind eine Frau.
(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Wo er Recht hat, hat er Recht!)
- Das ist erstmalig in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland; das wird man doch wohl mal erwähnen dürfen. - Ich hätte mir von Ihnen zwei, drei lohnende Sätze zur Gleichstellungspolitik in dieser Gesellschaft gewünscht.
(Beifall bei der LINKEN)
Ich habe nichts dazu gehört; das finde ich schade.
Sie kommen aus Ostdeutschland. Da hätte ich mir gewünscht, dass Sie das Ziel der Angleichung der Lebensverhältnisse Ost und West zumindest nicht aufgeben. Das steht aber kein einziges Mal im Koalitionsvertrag und Sie haben es auch kein einziges Mal geäußert. Wenn Sie schon nicht sagen können, wann in Ost und West gleicher Lohn für gleiche Arbeit bezogen werden wird, dann geben Sie doch nicht auch noch das Ziel auf.
(Beifall bei der LINKEN)
Wir erwarten von Ihnen zumindest einen Fahrplan, in dem Sie sagen, in welchen Schritten Sie dieses Ziel erreichen wollen. Alle Verteuerungen, zum Beispiel die Erhöhung der Mehrwertsteuer, werden sich im Osten noch verheerender auswirken als im Westen. Das kennen wir von früher. Deshalb muss man darauf hinweisen.
Ich glaube auch, dass wir Investitionen brauchen. Sie sprechen gerne vom Zukunftsfonds. Ich sage Ihnen nur: Eine Schummelei geht nicht. Sie können nicht immer mit Jahresbeträgen operieren, aber, wenn es um den Zukunftsfonds geht, von dem Vierjahresbetrag reden. Es geht um 6 Milliarden Euro pro Jahr; das muss man hinzufügen. Dies ist zumeist Geld, das auch sonst ausgegeben worden wäre, mag es auch vernünftige Investitionen darunter geben. Wenn Sie aber in die Verkehrsinfrastruktur investieren wollen, können Sie nicht gleichzeitig die Zuschläge für Bus und Bahn reduzieren. Damit würden Sie nämlich Ihrem eigenen Programm einen Schlag ins Gesicht versetzen.
(Beifall bei der LINKEN)
Frau Bundeskanzlerin -
Vizepräsident Wolfgang Thierse: Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): - ein letzter Satz -, Sie sind wohl für längere Zeit einmalig in Ihrem Amt, sowohl als Frau als auch als Ostdeutsche. Das werden wir nach Ihnen so schnell nicht wieder erleben. Irgendwann müssen Sie aber aufhören, entweder freiwillig oder weil Sie müssen.
(Georg Brunnhuber (CDU/CSU): Da haben Sie schon lange aufgehört!)
Sie sollten sich überlegen, dass es doch dann schön wäre, sagen zu können: Die Gesellschaft ist friedlicher geworden. Die Gleichstellung der Geschlechter ist vorangekommen. Die soziale Gerechtigkeit hat zugenommen. Die Angleichung von Ost an West hat zugenommen. - Wenn Sie all das sagen wollen, müssten Sie allerdings von Ihrem Koalitionsvertrag abgehen und Ihre heutige Regierungserklärung weitgehend vergessen. Da Sie dies wahrscheinlich nicht tun werden, befürchte ich das Gegenteil.
(Anhaltender Beifall bei der LINKEN)"