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Sie haben ein Europa der Regierungen und nicht der Völker organisiert

Archiv Linksfraktion - Rede von Gregor Gysi,

Gregor Gysi antwortet auf die Regierungserklärung der Bundeskanzlerin zum Europäischen Rat am 19./20. Juni 2008 in Brüssel

Herr Präsident! Meine Damen und Herren!

Herr Westerwelle, Sie haben zu Beginn Ihrer Rede über die Energiepreise gesprochen und gesagt, die Kanzlerin hätte, als sie auf die Verknappung der Ressourcen hingewiesen hat, höchstens die halbe Wahrheit gesagt; zur ganzen Wahrheit gehöre auch ein Verweis auf die Abgaben- und Steuerquote. Ich muss sagen: Auch damit ist noch nicht die ganze Wahrheit erfasst. Einen Umstand haben Sie nämlich vergessen: Die ganze Energieversorgung haben sich vier Konzerne in Deutschland feudal aufgeteilt, und sie nutzen diese Stellung zur Abzocke. Das ist die ganze Wahrheit.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos))

Deswegen haben wir immer wieder vorgeschlagen, die Energieversorgung zu rekommunalisieren, damit die Politik wieder zuständig wird.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos))

Eigentlich geht es ja um Europa. Eigentlich geht es um Irland. Ich fand es gut, dass die Bundeskanzlerin hier nicht arrogant aufgetreten ist. Allerdings hat sie auch nicht einmal die Andeutung einer Lösung gemacht und, wenn man es sich genau überlegt, sogar das Gegenteil davon. Sie hat nämlich klipp und klar gesagt: Wir müssen eine Lösung mit Irland finden, aber der Vertrag von Lissabon muss bleiben. Aber nun hat die Mehrheit des Volkes in Irland Nein zu dem Vertrag gesagt.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos))

Ergo müssten doch andere Vorschläge kommen.
Es gibt Reaktionen der Arroganz auch aus anderen Ländern Europas. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn man sagt, man könne sich nicht nach dieser komischen Insel richten etc. Ich finde diese Haltungen völlig unpassend und erinnere daran, dass damals, als der Verfassungsvertrag keine Mehrheiten in den Niederlanden und in Frankreich fand, zumindest nicht so arrogant reagiert wurde wie jetzt gegenüber Irland.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos))

Aus Art. 6 Abs. 2 des Vertrages von Lissabon geht klipp und klar hervor, dass alle 27 Mitgliedsländer den Vertrag ratifizieren müssen. Irland hat nun Nein gesagt. Wir brauchen jetzt also einen Neuanfang und nicht technische Überlegungen, wie man tricksen kann, um das Ganze doch irgendwie durchzusetzen.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos))

Nun ist wahr: Irland hat der Beitritt zur Europäischen Union sehr gutgetan: Aus einer armen Region wurde eines der reichsten Länder in Europa. Heute liegt dort das Pro-Kopf-Einkommen höher als in Deutschland. Das liegt allerdings weniger an Irland und vielmehr an unseren Bundesregierungen, die eine falsche Politik gemacht haben; aber es ist trotzdem ein bemerkenswertes Faktum.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos))

Auch für Deutschland ist die EU wichtig. Ich sage immer, die Europäische Union garantiert, dass zwischen den Mitgliedsländern keine Kriege mehr stattfinden. Ökonomisch kann man sich so viel besser auf die globalisierte Weltwirtschaft einstellen. Das alles ist wahr. Aber warum gibt es denn dann ein Nein zum Verfassungsvertrag aus der Mehrheit der Bevölkerungen in Frankreich, in den Niederlanden und jetzt in Irland? Sind die irrational? Wollen sie einfach Europa nicht? Sind sie gar europafeindlich? Ich glaube, das ist eine Arroganz, die uns nicht zusteht. Dieses Europa wird falsch organisiert. Es schürt Ängste, und deshalb brauchen wir eine andere Herangehensweise.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos))

Was hat man denn nach dem Scheitern des Verfassungsentwurfs gemacht? Man hat den Vertrag ein bisschen geändert, um Volksentscheide zu verhindern. Das war das einzige Ziel,

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos))

damit die Bevölkerungen in Frankreich und den Niederlanden nicht mehr darüber entscheiden dürfen, andere Bevölkerungen ohnehin nicht. In Deutschland hat man dafür ja nie den Weg geöffnet, obwohl es höchste Zeit wäre.

(Norbert Schindler (CDU/CSU): Wie in der DDR!)

Selbst in der DDR gab es mal einen Volksentscheid; aber das macht sie auch nicht viel besser.

(Lachen bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)

Sie müssen bis zum Ende zuhören! Ich sagte gerade, das macht sie auch nicht viel besser. Die Mehrheit hat Ja gesagt zur Verfassung, trotz aller Fälschung; das ist viel schlimmer. Aber das können wir dahingestellt sein lassen.

(Zuruf von der CDU/CSU)

Wenn Sie es besser können, machen Sie doch eigene Volksentscheide! Warum trauen Sie denn Ihrer Bevölkerung nicht? Das ist doch die entscheidende Frage.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos))

Der Vertrag von Lissabon erweitert tatsächlich die Parlamentsrechte; das stimmt. Aber er erweitert nicht nur die Parlamentsrechte, sondern er geht auch andere Wege. Er schafft zum Beispiel eine Agentur zur Aufrüstung.

(Markus Löning (FDP): Das ist doch Unsinn!)

Er schafft europäische Streitkräfte, die interventionsfähig sein sollen, und zwar ohne wenigstens nationale Streitkräfte abzubauen, sondern einfach obendrauf. Außerdem regelt er keine neuen sozialen Grundrechte und geht sogar noch weiter, indem er die Kapitalfreiheiten über die sozialen Grundrechte stellt, zum Beispiel die Niederlassungsfreiheit, die Dienstleistungsfreiheit und die Kapitalverkehrsfreiheit. Die europäischen Sozialstaaten sollen zerstört werden. Das ist auch die Erfahrung der Menschen.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos) - Markus Löning (FDP): Das ist doch Unfug!)

Ich nenne Ihnen jetzt drei Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs, um die Sie nicht herumkommen. Der Europäische Gerichtshof hat sich dabei auf europäisches Recht gestützt. Er hat das Streikrecht eingeschränkt. Er hat erstens ganz klar gesagt: Die schwedischen Gewerkschaften dürfen nicht zum Streik aufrufen, wenn ausländische Arbeitnehmer niedrigere Löhne als die in Schweden geltenden bekommen. Zweitens hat der Europäische Gerichtshof gesagt, die Finnen dürfen nicht streiken, wenn ein Schiff ausgeflaggt wird, damit niedrigere Löhne bezahlt werden können. Drittens hat der Europäische Gerichtshof, gestützt auf europäisches Recht, erklärt, das Vergabegesetz in Niedersachsen werde aufgehoben - ein CDU-Vergabegesetz, damit wir uns hier richtig verstehen. Und warum? Weil dort geregelt war, dass öffentliche Aufträge nur Unternehmen erteilt werden dürfen, die die ortsüblichen Tariflöhne bezahlen. Der Gerichtshof hat entschieden, dass auch Angebote zu Billigstlöhnen unterbreitet werden können, um einen öffentlichen Auftrag zu bekommen. Damit wurde klar zum Ausdruck gebracht: Profite sind wichtiger als ein würdiger Lohn. Das kann man sich nicht bieten lassen.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos))

Die Konsequenz, Frau Bundeskanzlerin, hätte doch darin bestehen müssen, dass Sie Ihre Auffassung ändern und sagen: Wenn der Europäische Gerichtshof so entscheidet, führen wir den flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn ein, damit klar ist, dass in Deutschland die Arbeit, die man leistet, gewürdigt wird.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos))

Aber diesen Weg sind Sie nicht gegangen. Deshalb mache ich mir Sorgen, denn ich kenne die Ängste. Ich war in Sachsen und in anderen Ländern. Ich plädiere immer für die europäische Integration,

(Norbert Schindler (CDU/CSU): Ach Gott, ach Gott!)

weil ich weiß, wie wichtig sie ist. Die NPD quatscht immer dagegen, verstehen Sie? Wenn Sie Ihre Politik nicht ändern, dann organisieren Sie deren Erfolge, und die will ich nicht! Das ist das Problem.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos) - Dr. Diether Dehm (DIE LINKE), zur CDU/CSU gewandt: Das ist es nämlich! Ihr macht die NPD stark in Sachsen, wo ihr regiert!)

Sie haben ein Europa der Regierungen und nicht der Bevölkerungen und der Völker organisiert. Das ist der Fehler. Ich sage noch einmal: Einen Weg zu gehen, bei dem Volksentscheide verhindert werden, ist falsch. Wir müssen die Mehrheit der Völker in Europa für diesen europäischen Integrationsprozess gewinnen. Dazu brauchen wir einen anderen Vertrag als den von Lissabon.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos))

Einiges kann man übernehmen, aber anderes müssen wir anders regeln.
Wenn Sie mir das Ganze nicht glauben, dann erlauben Sie mir, dass ich Jürgen Habermas zitiere, der am 17. Juni dieses Jahres in der Süddeutschen Zeitung geschrieben hat:
Die aufgescheuchten Regierungen wollen nicht ratlos erscheinen, sie suchen nach einer technischen Lösung. Diese läuft auf eine Wiederholung des irischen Referendums hinaus.

Auch Sie, Frau Bundeskanzlerin, waren nicht anders zu verstehen. Das ist der pure Zynismus der Macher gegenüber dem verbal bezeugten Respekt vor dem Wähler und Wasser auf die Mühlen derer, die munter darüber diskutieren, ob nicht die halbautoritären Formen der andernorts praktizierten Fassadendemokratien besser funktionieren.
An anderer Stelle schreibt er:
Der Ministerrat sollte über seinen Schatten springen und mit der nächsten Europawahl ein Referendum verbinden.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos))

Das wäre richtig. Was wir brauchen, ist ein Neuanfang und nicht Tricks, um das alte fortzusetzen. Was wir brauchen, ist ein Europa der Völker. Sie aber wollen nur ein Europa der Regierungen, und das reicht nicht aus.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos))