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Shalom und Salam

Archiv Linksfraktion - Rede von Petra Pau,

60 Jahre Israel

Petra Pau (DIE LINKE):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir reden über einen Jahrestag, der alles andere als alltäglich ist. 60 Jahre Israel sind etwas Besonderes, weil es eine einmalig schlimme Vorgeschichte gibt: den Holocaust. 60 Jahre Israel sind nicht alltäglich, weil nie absehbar war, ob Israel 60 Jahre alt wird. 60 Jahre Israel beantworten nicht die Frage, was künftig sein wird.

Vor reichlich einem Jahr sprach hier Imre Kertész. Er las aus seinem Buch Kaddisch für ein nicht geborenes Kind. Er versuchte, uns nahezubringen, dass der Holocaust nicht nur ein Völkermord an 6 Millionen Jüdinnen und Juden war, nein, er hat auch tiefe Furchen in das Leben der Überlebenden und in das der jüdischen Nachfahren gebrannt. In einem Interview hat Imre Kertész es so formuliert:

Vor Auschwitz war Auschwitz unvorstellbar, heute ist es das nicht mehr. Da Auschwitz in Wirklichkeit passierte, ist es in unsere Fantasie eingedrungen, wurde ein fester Bestandteil von uns. Was wir uns vorstellen können, weil es in Wirklichkeit passiert ist, das kann wieder passieren.

Auschwitz ist tief in unsere Fantasie eingedrungen. Schon dieser Satz mag beschreiben, warum Israel für Jüdinnen und Juden in aller Welt heute nicht nur aus religiösen Gründen heilig ist. Der Staat Israel ist für sie eine Überlebensversicherung. So begründet allein schon das Menschenrecht auf Leben das Existenzrecht des Staates Israel.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Oder anders gesagt: Wer das Existenzrecht Israels infrage stellt, rüttelt am Lebensrecht von Jüdinnen und Juden. Das ist letztlich die logische Konsequenz gerade aus der deutschen Geschichte. Deshalb sollte es im Deutschen Bundestag fraktionsübergreifend keinen Zweifel geben: 60 Jahre Israel, das ist auch für uns ein wichtiges Jubiläum. Schalom!

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Schalom bedeutet unter anderem Sicherheit und Frieden. Der Gruß Schalom hat übrigens eine Entsprechung im Arabischen: Salam. Aber Schalom und Salam kommen nicht zusammen. Auch das gehört zur Geschichte von 60 Jahren Israel.

Das Hochgefühl der Gründung Israels vor 60 Jahren barg von Anfang an einen Konflikt, der noch immer ungelöst ist. Im Kalten Krieg wurde er oft zu einem „pro Israel“ kontra „pro Palästina“ versimpelt. Der Konflikt wurde, wie viele andere auch, zum Stellvertreterkrieg zwischen den Weltblöcken West und Ost. Heute ist klar: Das war keine Lösung. Letztlich wurden die Spannungen, die im Nahen Osten ohnehin existierten, dadurch sogar noch verschärft.

Hinzu kommt: Es ist keine Lösung in Sicht. Ich denke, auch deshalb sollte keiner von uns beanspruchen, wir hätten die Lösung in der Tasche. Das wäre vermessen, und das wäre unangemessen gegenüber Jüdinnen und Juden, aber auch gegenüber Palästinenserinnen und Palästinensern, zumal die Gegenüberstellung „Hier die Juden, da die Palästinenser“ im wahren Leben so auch nicht stimmt.

Wer in Israel genau hinhört, wird kritische Debatten erleben, die hierzulande fälschlicherweise als unkorrekt gelten. Wer nachdenklichen Palästinensern zuhört, wird Debatten erleben, die vom Wunsch nach dem überfälligen Frieden zwischen Israel und Palästina beseelt sind. Beide beziehen sich aufeinander, weil sie miteinander nach einer Lösung suchen.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Hans Eichel [SPD])

So wünsche ich mir zum Beispiel von den deutschen Medien, dass sie die Initiativen, die Schalom und Salam wirklich zusammenführen wollen, viel mehr unterstützen; auch das gehört für mich zur historischen Verantwortung Deutschlands. Es gibt solche Initiativen in Israel, in Palästina und auch hierzulande.

Gleichwohl sind 60 Jahre Israel auch 60 Jahre Nahostkonflikt. Er harrt einer Lösung, für die unmittelbar Betroffenen in Israel und Palästina, aber auch darüber hinaus. Denn der Nahostkonflikt birgt Sprengstoff für die Welt insgesamt. Hier stellt sich natürlich die grundsätzliche Frage: Welche Position der Vernunft kommt dabei Deutschland zu? Ich finde, es darf keinerlei Zweifel am Existenzrecht Israels geben. Es darf aber auch keinen Zweifel am Recht der Palästinenser geben, in Würde zu leben. Wir haben eine Doppelverantwortung: Wir stehen gegenüber Jüdinnen und Juden in tiefer Schuld. Genau deshalb darf es aber nicht so sein, dass die Palästinenser unter der historischen Schuld Deutschlands leiden.

(Beifall bei der LINKEN)

Wer 60 Jahre Israel begrüßt - ich tue das ausdrücklich -, muss zugleich das Schicksal der Palästinenser im Blick haben. Denn so unklar die Zukunft im Nahen Osten ist, so klar ist: Frieden wird es nur miteinander und nie gegeneinander geben. Letztlich trägt eine Lösung für alle nur dann, wenn sie vor dem Völkerrecht Bestand hat.

Die tiefste rechtliche Konsequenz aus der mörderischen Praxis des NS-Regimes wurde in Art. 1 des Grundgesetzes verankert: Die Würde des Menschen, aller Menschen, ist unantastbar. Das heißt für mich aber auch: Sogenannte nationale Befreiungsbewegungen, die Attentate verüben und dabei Unschuldige morden, sind keine Menschenrechtsbewegungen.

(Beifall im ganzen Hause)

Es wäre aber unredlich, Millionen Palästinenser - Frau-en, Männer, Kinder und Greise - dafür kollektiv zu bestrafen. Die Geburt Israels vor 60 Jahren war ein historisches Ereignis. Aber sie war, wie der israelische Journalist Igal Avidan schreibt, ein „Kaiserschnitt“, ein Kaiserschnitt, der heute noch blutet. So mischt sich Jubiläumsfreude mit anhaltender Sorge.

Ich bin vor Wochen gebeten worden, ein Grußwort „60 Jahre Israel“ zu schreiben. Dazu war ich gerne bereit, zumal ich erst kurz vorher in Israel war. Dort hatte ich in Jerusalem an einer internationalen Konferenz gegen Antisemitismus teilgenommen. Natürlich kam ich mit Eindrücken zurück, die so vielfältig und widersprüchlich wie Israel selbst sind.

Umso länger dachte ich dann über mein Grußwort nach. Ich entschied mich schließlich für eine Anleihe beim Friedenslied von Bertolt Brecht:

Friede in unserem Hause!
Friede im Hause nebenan!
Friede dem friedlichen Nachbarn,
Daß jedes gedeihen kann.

Einen Vers aus dem Friedenslied habe ich allerdings bewusst weggelassen:

Friede in unserem Lande!
Friede in unserer Stadt!
Daß sie den gut behause,
Der sie gebauet hat!

Ich habe ihn bewusst ausgelassen, weil ich die Siedlungspolitik in diesem Grußwort nicht gutheißen wollte; denn auch sie ist ein Grund dafür, dass, um im Bild zu bleiben, der Kaiserschnitt noch immer blutet.

(Beifall bei der LINKEN)

Nun spreche ich hier auch als Innenpolitikerin der Fraktion Die Linke. Meine Pro-Themen sind Bürgerrechte und Demokratie, meine Anti-Themen sind Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus. Deshalb sage ich auch: Man kann nicht 60 Jahre Israel würdigen und zugleich den Antisemitismus hierzulande ausblenden.

(Beifall bei der LINKEN, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Es ist richtig: Es gibt wieder jüdisches Leben. Das ist ein historisch unverdientes Geschenk der Jüdinnen und Juden an Deutschland und eine Bereicherung unserer Vielfalt und Kultur. Das jüdische Leben hierzulande ist aber alles andere als normal. Noch immer müssen Synagogen und jüdische Schulen sowie Kindergärten besonders geschützt werden. Im statistischen Schnitt wird in der Bundesrepublik Woche für Woche ein jüdischer Friedhof geschändet. Soziologische Untersuchungen belegen: Mehr als ein Drittel der Deutschen ist latent antisemitisch eingestellt - im Westen der Republik übrigens mehr als im Osten. Das ist der aktuelle Befund.

Antisemitismus aber ist keine politische Kritik. Antisemitismus ist eine menschenverachtende Ideologie.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Sie grassiert noch immer oder schon wieder inmitten der Gesellschaft: an Stammtischen, in Chefetagen, im Alltag.

Umso wichtiger finde ich es, dass sich nunmehr über die heutige Debatte hinaus im Bundestag Kolleginnen und Kollegen aus allen Fraktionen zusammengefunden haben und zusammenfinden, um sich diesen gesellschaftlichen Problemen fern aller Parteirituale ernsthafter als bisher zuzuwenden. Ich persönlich werde meinen Beitrag dazu leisten - als Lehre aus der Geschichte und aus Sorge um die Zukunft.

(Beifall bei der LINKEN, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)