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"Niemand von uns könnte davon leben."

Archiv Linksfraktion - Rede von Gregor Gysi,

Gregor Gysi in der ersten Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Westerwelle, ich habe Ihnen zugehört. Sie haben die These aufgestellt, dass schlimm sei, wenn man bei einem höheren Bruttolohn zu viel abziehe. Stattdessen solle es lieber einen niedrigeren Bruttolohn geben. Also, verstanden habe ich das Ganze nicht;

(Jörg van Essen (FDP): Das passiert, wenn man zu spät kommt, Herr Kollege!)

denn bei den niedrigen Löhnen wird ja auch viel abgezogen. Weshalb Sie gegen höhere Löhne sind, ist nicht nachzuvollziehen, es sei denn, Sie wollen ganz einseitige Interessen in der Gesellschaft vertreten.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos))

Herr Westerwelle, Sie nehmen bestimmte Tatsachen nicht zur Kenntnis, so zum Beispiel die Tatsache, dass 10 Prozent der oberen Haushalte in Deutschland 47 Prozent des Vermögens und 50 Prozent der unteren Haushalte 4 Prozent des Vermögens besitzen. Daran muss man etwas ändern, wenn man eine gerechtere Gesellschaft will.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos))

Sie ignorieren, dass wir beim Pro-Kopf-Einkommen in der EU bei einem Vergleich der alten 15 Mitgliedsländer jetzt auf Platz 11 sind. Es besteht die Gefahr, dass uns Spanien im nächsten Jahr überholt. Dann liegen hinter uns nur noch Griechenland, Portugal und Italien. Ich muss sagen: Da kann man aber doll stolz sein, was das Pro-Kopf-Einkommen unserer Bevölkerung betrifft.
Deshalb brauchen wir dringend einen gesetzlichen Mindestlohn, damit Lohndumping in Deutschland endlich aufhört.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos))

Da sagen wir, preisbereinigt bräuchten wir einen Mindestlohn von 8,44 Euro. Allerdings fügen wir hinzu, dass das heute nicht mehr ausreicht; denn dort, wo höhere Löhne gezahlt werden, besteht bei der Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes die Gefahr, dass die höheren Löhne auf die Höhe des gesetzlichen Mindestlohns gesenkt werden. Deshalb haben wir gesagt, wir brauchen ein Verfahren, das sicherstellt, dass Lohnsenkungen überhaupt nur in ökonomischen Ausnahmesituationen genehmigt werden; ansonsten müssen sie untersagt werden, weil das nicht die Entwicklung unserer Gesellschaft sein soll.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos))

Nun geht es heute aber nur um die Briefzustellerinnen und Briefzusteller. Es geht ja noch gar nicht um einen gesetzlichen Mindestlohn. Sie haben die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns unter der Bedingung vereinbart, dass sich die Betreffenden einigen. Nun haben wir eine Einigung - dazu hat hier noch niemand etwas gesagt - auf einen gesetzlichen Mindestlohn Ost in Höhe von 9 Euro

(Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU): Nicht gesetzlich!)

Entschuldigung, es ist ein tariflicher Mindestlohn und einen Mindestlohn West in Höhe von 9,80 Euro. Ich muss Ihnen sagen: Im 18. Jahr der deutschen Einheit bei einer gleichen Kostenstruktur in Ost und West ist ein unterschiedlicher Mindestlohn nicht mehr hinnehmbar.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos))

Ich meine das als Kritik am Arbeitgeberverband und an meiner Gewerkschaft Verdi. Dass sie das unterschrieben haben, ist ein Skandal; ich sage das so offen. Ich hätte mir gewünscht, dass auch jemand von den anderen Fraktionen gesagt hätte, dass wir das im 18. Jahr der deutschen Einheit nicht mehr wollen.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos))

Nun spielt Herr Gerster - Sie haben es bereits gesagt; ich kann es gut verstehen - eine bestimmte Rolle. Von 1991 bis 1994 war der Mann, Mitglied der SPD, Minister für Europaangelegenheiten in Becks Rheinland-Pfalz. Dann wurde er Minister für Arbeit, Soziales und Gesundheit. Dann wurde er Leiter der Bundesanstalt für Arbeit. Irgendwann ging er. Was macht er nun? Er hört von dieser Vereinbarung, gründet einen eigenen, neuen Arbeitgeberverband und hilft offensichtlich dabei, eine kleine, neue Gewerkschaft zu gründen und Räume anzumieten, und das Ganze nur mit dem Ziel, den Mindestlohn zu unterschreiten. Sie sprechen bei Oskar Lafontaine immer von Verrat. Aber das, was Herr Gerster macht, ist ein wirklicher Verrat an der Sozialdemokratie.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos) - Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): Das betrifft beide!)

Damit müssten Sie sich einmal auseinandersetzen. Der Superminister von Herrn Schröder, Herr Clement, haut in dieselbe Kerbe. Damit Sie das als Verrat entlarven können, müssten Sie sich zuerst einmal mit der unsozialdemokratischen Agenda 2010 und mit Hartz IV selbstkritisch auseinandersetzen. Aber das wollen Sie nicht.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos))

Herr Gerster organisiert unter Beteiligung von TNT und PIN einen neuen Arbeitgeberverband und sagt, man wolle einen niedrigeren Lohn. Dann macht er Folgendes eine solche Demütigung habe ich selten erlebt : Er schickt die Beschäftigten der Unternehmen zur Demonstration auf die Straße und bezahlt sie, damit sie sagen, dass sie einen niedrigeren Lohn haben wollen. Schlimmer kann man Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht demütigen, als das hier gemacht wurde.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos))

Ich möchte noch über einen anderen Punkt sprechen, der zwar nicht ganz dazu gehört, aber in die gleiche Richtung geht: die 58er-Regelung. Monitor wird darüber berichten, was für ein Skandal das ist. In der letzten Sitzungswoche haben Sie unseren Antrag auf Fortsetzung der 58er-Regelung abgelehnt. Das bedeutet, dass Sie einem Arbeitslosen, der 58 Jahre oder älter ist, sagen, er werde nicht mehr vermittelt, und ihn nach § 5 SGB zwingen er hat nicht einmal mehr die Wahl , die Frühverrentung zu beantragen und damit eine Kürzung der Rente um bis zu 18 Prozent hinzunehmen. Das gilt auch noch, wenn der Betreffende 87 oder 88 Jahre alt ist. Ich halte das für grundgesetzwidrig.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos))

Niemand darf gezwungen werden, eine Kürzung der Rente hinzunehmen, wenn er die Möglichkeit hat, eine höhere zu erwerben. Aber Sie tun das. Korrigieren Sie das! Setzen Sie wenigstens die 58er-Regelung fort! Das alles gehört zur Ungerechtigkeit, die es in unserem Land gibt.

(Klaus Brandner (SPD): Gehört das zu den Postdienstleistungen?)

Ich habe ja gesagt, dass es nicht ganz dazugehört. Aber ein wichtiges Thema ist es; das können Sie doch nicht bestreiten.

(Klaus Brandner (SPD): Dann sagen Sie mal was Vernünftiges dazu!)

Sagen Sie heute doch, dass Sie das korrigieren werden und dass die 58er-Regelung nach dem 31. Dezember fortgesetzt wird! Das wäre für 350 000 Betroffene eine wichtige Entscheidung.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos))

Wir brauchen einen Mindestlohn. Wir brauchen eine Allgemeinverbindlichkeit. Wir brauchen das für die Postbediensteten bzw. die Briefzustellerinnen und Briefzusteller deshalb jetzt, weil das Briefmonopol am 1. Januar 2008 aufhört zu existieren. Sie wissen um die vorhandenen Niedriglöhne. Dagegen muss der Bundestag etwas tun. Des Weiteren sind viele noch gar nicht berücksichtigt. Denken Sie an die Sortiererinnen und Sortierer! Denken Sie an die Verkäuferinnen und Verkäufer bei TNT und PIN! Sie bekommen einen Bruttolohn von 5 Euro bzw. 6,72 Euro pro Stunde. Niemand von uns könnte davon leben. Wir sollten auch nicht so tun, als könnten wir davon leben. Gegen solche Löhne müssen wir etwas unternehmen. Der Bundestag muss ein Zeichen setzen und sagen: Das lassen wir in Deutschland nicht zu.
Danke.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos))