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Mindestlohn statt Armutslohn

Archiv Linksfraktion - Rede von Gregor Gysi,

Tariflöhne sind in den neuen Bundesländern zu einer Ausnahme geworden und es gibt sie auch in den alten Bundesländern immer seltener. In vielen Unternehmen gibt es nicht einmal einen Haustarifvertrag; dort wird Monat für Monat entweder ausbezahlt, was da ist, oder es werden andere Kriterien zugrunde gelegt. Es gibt für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer also keine verlässlichen Maßstäbe mehr. In den letzten Jahren haben wir in Deutschland eine Entwicklung erlebt, die es erforderlich macht, dass der Gesetzgeber tätig wird. Gregor Gysi zum Antrag der Fraktion DIE LINKE. : „ Mindestlohnregelung einführen“ Drs. 16/ 398

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Seit Jahren fordern alle Fraktionen im Deutschen Bundestag das Gleiche, schlagen allerdings höchst unterschiedliche Wege vor, um die Erwerbsmöglichkeiten in Deutschland auszubauen und die Arbeitslosigkeit abzubauen. Die unterschiedlichen Vorstellungen, die es hierzu gibt, haben natürlich auch zu gravierenden politischen Auseinandersetzungen geführt. Dabei spielt zunehmend die Frage eine Rolle, was man eigentlich verdient, wenn man sich in Erwerbstätigkeit begibt, (Ute Kumpf (SPD): Das ist ganz unterschiedlich, lieber Herr Gysi!) und ob man das, wie manche sagen, dem freien Spiel der Kräfte überlassen kann. In den letzten Jahren haben wir in Deutschland eine Entwicklung erlebt, die es erforderlich macht, dass der Gesetzgeber tätig wird: (Beifall des Abg. Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE)) Tariflöhne sind in den neuen Bundesländern zu einer Ausnahme geworden und es gibt sie auch in den alten Bundesländern immer seltener. Im Osten kommen sehr häufig Haustarife zur Anwendung, kaum mehr Flächentarifverträge. In vielen Unternehmen gibt es nicht einmal einen Haustarifvertrag; dort wird Monat für Monat entweder ausbezahlt, was da ist, oder es werden andere Kriterien zugrunde gelegt. Es gibt für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer also keine verlässlichen Maßstäbe mehr. Solange überall bzw. in zumindest 90 Prozent der Fälle Tarifverträge gegolten haben und die Gewerkschaften dafür sorgen konnten, dass angemessene Mindestlöhne gezahlt wurden, konnte man auf eine Regelung verzichten; das war in den früheren Jahrzehnten der Bundesrepublik der Fall. Heutzutage ist das unverantwortlich. (Beifall bei der LINKEN) Man muss sagen, was jemand pro Stunde Erwerbsarbeit in Deutschland mindestens verdienen muss. Ich höre schon jetzt, was die Redner der FDP, die ja immer die Freiheit betonen, vermutlich sagen werden: dass man all das wunderbar miteinander vereinbaren kann. (Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Warten Sie doch erst einmal ab, Herr Gysi!) Das haben Sie früher immer gesagt. Warum also sollten Sie heute etwas anderes sagen? (Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Unverhofft kommt oft!) Eines möchte ich Ihnen aber entgegenhalten: Selbst für Ihre Klientel, die Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte (Dirk Niebel (FDP): Ach, Sie haben also FDP gewählt? Machen Sie das in Zukunft öfter!) leider gibt es eine ganze Reihe von ihnen, die zu Ihrer Klientel gehören - und die Ärztinnen und Ärzte, gelten Mindestlöhne. Diese Berufsgruppen haben Gebührenordnungen, in denen steht, wie viel sie mindestens verdienen. Hier haben Sie nichts dagegen. Darüber würde ich an Ihrer Stelle einmal nachdenken. (Beifall bei der LINKEN) Wir sagen: Diese Art der Sicherheit brauchen auch die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland. (Dirk Niebel (FDP): So, so! Herr Gysi gehört also zu unserer Klientel! Jetzt habe ich es endlich verstanden!) Inzwischen gibt es in Deutschland mehr als 3 Millionen erwerbstätige Menschen, die weniger als den pfändungsfreien Betrag dazu sage ich noch etwas verdienen. Darunter befinden sich sehr viele Menschen, die weniger als 800 Euro im Monat verdienen. Mit Ausnahme jener, die wirklich in dieser Situation waren, kann niemand hier im Hause ernsthaft sagen, wie man von diesem Betrag leben kann. (Beifall bei der LINKEN) Da wir diese Frage nicht beantworten können, müssen wir als Gesetzgeber eine andere Regelung schaffen. Die Zahl derjenigen, die sich in einer solchen Situation befinden, nimmt zu. Hinzu kommt - auch daran möchte ich erinnern - die Bolkestein-Regelung. Hier wurde ein Kompromiss erarbeitet. Dabei handelt es sich um einen Kompromiss für Rechtsanwälte; denn seine Formulierungen sind so schwammig, dass darüber - das ist schon jetzt klar irgendwann einmal der Europäische Gerichtshof wird entscheiden müssen. Weil man sich darauf nicht eindeutig verlassen kann, hilft uns diese Regelung nicht weiter. Ob in Deutschland oder in Frankreich, bei uns werden Unternehmen aus anderen Ländern zu ganz anderen Lohnbedingungen, zu ganz anderen Sozialbedingungen Arbeit anbieten. Diese Konkurrenz bedeutet Dumping: weil sie ausschließlich auf das Drücken der Löhne hinausläuft. (Beifall bei der LINKEN - Zuruf von der CDU/CSU: Hören Sie doch auf!) Die Kosten in Deutschland sinken aber doch nicht: Weder wird die Miete geringer noch werden Busfahrten billiger noch Bahnfahrten. Im Gegenteil, alles wird teurer. Deshalb ist es doch nicht zu viel verlangt, dass der Gesetzgeber von den Unternehmen die Zahlung eines Mindestlohns erwartet und sie dazu verpflichtet. (Beifall bei der LINKEN - Zuruf von der CDU/CSU: Das wird Arbeitsplätze zerstören!) Auf die Arbeitsplätze komme ich noch zu sprechen. Wenn man für einen solchen Mindestlohn streitet, muss man auch sagen, wo er liegen soll; dafür braucht man einen Maßstab. (Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Ja!) Wir können uns nach dem richten, was der Gesetzgeber als pfändungsfreies Einkommen festgelegt hat. Wenn Sie jemandem ein Darlehen gewähren, dieser es nicht zurückzahlt und Sie nach drei Jahren endlich Ihren Vollstreckungstitel haben, dann bekommen Sie, wenn diese Einzelperson nur 985 Euro netto hat, gar nichts davon. Erst wenn die Person mehr als 985 Euro hat, können Sie pfänden. Das ist doch ein Maßstab! Damit hat der Gesetzgeber - die Mehrheit im Bundestag - gesagt: An diesen Betrag lassen wir auch einen Gläubiger nicht heran. Genau dieser Betrag muss der Mindestlohn in Deutschland werden: Wer arbeitet, muss mindestens den pfändungsfreien Betrag verdienen. (Beifall bei der LINKEN) So kommt unsere Rechnung zustande: Bei 8 Euro brutto pro Stunde kommen Sie bei einer 40 Stunden-Arbeitswoche auf einen Bruttolohn im Monat, dem netto etwa diese 985 Euro entsprechen. Damit würde jeder mindestens den pfändungsfreien Betrag verdienen. Das ist doch nicht zu viel verlangt. Es gibt noch ein Argument für unser Anliegen: 19 europäische Staaten haben einen Mindestlohn eingeführt und sie haben damit keine schlechten Erfahrungen gemacht. (Andrea Nahles (SPD): 19!) Sagen Sie jetzt nicht: Die sind alle doof und wir sind als einzige schlau. Nein, sie hatten gute Gründe, einen Mindestlohn einzuführen. (Beifall bei der LINKEN) Reden Sie einmal mit einem Taxifahrer, mit einer Friseuse, mit Leuten aus dem Bäckereihandwerk oder gar mit Wachpersonal! (Ute Kumpf (SPD): Wann gehen Sie denn zum Friseur?) Ja, ich bin jetzt ein paar Jahre einem normalen Beruf nachgegangen. Da lernen Sie viele Leute kennen. Da müssen Sie mal wieder rein; das ist zur Abwechslung gar nicht schlecht. (Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN) Wenn Sie mit diesen Leuten reden, werden Sie eins feststellen: Es gibt Leute, deren Bruttoeinkommen bei 3 Euro, 4 Euro die Stunde liegt. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Herr Kollege, ich möchte Sie an Ihre Redezeit erinnern. Sie reden sonst auf Kosten Ihrer Kollegen. Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): So viele Überstunden können Sie gar nicht machen, dass Sie davon Ihren Lebensunterhalt einigermaßen bestreiten können. Ich sage, es ist eine Frage des Anstands, dass wir - der Bundestag - dafür sorgen, nicht von Armut umgeben zu sein. Dafür brauchen wir den Mindestlohn. (Beifall bei der LINKEN)