Rede von Matthias W. Birkwald MdB
zum TOP „Sterbebegleitung“
am Donnerstag, 13.11.2014 im Deutschen Bundestag
Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
Am 11. September 2010 starb mein jüngerer Bruder Stephan im Alter von nur 47 Jahren an einem Oligoastrozytom. Neun Jahre hatte er sehr tapfer gegen den unheilbaren Gehirntumor gekämpft. Mein Bruder wusste, dass er würde sterben müssen; doch in den langen Jahren seiner schweren Krankheit hat er nicht ein einziges Mal den Wunsch geäußert, in den Freitod zu gehen. Im Gegenteil: Den 18. Geburtstag seines Sohnes noch erleben zu wollen, hat ihm Kraft gegeben, und seinen eigenen 50. Geburtstag hätte er ebenfalls nur allzu gerne noch erlebt. Woher er nach neun Jahren Leiden diese Kraft nahm, weiß ich nicht; aber ich weiß, dass mein Bruder in mehrfacher Hinsicht ausgesprochen privilegierte Bedingungen hatte: Seine gesamte Familie, sein gesamter Freundeskreis und vor allem auch seine Kolleginnen und Kollegen und sein Arbeitgeber, Volvo in Köln-Rodenkirchen, haben ihn voll unterstützt, getragen und viel Verständnis für ihn gehabt, und das auch schon zu Zeiten, als noch nicht offensichtlich war, ob und wann die Krankheit zum Tode führen würde. In den letzten vier Monaten seines Lebens wurde mein Bruder von meinen Eltern liebevoll in seinem Elternhaus gepflegt. Er hat in Würde gelebt, und er ist in Würde gestorben.
Die freie Entscheidung über das eigene Ende, meine Damen und Herren, die wünsche ich mir für alle Menschen bis ins hohe Greisenalter.
(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)
Die Realität sieht für viele alte Menschen leider völlig anders aus. Heribert Prantl hat in derSüddeutschen Zeitung vom vergangenen Samstag über einen „Aufschrei gegen den Pflegenotstand“ geschrieben. Sieben Beschwerdeführer haben in Karlsruhe gegen den Pflegenotstand Verfassungsklage eingereicht, Zitat:
Eingesperrt, ruhiggestellt, verwahrlost: Die Situation vieler Menschen in Altenheimen ist alarmierend.
Weiter heißt es aus einem Pflegeheim - Zitat -:
die Bewohner seien nur alle vier Wochen geduscht worden, es gab keine Zahnpflege, die Alten mussten oft in verkoteten Windeln oder verkoteter Kleidung stundenlang ausharren, Medikamente wurden nicht oder nur unzuverlässig verabreicht, Notrufe nicht beachtet …
Einzelfälle seien dies nicht; aber ich füge hinzu: Selbstverständlich gibt es auch viele gute Gegenbeispiele.
(Zuruf von der CDU/CSU: Aha!)
Aber diese sieben Kläger erbitten vom Bundesverfassungsgericht „Hilfe in schreiender Not“. Ich denke, dies zeigt, dass eine Gesundheits- und Pflegereform, die die massiven Defizite behebt, schon lange überfällig ist.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Abg. Gabriele Hiller-Ohm (SPD))
Denn auch und gerade für Todkranke, für Demente und alte Menschen gilt Artikel 1 unseres Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Ich sage: Wir brauchen dringend mehr gut geführte Hospize und eine flächendeckende und bedarfsdeckende Palliativmedizin auf höchstem Niveau.
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN sowie der Abg. Gabriele Hiller-Ohm (SPD))
Davon sind wir heute weit entfernt. Ich denke, je besser die palliativmedizinische Versorgung schwerstkranker Menschen sein wird, desto weniger Menschen werden ihr Leben durch einen assistierten Suizid beenden wollen. Aber die, die ihrem Leben ein Ende setzen wollen - wie dies zum Beispiel die 29-jährige Brittany Maynard, die an einem aggressiven Gehirntumor litt, Anfang November in Oregon getan hat -, sollen dies meines Erachtens in freier Selbstbestimmung tun dürfen - auch in Deutschland, auch mit Hilfe.
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Mein Wunsch ist es, selbstbestimmt zu leben und selbstbestimmt sterben zu dürfen. Die Erfüllung dieses Wunsches gestehe ich selbstverständlich auch allen anderen Menschen zu. In unserem Grundgesetz ist ein Recht auf Leben verankert, aber keine Pflicht zum Leben - die gibt es nicht. Darum ist der Freitod in Deutschland auch straffrei und die Beihilfe zum Freitod ebenfalls. Dabei sollte es bleiben. Darum plädiere ich dafür, die von Angehörigen, Nahestehenden, Ärztinnen und Ärzten und Sterbehilfevereinen geleistete Beihilfe zum Freitod auch weiterhin straflos zu lassen.
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und der SPD sowie der Abg. Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))
Meine Damen und Herren, gestatten Sie mir eine Bemerkung zum Schluss. Im Vorfeld der Debatte habe ich viele Gespräche geführt und viel gelesen. Ganz besonders überzeugt hat mich das BuchLetzte Hilfe des Berliner Arztes Uwe-Christian Arnold. Es ist ein Plädoyer für das selbstbestimmte Sterben, und in ihm heißt es:
So wie es ein Recht auf Erste Hilfe gibt, das dafür sorgt, dass unser Leben im Notfall gerettet wird, sollte es auch ein Recht auf Letzte Hilfe geben, das garantiert, dass wir unser Leben in Würde beschließen können.
Entweder mit dem assistierten Suizid ‑ wie Brittany Maynard ‑
(Zuruf des Abg. Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))
oder mit bester Pflege bis zum Schluss ‑ wie mein Bruder Stephan ‑, das Prinzip sollte lauten: Mein Ende gehört mir.
(Beifall des Abg. Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE))
Darum bin ich für das Recht auf Letzte Hilfe und dafür, dass den Helferinnen und Helfern daraus keine Nachteile erwachsen dürfen.
Herzlichen Dank.
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU))
Video und weitere Informationen: