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Mehr Gewalterfahrungen, mehr Carearbeit, weniger Chancen!

Archiv Linksfraktion - Rede von Heidi Reichinnek,

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als Mitarbeiterin der Jugendhilfe habe ich mit zahlreichen Mädchen und jungen Frauen gesprochen, vor allem auch über ihre Erfahrungen in den sozialen Medien. Das hat mich oft entsetzt. Ich erinnere mich zum Beispiel noch sehr gut an ein Mädchen, das eindeutig untergewichtig war und sich trotzdem zu dick fand, weil ihr der Algorithmus immer neue verzerrte Bilder vorgesetzt hat. Dazu muss man wissen: 95 Prozent der 10- bis 18‑Jährigen nutzen soziale Medien; die Nutzungsdauer hat sich seit Beginn der Coronapandemie sogar verdoppelt. Dabei sehen junge Menschen im Schnitt 5 000 Bilder pro Woche. Bewusst oder unterbewusst vergleichen sich vor allem Mädchen und junge Frauen mit Bildern, die oft retuschiert oder nachbearbeitet sind und damit ein extrem schlechtes Körpergefühl vermitteln – ganz zu schweigen von den Beleidigungen, denen Frauen und Mädchen online ausgesetzt sind.

Laut dem vorliegenden Gleichstellungsbericht – wir haben es gerade gehört – werden 70 Prozent der befragten Mädchen in Deutschland online belästigt. Auch hier erinnere ich mich leider an viel zu viele Gespräche über die Folgen dieser Belästigungen: Rückzug aus den sozialen Medien, Hilflosigkeit, Angststörungen.

Obwohl der Dritte Gleichstellungsbericht mittlerweile über ein Jahr alt ist und sehr gute Lösungen präsentiert, sehe ich leider bisher recht wenig Fortschritte. Wo bleibt zum Beispiel eine umfassende Förderung von Vorbildern und positiven Beispielen? Im Gegensatz zur letzten und leider auch zur aktuellen Regierung sind hier viele junge Menschen bereits aktiv geworden; es gibt beeindruckende Accounts, die Selbstakzeptanz stärken, Austausch ermöglichen, Unterstützung anbieten. All diesen Menschen möchte ich an dieser Stelle einmal herzlichen Dank dafür sagen, dass sie sich das Internet zurückerobern.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Sönke Rix [SPD])

Aber auch die Medienschaffenden sind hier in der Pflicht. Auch der Ausbau der Medienbildung ist zentral. Das heißt, wichtig ist vor allem eine bessere strukturelle Förderung der Jugendarbeit, damit die Kolleginnen und Kollegen dort besser auf die Herausforderungen der sozialen Medien reagieren können und damit das Personal mit den Kindern und Jugendlichen arbeiten kann, statt einen Antrag nach dem nächsten zu verfassen.

Und – das hat die Kollegin gerade sehr gut deutlich gemacht – es braucht klares Handeln gegen digitale Gewalt: etwa Überwachungs-Apps zur Verhinderung der Veröffentlichung von intimen Aufnahmen oder von Onlinestalking. Wir brauchen endlich flächendeckende Beratungsangebote und eine Stärkung von Fachkompetenz, vor allem bei Polizei und Justiz, am besten über verpflichtende Weiterbildungen. Frauenhäuser und Beratungsstellen brauchen IT‑Unterstützung, zum Beispiel durch gut erreichbare IT-Kompetenzzentren, die bei Fragen digitaler Gewalt technisch unterstützen.

Die To-do-Liste ist lang. Die letzte Regierung hat das leider verschlafen. Von der neuen Koalition, die sich „Fortschrittskoalition“ nennt, erwarte ich hier einiges. Ich gebe Ihnen einen Vertrauensvorschuss – verspielen Sie ihn nicht!

(Beifall bei der LINKEN)

Die Digitalisierung hat seit Corona auch unsere Arbeitswelt komplett umgekrempelt. Die Arbeit im Homeoffice führt zu Dauererreichbarkeit, Arbeitszeiten dehnen sich aus und Ruhephasen werden ausgehebelt. Gerade Frauen übernehmen im Homeoffice noch mehr Sorgearbeit als sowieso schon.

Ich erinnere kurz: Frauen haben bereits vor Corona 53 Prozent mehr Zeit für Haus- und Sorgearbeit erbracht als Männer; bei Paaren mit Kindern waren es sogar 83 Prozent mehr. Die Schließung von Kitas und Schulen hat zudem den Betreuungs- und Organisationsbedarf – Stichwort „Homeschooling“ – drastisch erhöht. Und wer hat das größtenteils aufgefangen? Es wird Sie alle sehr überraschen: Es waren die Frauen. Viele Frauen haben deswegen ihre Arbeitszeit reduziert. Und ja, auch Männer haben das teilweise gemacht. Doch nach zwei Coronajahren arbeiten die Männer jetzt wieder wie vorher, während jede fünfte Frau immer noch ihre Tätigkeit reduzieren muss, um unplanbaren Betreuungssituationen gerecht zu werden.

Was haben wir nun davon? Vor allem Mütter haben während der Pandemie das Vertrauen in die Politik verloren. Es wurde in den letzten zwei Jahren viel zu wenig getan, um Familien, speziell Mütter und Alleinerziehende, zu entlasten. Stattdessen erleben wir einen Rückfall in alte Muster: Mann verdient Geld, Frau kümmert sich.

Wissen Sie, was das besonders Perfide ist? Immer mehr – noch nicht genug – Männer wollen auch Gleichstellung im Privaten, sie wollen die Sorgearbeit fairer aufteilen, stoßen aber – wie Frauen seit Jahrzehnten übrigens auch – in der Realität an ihre Grenzen. Deswegen muss zum Beispiel endlich das Ehegattensplitting abgeschafft werden, statt mit einer solch fehlgeleiteten Politik weiter die traditionelle Rollenverteilung zu zementieren.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Frank Bsirske [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Wenn wir uns mit Gleichstellung beschäftigen, dann müssen wir an den Kern der Problematik: Betreuungsangebote ausweiten, soziale und pflegerische Berufe, in denen Frauen klassisch überrepräsentiert sind, endlich mit besserer Bezahlung aufwerten, Minijobs nicht ausweiten, wie Sie es planen, sondern sie in voll sozialversicherungspflichtige Jobs überführen.

(Beifall bei der LINKEN)

Natürlich können wir stattdessen über einen Bericht diskutieren, der über ein Jahr alt ist. Das hilft nur leider niemandem da draußen, der auf unsere Arbeit angewiesen ist.

Vielen Dank.

(Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der SPD: Sie müssen etwas lauter reden! Man versteht Sie kaum! – Gegenruf der Abg. Heidi Reichinnek [DIE LINKE]: Sie müssen einfach schneller denken; dann verstehen Sie mich auch!)