Gregor Gysi in der Debatte über die Verlängerung des Bundeswehrmandats in Afghanistan
Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
Mit der Bombardierung Belgrads, einem völkerrechtswidrigen Krieg, bildete sich in Deutschland eine Kriegskoalition aus Union, SPD, FDP und Grünen.
(Dr. Karl A. Lamers (Heidelberg) (CDU/CSU): Ungeheuerlich so etwas! - Zuruf von der FDP: Das kann doch wohl nicht wahr sein!)
Sie stand auch beim Krieg in Afghanistan, der inzwischen über neun Jahre dauert. Die Linksfraktion beginnt heute mit einer Afghanistan-Konferenz unter dem Titel „Das andere Afghanistan“. Ich begrüße ausdrücklich neun Afghaninnen und Afghanen, die aus dem Land des Krieges kommen und auf der Tribüne Platz genommen haben. Auch um ihr Schicksal geht es.
(Beifall bei der LINKEN)
Ihre Gegner sind die Taliban, die Warlords, aber auch die NATO.
Es gibt eine repräsentative Emnid-Umfrage von Beginn 2010 und von Beginn 2011 zur Ablehnung bzw. Zustimmung der Bevölkerung betreffend den Afghanistan-Krieg. Dabei wurden die Vokabeln der Regierung und nicht etwa unsere verwandt. Es gab drei Antwortmöglichkeiten. Die erste mögliche Antwort war: Ich bin für die militärische Unterstützung der Aufbauhilfe. Das, was wir Krieg nennen, ist ganz im Sinne der Regierung so umschrieben worden. Die zweite mögliche Antwort war: Ich bin für den Abzug der Bundeswehr und für die Leistung von Aufbauhilfe. Die dritte mögliche Antwort war: Ich bin für den Abzug der Bundeswehr, aber ohne künftige Aufbauhilfe. 28 Prozent unterstützten zu Beginn des Jahres 2010 die Regierungspolitik. Heute sind es nur noch 15 Prozent. Ich bitte Sie, darüber nachzudenken, wen Sie hier repräsentieren.
(Beifall bei der LINKEN)
2010 waren 50 Prozent für den Abzug der Bundeswehr und für Aufbauhilfe; heute sind es 53 Prozent. Aber es gibt eine erschreckende Zahl: Vor einem Jahr wollten 18 Prozent keine Bundeswehr, aber auch keine Aufbauhilfe mehr; heute wollen dies 26 Prozent. Denken Sie einmal darüber nach, weshalb immer mehr Menschen keine Aufbauhilfe wollen! Das liegt an Ihrer Art der Politik. Die Leute glauben nicht mehr daran; sie sehen darin keinen Sinn.
(Beifall bei der LINKEN)
Bei der Umfrage kommt heraus, dass 79 Prozent für den Abzug der Bundeswehr sind. Nur im Bundestag sind die Verhältnisse exakt umgekehrt.
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
Meine Partei war von Anfang an gegen den Krieg. Terrorismus kann man nicht mit der höchsten Form des Terrorismus, mit Krieg, bekämpfen.
(Birgit Homburger (FDP): Das ist ungeheuerlich!)
Der ehemalige SPD-Fraktionsvorsitzende Struck sagte: Am Hindukusch wird unsere Freiheit verteidigt. Wenn ich die schwer bewaffneten Polizisten rund um den Bundestag sehe, habe ich den Eindruck, dass am Hindukusch unsere Freiheit immer mehr eingeschränkt wird. Wir sind eine potenzielle Adresse für Terrorakte geworden.
(Beifall bei der LINKEN)
Lassen Sie mich noch etwas zu Krieg und Terror sagen. Die Terrororganisation al-Qaida sitzt nicht mehr in Afghanistan, sondern in Pakistan. Sie wird ausschließlich aus Saudi-Arabien bezahlt. Die USA haben beste Beziehungen zu Saudi-Arabien. Das nenne ich verlogen.
(Beifall bei der LINKEN)
Sie kommen nicht darum herum. Sie wollten von Anfang an den Krieg gewinnen, wir den Frieden.
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN - Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP - Zuruf von der FDP: Kölle Alaaf!)
Inzwischen sagt auch der Fortschrittsbericht der Bundesregierung von Dezember 2010, dass der Konflikt militärisch nicht zu lösen sei. Die Schlussfolgerung der NATO ist aber: mehr Soldaten, mehr Kriegsgerät. Außerdem heißt es, dass man den Krieg afghanisieren will, so wie die USA den Krieg im Irak irakisieren. Auch die Bundeswehr plant für das nächste Jahr eine weitere Verlegung von schwerem Kriegsgerät, von Panzern, Artillerie und Tigerkampfhubschraubern.
Das Ganze läuft auf eine Eskalation des Krieges hinaus. Eine Eskalation des Krieges bedeutet immer auch eine Eskalation der Opfer des Krieges. Im ersten Halbjahr 2010 stieg laut UN-Report die Zahl von toten und verletzten Zivilisten in Afghanistan um ein Drittel auf 3 268.
(Zuruf der Abg. Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))
Durch die Eskalation des Krieges gibt es auch eine höhere Zahl von Todesopfern unter den Soldatinnen und Soldaten. Seit Beginn des Krieges sind über 2 300 Soldatinnen und Soldaten umgekommen, darunter 46 Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr. Auffallend ist, dass die Zahl der getöteten Soldatinnen und Soldaten jährlich steigt; im letzten Jahr waren es schon 711. Die Zahl von Bundeswehrsoldaten mit seelischen Verletzungen hat sich gegenüber 2006 verzwölffacht. Waren es damals 55, sind es heute 655. Hinzu kommen noch 333 Soldaten mit anderen psychischen Erkrankungen. 2010 wurden also über 1 000 Soldaten stille Opfer des Krieges, und das sind nur die Soldatinnen und Soldaten, die sich gemeldet haben. Die Dunkelziffer ist viel höher.
Man braucht keinen Tatort, um zu begreifen, dass wir nicht nur Afghanistan schaden, sondern auch unser Land negativ verändern.
(Beifall bei der LINKEN)
Wenn man aus einer Landesverteidigungsarmee eine Interventionsarmee macht und Kriege führt, verändert man zuerst die Armee und dann die Gesellschaft.
Es gibt eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, die besagt: Bis Ende 2010 haben wir insgesamt 25 Milliarden Euro für diesen Krieg ausgegeben. Stellen Sie sich doch einmal vor, wie viel besser Afghanistan dastünde, wenn wir nur die Hälfte dieses Geldes in den zivilen Aufbau des Landes gesteckt hätten!
(Beifall bei der LINKEN)
Jetzt werde ich Ihnen etwas zu den Folgen des Krieges sagen, und daran kommen Sie nicht vorbei. Die erste Folge des Krieges: Das Ansehen der Taliban ist nicht gesunken, sondern hat wieder zugenommen.
(Zuruf von der CDU/CSU: In Ihrer Fraktion, oder wo?)
Das ist das Gegenteil von dem, was Sie erreichen wollten.
Zweitens. Die Warlords sind mächtiger als zu Beginn es Krieges.
Drittens. In Armut leben nicht mehr 33 Prozent, sondern 42 Prozent der Bevölkerung.
(Zuruf von der CDU/CSU: So ein Quatsch!)
Ich bitte Sie! Das sind UNO-Zahlen. Die können Sie nicht als Quatsch abtun. Nehmen Sie sie einfach mal zur Kenntnis.
(Beifall bei der LINKEN)
Viertens. Unterernährt sind nicht mehr 30 Prozent, sondern 39 Prozent der Bevölkerung.
Fünftens. In Slums leben nicht mehr 2,4 Millionen, sondern 4,5 Millionen Menschen.
Sechstens. Den Zugang zu sanitären Einrichtungen haben nicht mehr 12 Prozent, sondern nur noch 5,2 Prozent der Bevölkerung.
Siebentens. Die Mohnfelder für den Rauschgiftanbau der Warlords umfassen nicht mehr 131 000, sondern 193 000 Hektar.
Wofür führen Sie eigentlich diesen Krieg? Was soll in den nächsten Jahren anderes passieren, außer dass sich dies verschlimmert?
(Beifall bei der LINKEN)
Ihr Ansatz ist völlig falsch, verfangen in der Logik des Krieges und im Denken des Primats des Krieges.
Die Bundesregierung täuscht jetzt aber auch die Öffentlichkeit. Ich muss sagen, dass der Streit zwischen Bundesminister Westerwelle und Bundesminister zu Guttenberg um die Frage, ob man einen Termin für den beginnenden Abzug der Soldaten nennt, peinlich ist.
(Dr. Karl A. Lamers (Heidelberg) (CDU/CSU): Welcher Streit denn? Es gibt keinen Streit!)
Herausgekommen ist Folgendes: Man sagt, dass der Abzug Ende 2011 beginnt, wenn es die Lage erlaubt. - Für die Bevölkerung übersetzt, heißt dies: Es beginnt kein Abzug. Aber ich sage Ihnen eines: Jetzt hat Präsident Obama Sie blamiert. Er hat gestern erklärt: Ab Juli werden amerikanische Soldaten abgezogen. - Sie denken noch nicht einmal daran, dies zu realisieren
(Beifall bei der LINKEN)
Nur die Linke war und ist konsequent für die sofortige Beendigung des Krieges und den schnellstmöglichen Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan. Wir wollen keine Verlängerung des Kriegsmandats, sondern endlich die Erteilung eines Abzugsmandats.
(Beifall bei der LINKEN)
Wir wollen statt der Fortsetzung des Krieges eine zivile Konfliktlösung stärken. Wir schlagen eine Beendigung des Krieges durch Deutschland und eine Aufbauhilfe für Afghanistan in drei Schritten vor. Ersten wollen wir die Bundeswehr abziehen. Die Kampfverbände könnten bis spätestens Ende Mai 2011 abgezogen sein, und den letzten Bundeswehrsoldaten könnten wir bis spätestens Ende September 2011 abgezogen haben.
(Beifall bei der LINKEN)
Zweitens fordern wir eine massive Unterstützung der zivilen Strukturen. Es geht um die Bekämpfung von Armut, die Förderung von Bildung, die Gleichstellung von Frauen und andere wichtige Menschenrechte.
Drittens schlagen wir Maßnahmen und eine neue und andere Petersburger Konferenz zum Wiederaufbau Afghanistans nach dem Krieg vor.
(Beifall bei der LINKEN)
Meine Forderung lautet ganz einfach und ich will mich nur an SPD und Grüne wenden : Liebe Mitglieder der Fraktionen von SPD und Grünen, treten Sie endlich und für immer aus der Kriegskoalition aus!
(Anhaltender Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der CDU/CSU: Ich verwahre mich gegen den Ausdruck „Kriegskoalition“!)