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Kinderarmut bekämpfen - Kinderzuschlag ausbauen

Archiv Linksfraktion - Rede von Gregor Gysi,

Gregor Gysi in der Debatte über den Antrag der Fraktion DIE LINKE "Kinderarmut bekämpfen - Kinderzuschlag ausbauen"

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bevor mir wieder vorgeworfen wird, dass wir Wahlkampf machen man traut sich kaum noch, etwas zu sagen , räume ich ein, dass ich wirklich viele Menschen davon überzeugen möchte, ernsthaft etwas gegen Kinderarmut nicht nur bei uns hier in Deutschland, aber auch bei uns zu tun.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos))

Wir sind eine der reichsten Gesellschaften auf der Erde. Das kann niemand leugnen. Wir sind eines der ökonomisch stärksten Länder. Es besteht aber eine zunehmende Kinderarmut.

Es gibt in jeder Gesellschaft nur eine unschuldige Gruppe. Wir alle gehören nicht dazu. Wir alle haben schon unsere Fehler begangen etc. Es gibt aber eine unschuldige Gruppe: die Neugeborenen. In Deutschland liegen aber schon Welten zwischen den Chancen des einen und der anderen Neugeborenen. Die Gesellschaft kann all diese Probleme nicht lösen; das weiß ich. Wir müssen aber ernsthafte Maßnahmen ergreifen, um Kinderarmut zu überwinden. Kinderarmut kann man natürlich nur überwinden, wenn man Elternarmut überwindet. Einen anderen Weg gibt es nicht.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos))

Ich will Ihnen, Sozialdemokraten und Grünen, eine Sache sagen - Sie werden die Sache nicht los; es sei denn, sie korrigieren sich an diesem Punkt mal richtig -: Das Deutsche Kinderhilfswerk hat am 15. Dezember 2007 im Kinderreport Deutschland 2007 festgestellt, dass sich die Zahl der armen Kinder in Deutschland seit der Einführung von Hartz IV Anfang 2005 verdoppelt hat; das ist eine direkte Folge. Es sind derzeit 2,6 Millionen.
Jetzt möchte ich etwas zum Wahlkampf sagen: Sowohl Herr Jüttner als auch Frau Ypsilanti sagen: Die Agenda 2010 ist richtig. Hartz IV ist richtig. - Wenn man so etwas sagt, dann will man die Kinderarmut fortsetzen. Wir aber wollen hier einen anderen Weg gehen.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos))

Das Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe hat für den Vergleichszeitraum 2005 und 2006 festgestellt, dass die Anzahl der Kinder, die auf Sozialgeld angewiesen sind, um 12,2 Prozent gestiegen ist. Sie reden immer vom Aufschwung. Sie sagen, er komme überall an. Die Realität ist aber, dass wir immer mehr arme Kinder in Deutschland haben.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos))

Ich sehe diese Kinder in Berlin und in anderen Städten, auch in Suppenküchen.
Ich möchte Herrn Koch einmal sagen: Wenn man etwas gegen Jugendkriminalität und gegen Gewaltbereitschaft tun will, muss man dort ansetzen. Gewaltbereitschaft entsteht, wenn ich Kinder in die Suppenküche schicke und sie damit frustriere.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos))

Das Gefängnis kommt viel zu spät. Hier müssen wir früher etwas tun.

(Johannes Singhammer (CDU/CSU): Und vor allem Arbeitsplätze schaffen!)

Wir haben immer mehr Kinder in Ostdeutschland, deren Familien auf Arbeitslosengeld II angewiesen sind, und vor allem ausländische Jugendliche, deren Familien zunehmend darauf angewiesen sind. Die Bundeskanzlerin hat am 28. November 2007 hier im Bundestag zum Thema Kinderzuschlag Folgendes erklärt - ich bitte heute hier um Aufklärung -:

Wir wollen, dass niemand wegen der Kinder in die Bedürftigkeit fällt; deshalb muss der Kinderzuschlag weiterentwickelt werden.

Dann:

Deshalb werden wir den Kinderzuschlag erhöhen und vereinfachen.

Daraufhin hat unsere Fraktion eine Kleine Anfrage an die Bundesregierung gestellt. Zwei Wochen später, am 14. Dezember 2007, kam die Antwort der Familienministerin. Was teilte Sie mit? Wörtlich:
Die Bundesregierung beabsichtigt nicht, den Kinderzuschlag zu erhöhen.

Das können Sie in der Drucksache 16/7586 auf Seite 8 nachlesen.

Das heißt, die Kanzlerin erklärt in der Debatte hier gegenüber der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland, dass sie das Kindergeld erhöhen wird.

(Johannes Singhammer (CDU/CSU): Das Kindergeld?)

Die zuständige Ministerin sagt zwei Wochen später: An eine Erhöhung wird gar nicht gedacht.

(Paul Lehrieder (CDU/CSU): Das Kindergeld wird erhöht!)

Gestern hat sie das im Ausschuss noch einmal bestätigt. Ich sage Ihnen: Das ist ein Skandal!

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos) - Johannes Singhammer (CDU/CSU): Kindergeld oder Kinderzuschlag? - Caren Marks (SPD): Man sollte schon wissen, wovon man spricht!)

Kinderzuschlag. Habe ich „Kindergeld“ gesagt? Dann habe ich mich versprochen; Entschuldigung. Beide meinten den Kinderzuschlag. Ich rede nicht vom Kindergeld, sondern vom Kinderzuschlag. Die Kanzlerin hat gesagt, dieser Zuschlag werde erhöht; die Familienministerin schließt es aus. Das ist die Wahrheit.

Jetzt kommen wir zum nächsten Punkt: Der Kinderzuschlag ist ohnehin viel zu gering. Er beträgt nur 140 Euro.

(Christel Humme (SPD): Plus Kindergeld!)

Wissen Sie, wie viele Familien den Zuschlag bekommen? Geplant waren 530 000 Familien. Bis jetzt sind es gerade mal 130 000. Also haben wir uns entschieden, fünf Forderungen zu stellen.
Erstens. Erhöhung und Reform des Kinderzuschlags. Wir müssen den Kinderzuschlag von maximal 140 Euro erhöhen, und zwar für unter 14-Jährige auf 200 Euro und für 14-Jährige und Ältere auf mindestens 270 Euro. Die Einkommensgrenzen der Eltern nach unten müssen entfallen. Es geht doch nicht an, dass man jemandem sagt: Sie sind so arm; Sie können schon Sozialhilfe beantragen; dann bekommen Sie keinen Kinderzuschlag mehr. - Wo leben wir denn hier?

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos))

Diese Grenzen müssen entfallen. Wenn das geschieht, wird auch der Kreis derjenigen viel größer, die den Kinderzuschlag beziehen. Wir müssen das Wohngeld um 15 Prozent erhöhen, weil es entsprechende Mietsteigerungen gegeben hat.

Wir müssen zweitens den Hartz-IV-Regelsatz für Kinder erhöhen, und zwar auf rund 300 Euro; sonst können Hartz-IV-Empfängerinnen und Empfänger nicht dafür sorgen, dass ihre Kinder in der Bundesrepublik Deutschland auch nur halbwegs chancengleich aufwachsen können.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos) - Johannes Singhammer (CDU/CSU): Was halten Sie von mehr Arbeitsplätzen?)

Dann kommen wir zu einem dritten Punkt - er ist mir ganz wichtig -: Die öffentliche Bildung muss gebührenfrei sein und muss flächendeckend in höchster Qualität bereitgestellt werden. Wir sind hier nicht in Dubai. Unsere Gold- und Erdölvorkommen sind sehr begrenzt. Die Stärke Deutschlands bestand immer darin, eine top ausgebildete Bevölkerung zu haben. Jetzt sind wir in Europa unterdurchschnittlich geworden. Das ist die Wahrheit.

Der Punkt ist, dass Kinder aus ärmeren Familien besonders schlechte Chancen in unserem Bildungssystem haben. Das muss sich ändern.

(Beifall bei der LINKEN)

Deshalb müssen wir ganz andere Angebote machen, ob in Krippen, Kindertagesstätten, Schulen oder Unis. Dazu gehört auch ein kostenloses Mittagessen. Ich möchte nicht, dass Schulkinder in die Suppenküche gehen müssen. Das demütigt sie, das frustriert sie. Das können wir uns als eines der reichsten Länder der Erde nicht leisten.

(Beifall bei der LINKEN)

In dem Zusammenhang möchte ich auch darauf hinweisen, dass der Anteil der Kinder aus einkommensstarken Familien an den Studierenden enorm zugenommen hat. Dagegen ist der Anteil der Kinder aus einkommensschwachen Familien an den Studierenden von 23 auf 12 Prozent gesunken. Damit liegt bei uns der Anteil aus dieser Gruppe noch unter dem Niveau in den USA. Das ist doch nicht hinnehmbar.
Wir brauchen keine Studiengebühren. In Berlin gibt es keine Studiengebühren. Wissen Sie, was jetzt passiert, nachdem Hessen, Niedersachsen und viele andere Länder Studiengebühren eingeführt haben? Die Kinder aus ärmeren Familien kommen zum Studieren nach Berlin. Nun regen sich natürlich die Berliner Eltern auf, weil ihre Kinder hier keinen Platz mehr bekommen. So geht es nicht. Es darf in ganz Deutschland keine Studiengebühren geben, wenn wir Chancengleichheit bei der Bildung herstellen wollen.

(Beifall bei der LINKEN - Johannes Singhammer (CDU/CSU): Wir freuen uns über jeden, der kommt!)

Wir brauchen auch mehr Gesamtschulen. Bis zur zehnten Klasse können alle Kinder sehr wohl gemeinsam zur Schule gehen. Damit erhöhen sich nämlich die Bildungschancen für Kinder aus ärmeren Familien ganz gewaltig. Behaupten Sie bloß nicht, dass man da schlecht ausgebildet würde. Ihre Bundeskanzlerin hat eine Gesamtschule besucht; ich habe eine Gesamtschule besucht. Auf uns trifft vieles zu, aber nicht, dass wir schlecht ausgebildet wären. Das ist die Wahrheit.

(Beifall bei der LINKEN Paul Lehrieder (CDU/CSU): Große Unterschiede!)

Weiterhin müssen wir den Sonderfonds zur Stärkung der Kinder- und Jugendarbeit aufstocken. Das haben wir beantragt. Mindestens 150 Millionen Euro brauchen Bund, Länder und Kommunen jährlich. Schließlich muss auch das Kindergeld aufgestockt werden, in einem ersten Schritt auf 200 Euro. So können wir Kinderarmut bekämpfen. Jetzt werden Sie argumentieren, das alles sei nicht bezahlbar. Dazu sage ich Ihnen nur eines: Die Steuer- und Abgabenquote, also nicht nur die Steuerquote, beträgt in Deutschland 35,6 Prozent. Im EU-Durchschnitt unter Einschluss von Bulgarien, der Slowakei, von Estland etc. beträgt die Steuer- und Abgabenquote 40,8 Prozent.

(Johannes Singhammer (CDU/CSU): Also sollen wir Steuern erhöhen?)

Würden wir sie nur auf den EU-Durchschnitt anheben, hätten wir jährlich 120 Milliarden Euro Mehreinnahmen. Damit könnten wir all das bezahlen und Kinderarmut in Deutschland überwinden.

(Beifall bei der LINKEN Johannes Singhammer (CDU/CSU): Das ist interessant! Steuern rauf!)