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Foto: Rico Prauss

Große Koalition hat keine gesellschaftspolitische Vision

Archiv Linksfraktion - Rede von Dietmar Bartsch,

Rede zur Einbringung des Bundeshaushalts 2015 im Tagesordnungspunkt "Allgemeinen Finanzdebatte”. 

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Bundesfinanzminister, ich habe Ihnen aufmerksam zugehört und festgestellt, dass wir in Deutschland keine Probleme haben, wenn überhaupt, nur einige Aufgaben; unsere Nachbarn haben Probleme. Ich kann Ihnen eines versichern: Das hat mit der Lebenswirklichkeit vieler Menschen sehr, sehr wenig zu tun.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich will vorab darauf eingehen, dass Sie einen Etatentwurf ohne Neuverschuldung vorlegen. Ich sage: Respekt, und zwar deshalb, weil das mehrfach von Ihren Vorgängern angekündigt, aber nie erreicht worden ist. Das ist jetzt der Fall. Das ist für Linke, die die schwarze Null nicht als heilige Kuh anbeten, trotzdem sehr wohl ein Ereignis.

Die entscheidende Frage wird allerdings sein: Realisieren Sie das dann auch im Haushaltsvollzug? Denn das ist bei allen Entwürfen entscheidend. Und die zweite Frage ist ‑ darauf müssen wir genau achten ‑: Um welchen Preis wird die schwarze Null bzw. der Verzicht auf Neuverschuldung erzielt?

Ich will als Zweites unbedingt erwähnen, dass in kürzester Frist der zweite Haushaltsentwurf vorliegt. Dabei gebührt den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Ministerien, besonders auch im Finanzministerium, ganz herzlicher Dank. Sie haben Tolles auch für die Opposition geleistet. Ich will das deshalb voranschicken.

(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)

Meine Damen und Herren, die Linke kritisiert den Haushaltsentwurf aus folgenden Gründen:

Erstens. Dieser Haushalt ist das Gegenteil von verantwortungsvoller Politikgestaltung. Zentrale Herausforderungen der Politikgestaltung, das heißt die Modernisierung des Bildungswesens, der Infrastruktur und der Energienetze und die Überwindung des Investitionsstaus, finden sich im Haushalt nicht ausreichend wieder. Die Investitionsquote stagniert in Deutschland seit Jahren. Seit zehn Jahren liegen wir ‑ teilweise um 2 bis 3 Prozent ‑ unter dem europäischen Durchschnitt.

Was Sie hier dargestellt haben, ist real nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Selbst das DIW mahnt: Die marode Infrastruktur wird zur Gefahr für die Wirtschaft in Deutschland. Die Bruttoinlandsinvestitionen des Staates sind geringer als die Abschreibungen. Jedes Unternehmen, das so agieren würde, wäre in einigen Jahren in Konkurs gegangen. Aber Sie betreiben diese Politik seit einigen Jahren. 120 Milliarden Euro müssten in den nächsten Jahren investiert werden. Aber Sie tun viel zu wenig.

Jährlich verfällt in Deutschland Infrastruktur im Wert von 4 Milliarden Euro. Es reicht deshalb nicht aus, Herr Schäuble, zu sagen: Die Rendite ist für Unternehmen das Entscheidende. Nein, die Rendite kann nicht der ausschlaggebende Punkt sein. Investitionen in die Infrastruktur sind für die Menschen in diesem Lande wichtig.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Bei Ihnen finden Investitionen derzeit vor allen Dingen auf einem Feld statt: Sie reden über die Dobrindt-Maut, und Sie sprechen hier von Verlässlichkeit und Vertrauen. Angesichts der Maut muss ich feststellen: Das, was Sie hier aufführen, ist Kasperletheater.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Es ist konzeptionslos, ein bürokratisches Monster und verschlingt öffentliche Mittel. Was es bringen wird, weiß kein Mensch. Sie verärgern sogar unsere ausländischen Nachbarn, und zwar nicht nur in West und Süd, sondern auch im Osten. Das ist doch ein Riesenproblem, und das hat überhaupt nichts mit Vertrauen zu tun.

(Beifall bei der LINKEN)

Jetzt sind Ihre Begründungen: Seehofer muss liefern. Sie wollen nicht das Schicksal der FDP teilen. ‑ Was sind das denn für Argumente bei diesem doch so wichtigen Thema? Hören Sie auf mit diesem Unsinn! Die Kanzlerin hat doch im Rededuell mit Steinbrück gesagt: Die Maut wird nicht kommen. Das war doch eine richtige Äußerung. Jetzt wird in den Debatten darüber dauernd der Koalitionsvertrag als Begründung genannt. Aber ob ich die Wehrpflicht, den Atomausstieg oder Ähnliches nehme: Sie haben schon oft Koalitionsverträge gebrochen. Hören Sie auf mit dem Unsinn der Maut! Das verärgert nur die Menschen in diesem Land.

(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Zweitens. Haushaltsrisiken scheinen für Sie ein Fremdwort zu sein. Im Koalitionsvertrag heißt es: „Unser Grundsatz heißt: ‚Kein Finanzmarkt, kein Finanzprodukt, kein Finanzmarktakteur ohne Aufsicht‘.“ Das Gegenteil ist der Fall. Die Sparkassen und Volksbanken regulieren Sie. Die müssen immer mehr Leute einstellen und werden schon irre ob der Regulierung. Aber bei den Großen rollt die Kasinokugel weiter. Bei den Investmentbankern haben Sie fast nichts gemacht.

(Beifall des Abg. Dr. Diether Dehm (DIE LINKE))

Sie können doch nicht die Kleinen totregulieren und bei den anderen mehr oder weniger nichts machen. Das ist doch ein Riesenproblem.

(Beifall bei der LINKEN)

Nun war gestern wieder von der Finanztransaktionsteuer die Rede. Es ist wunderbar, dass hier noch mehr Druck entsteht. Wir haben das damals in den Bundestag eingebracht. Tun Sie etwas auf europäischer Ebene! Sie haben unsere Unterstützung. Wann wird die Transaktionsteuer endlich eingeführt? Dann kommt doch Geld in die Kassen, und die Transaktionen auf dem Finanzmarkt werden etwas verlangsamt.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Kommen wir zu den Haushaltsrisiken. Wenn ich das richtig gelesen habe, ist das Bruttoinlandsprodukt in Deutschland im zweiten Halbjahr zurückgegangen. Ist das kein Problem? Die Bauinvestitionen sind um 4,2 Prozent zurückgegangen. Im Bereich der Ausrüstungen ist ein Rückgang um 0,4 Prozent zu verzeichnen. Der Ifo-Geschäftsklimaindex ist zum dritten Mal in Folge gefallen. Das sind doch reale Probleme und Risiken. Im Übrigen führen die Wirtschaftssanktionen gegen Russland, die wir für grundsätzlich falsch halten, natürlich dazu, dass die Exporte nach Russland zurückgegangen sind, insbesondere in den neuen Bundesländern. In meinem Heimatland Mecklenburg-Vorpommern sind beispielweise die Exporte von Fleisch, Milch, Gemüse und Käse deutlich zurückgegangen. Das ist ein Problem. Das muss man wenigstens reflektieren.

(Beifall bei der LINKEN)

Das Agieren Deutschlands in den aktuellen Krisenherden wie dem im Irak macht deutlich - ich will auf die politische Debatte gar nicht detailliert eingehen -: Das wird immens viel Geld kosten. Dieses Geld ist teilweise völlig falsch angelegt. Zu diesem Schluss komme ich insbesondere dann, wenn ich mir die Debatte vor Augen führe, dass der Verteidigungsetat ob dieser Risiken erhöht werden soll.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Mit diesem Kurs gefährden Sie aufs Gröbste die Zukunft des Landes.

(Beifall bei der LINKEN)

Drittens. Sie haben keine gesellschaftliche Vision von unserem Land. Sie versprechen im Koalitionsvertrag: „Unser Maßstab für eine erfolgreiche Politik ist die Lebensqualität der Menschen ...“ Wenn dem doch nur so wäre, dann wäre es wunderbar.

(Johannes Kahrs (SPD): Es ist wunderbar!)

Aber vieles, was Sie im Koalitionsvertrag niedergeschrieben haben, bleibt folgenlos, wird wie zum Beispiel bei der Mütterrente völlig falsch finanziert oder führt, wie das Betreuungsgeld zeigt, zu den vorausgesagten völlig negativen Entwicklungen.

(Beifall bei der LINKEN)

Sie haben versprochen: „Wir wollen: Gute Arbeit für alle ‑ sicher und gut bezahlt“. Was sagen Sie den 2,9 Millionen Arbeitslosen und insbesondere den über 1 Million Langzeitarbeitslosen in diesem Land, deren Zahl im Vergleich zum vergangenen Jahr um 1 Prozent gestiegen ist, oder den 500 000 Menschen, die im Alter oder aufgrund von Erwerbsminderung auf Grundsicherung angewiesen sind? Nennen Sie das gute Lebensqualität der Menschen? Nein, das kann man nicht so nennen. Das hat überhaupt nichts mit Gerechtigkeit zu tun.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Außerdem geht die Schere zwischen Arm und Reich in unserem Land immer weiter auseinander. Wenn die 500 reichsten Deutschen über ein Vermögen von 615 Milliarden Euro verfügen ‑ das ist das Doppelte des Bundeshaushalts -, dann wissen Sie genauso gut wie ich, dass da etwas nicht in Ordnung ist. Da muss man doch etwas tun. Angesichts dessen muss man doch über Verteilungsgerechtigkeit reden.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Man kann dann nicht einfach sagen: Steuern erhöhen wir auf keinen Fall. - Vielmehr muss man diese Vermögenden zur Kasse bitten. Wie ich höre, denken Sie über die Abschaffung des Solidaritätszuschlags nach. Darüber kann man sicherlich reden. Aber das muss gegenfinanziert werden, und zwar von denjenigen, die von der Krise profitiert haben. Bei diesen ist schließlich etwas zu holen.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Was ist denn daran gerecht, wenn in den vergangenen 15 Jahren die Produktivität um 16 Prozent gestiegen ist, die Tariflöhne aber statistisch gesehen nur um 10 Prozent zugelegt haben? Da läuft doch etwas schief. Die Vermögen werden immer größer. Ein Drittel der Menschen hat kein Vermögen oder hat Schulden, während 1,1 Millionen Menschen Vermögensmillionäre sind. Da ist etwas schief in Deutschland. Die Schere geht immer weiter auseinander. Angesichts dessen darf man nicht nur zuschauen, sondern muss etwas dagegen tun, auch im Haushalt.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Sie sagen immer: Der soziale Etat ist der größte, und wir tun doch so unsagbar viel.

(Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU): Ja, mehr als die Hälfte!)

- Ja, es ist richtig, dass der Sozialetat mehr als die Hälfte des Bundeshaushalts ausmacht. Das wissen die Haushälter aller Fraktionen.

(Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU): Dann sagen Sie es doch mal!)

Das ist das Ergebnis von Politik. Diese hohen Sozialkosten sind das Ergebnis Ihrer Politik, die so viel Bedürftigkeit und Not produziert. Das ist die Ursache für diesen hohen Etat.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) - Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU): Was ist das denn für eine Argumentation?)

Haushaltspolitik darf nicht einer imaginären schwarzen Null geopfert werden. Eine Politik um der schwarzen Null willen, die die Schulden von heute in kaputte Städte und Gemeinden, marode Gesundheits‑, Kultur- und Bildungseinrichtungen unserer Enkel tauscht, ist der falsche Weg. Es ist keine Neuverschuldung notwendig, wir können das finanzieren, wenn wir eine andere Steuerpolitik betreiben. Wir wollen keine allgemeinen Steuererhöhungen und auch nicht den Weg in den Schuldenstaat beschreiten. Das Gegenteil ist der Fall.

Lassen Sie uns die Haushaltsberatungen nutzen, damit sinnvolle Vorschläge Ihren Entwurf hin zu mehr sozialer Gerechtigkeit relevant verändern können.

Danke schön.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)