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Gregor Gysi: Religions- und Glaubensfreiheit müssen unverletzlich sein

Archiv Linksfraktion - Rede von Gregor Gysi,

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal möchte ich mich dafür entschuldigen, dass ich nach der Rede leider gehen muss, weil ich auf einer Europakonferenz meiner Fraktion zu sprechen habe.

(Volker Kauder [CDU/CSU]: Bleiben Sie lieber hier!)

Es handelt sich also nicht darum, dass mich das nicht interessiert, und ich verspreche Ihnen auch: Alle Reden zu diesem Debattenpunkt werde ich anschließend lesen.

Wenn wir über Religions- und Glaubensfreiheit diskutieren, müssen wir auch die europäische Geschichte betrachten. Sie alle wissen: Im Mittelalter, vom 11. bis zum 13. Jahrhundert, gab es entsetzliche Kreuzzüge. Gewaltsam wurde das Christentum durchgesetzt. Wenn heute über Flüchtlinge gesprochen wird, sollten wir auch an andere Teile der europäischen Geschichte denken: Es waren die Europäerinnen und Europäer, die Nord-, Mittel- und Südamerika besetzten und die indigene Bevölkerung zum Teil grausam umbrachten und unterdrückten. Sie brachten ihre Sprachen – Englisch, Spanisch, Portugiesisch – auf den amerikanischen Kontinent und setzten ihre Sprachen, ihre Kultur und ihre Religion durch. Es waren Europäerinnen und Europäer, die Australien besetzten und ihre Sprache, Kultur und Religion gegenüber den Aborigines gewaltsam durchsetzten. Und die Kolonien?

Trotz der gegenteiligen Unkenrufe von ganz rechts: Eine solche Gefahr besteht für Europa gegenwärtig überhaupt nicht.

(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Nach den demokratischen Revolutionen in Europa wurde die Religions- und Glaubensfreiheit zu einem wichtigen Gut – allerdings mit wesentlichen Einschränkungen, wenn ich an die zahllosen Pogrome gegen Menschen jüdischen Glaubens in vielen europäischen Ländern und die millionenfache Ermordung von Jüdinnen und Juden durch Nazideutschland denke. In der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen wurde die Religions- und Glaubensfreiheit nach 1945 als allgemeines Menschenrecht weltweit gefordert. Dazu gehört auch, dass Religion freiwillig ist – wie Sie es gesagt haben, Herr Kauder –, man sich also auch entscheiden darf, nicht religiös zu sein.

(Beifall bei der LINKEN)

In vielen Verfassungen wird seit dieser Zeit die Religions- und Glaubensfreiheit garantiert. Aber die Praxis sah und sieht anders aus. Die staatssozialistischen Länder zum Beispiel benachteiligten einen Teil der gläubigen Menschen und gewährten ihnen keine Chancengleichheit. Unvergleichlich und viel schlimmer erleben wir die Verhältnisse heute: Al-Qaida und der „Islamische Staat“ verfolgen und jagen Schiiten, also andere Muslime, Jesidinnen und Jesiden sowie Christinnen und Christen. Ich hätte wirklich nicht geglaubt, in meinem Leben eine solche Verfolgung von Christinnen und Christen noch zu erleben; aber sie geschieht auf barbarische und brutale Art und Weise.

Die Welt ist aber gelegentlich verkehrt gestrickt. Wenn Sie auch mit Assad nicht reden: Er schützt die Christinnen und Christen, während andere in Syrien sie jagen und verfolgen. – Und in Europa? In Europa gibt es eine immer stärkere Diskreditierung von Menschen islamischen Glaubens. Das widerspricht klar dem Stand unserer demokratischen und kulturellen Zivilisation.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir müssen die Religions- und Glaubensfreiheit auch für Menschen islamischen Glaubens garantieren. Allerdings wird der Islam auch von Extremisten missbraucht, um Gewalt zu rechtfertigen. Diesen Missbrauch hat es vor einigen Jahrhunderten, wie dargestellt, auch im Hinblick auf das Christentum gegeben. Schon deshalb müssen wir entschieden gegen diesen Missbrauch der Religion auftreten.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich wünsche mir, dass gerade die Organisationen friedlicher Muslime in Deutschland sich so entschieden wie möglich in Verlautbarungen, auf Demonstrationen und Kundgebungen von diesem Missbrauch ihrer Religion distanzieren und ihn verurteilen.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Die AfD erklärt, dass der gesamte Islam nicht zu Deutschland gehöre. Sie beschränkt sich nicht auf den politischen Islam, auf den Missbrauch der Religion, sondern will eine gesamte Religion ausschließen. Sie will Minarette, Schleier und Muezzinrufe verbieten. – Zu den Schleiern werde ich noch etwas sagen. – Außerdem will sie Spenden aus dem Ausland zum Bau von Moscheen verbieten. Da nach dem Grundgesetz Menschen, aber auch Religionsgemeinschaften gleichzubehandeln sind, bedeutete das auch das Verbot von Spenden für den übrigen Kirchenbau. Wenn man allein an das Verhältnis unserer katholischen Kirche zum Vatikan oder an das Verhältnis der russisch- und griechisch-orthodoxen Kirchen zu Russland und Griechenland denkt, wird einem die Absurdität und Abenteuerlichkeit dieser Idee sofort klar.

(Beifall bei der LINKEN)

Die anderen Forderungen der AfD verletzen eindeutig und schwer den Artikel 4 Absatz 1 und 2 unseres Grundgesetzes. Ich zitiere wörtlich Absatz 1:

"Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich."

Absatz 2:

"Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet."

Stellen Sie sich vor, die AfD käme umfassend an die Macht. Sie müsste entweder Artikel 4 Absatz 1 und 2 des Grundgesetzes streichen, oder, wie die polnische Führung das polnische Verfassungsgericht, das Bundesverfassungsgericht entmündigen – dieses Gericht würde Gesetze zur Einschränkung oder zum faktischen Verbot der Ausübung einer Religion immer als grundgesetzwidrig aufheben –, oder sie müsste das Bundesverfassungsgericht ganz abschaffen. Als nichtreligiöser Mensch sage ich Ihnen heute: Gott sei Dank wird die AfD einen solchen weitgehenden Einfluss wohl nicht bekommen.

(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Eine Bitte an die Medien: Wenn man in den Medien Muslime sieht und hört, dann rufen sie entweder so laut nach Allah, dass manche Menschen bei uns Angst bekommen, oder sie sprengen sich als Selbstmordattentäter in die Luft. Wie wäre es damit, einmal die Millionen friedlich betender, arbeitender und gastfreundlicher Muslime zu zeigen, die sich um ihre Kinder, ihre Angehörigen, ihre Freundinnen und Freunde kümmern?

(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das ist keine Nachricht? Ich glaube, es wäre zurzeit eine besonders wichtige Nachricht.

Noch etwas zur Kleidung. Ich denke an das Kopftuch und die Burka. Also, wenn es nicht unbedingt nötig ist, sollte sich der Staat nicht in Kleiderfragen seiner Bürgerinnen und Bürger einmischen.

(Beifall bei der LINKEN)

Wenn Mädchen und Frauen ihre Kopftücher tragen wollen, dann ist das ihre Angelegenheit. Wenn sie dazu aber gezwungen werden, dann müssen wir sie schützen.

(Beifall bei der LINKEN)

Dasselbe gilt für die Burka, auch wenn ich Menschen lieber ins Gesicht sehe. Allerdings muss es hier – auch wenn die Burka freiwillig getragen wird – Einschränkungen geben: Erzieherinnen, Lehrerinnen, Beschäftigte im öffentlichen Dienst mit Publikumsverkehr, Richterinnen, Staatsanwältinnen, Notarinnen, Rechtsanwältinnen und andere müssen bei ihrer Arbeit ihr Gesicht zeigen: für die Kinder, für andere Bürgerinnen und Bürger, für die Öffentlichkeit. Außerdem gibt es Kontrollen, bei denen das Gesicht gezeigt werden muss.

Mit anderen Worten: Das Notwendige müssen wir regeln und ansonsten die Freiheit der Menschen, einschließlich der Religions- und Glaubensfreiheit sowie des Rechts auf Freiheit von der Religion, achten.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Es gilt, diese Freiheit in Deutschland durchzusetzen und dafür weltweit zu streiten. Für Menschenrechte kann man sich nicht je nach politischen Gegebenheiten einsetzen, wie es die Bundesregierung macht. Sie schweigt zu vielen Menschenrechtsverletzungen von Erdogan, und in anderen Fällen nutzt sie Menschenrechtsverletzungen sogar als Begründung für militärische Aktionen. Das ist höchst unglaubwürdig.

(Beifall bei der LINKEN)

Für Menschenrechte muss man sich immer und gegenüber jedermann einsetzen, sonst wird man diesbezüglich unglaubwürdig.

(Beifall bei der LINKEN)