Vizepräsident Cronenberg: Nun erteile ich dem Abgeordneten
Dr. Gysi das Wort.
Dr. Gysi (PDS): Herr Präsident! Meine Damen und
Herren! Sie ahnen, daß ich für die Abgeordneten der
PDS spreche. Gestatten Sie mir dazu einige wenige
Bemerkungen: Die SED ist eine Partei, die zunächst
zweifellos aus antifaschistischen Parteien hervorgegangen
war. Der DDR und der SED wurde nach dem
Zweiten Weltkrieg und dem Kalten Krieg ein poststalinistisches
System übergestülpt; und wir haben es
uns überstülpen lassen.
(Dr. Ing. Kansy [CDU/CSU]: Das haben Sie
sich selber übergestülpt!)
Das war unter anderem allerdings auch deshalb möglich,
weil es damals Kräfte gab, die nicht den Kompromiß
suchten, sondern das halbe Deutschland ganz
wollten.
Diese SED trug eindeutig die Hauptverantwortung
für undemokratische und den individuellen Freiheiten
widersprechende Systeme und Strukturen. Sie
trug sie nicht allein, auch andere Parteien waren
daran beteiligt.
(Beifall bei Abgeordneten der PDS, der SPD
und der GRÜNEN)
Aber die Parteien selbst waren undemokratisch organisiert,
d. h es gab immer einen großen Widerspruch
zwischen Führung und Mitgliedschaft.
In der SED waren 2,3 Millionen Mitglieder, darunter
nicht wenige ältere, die zwischen 1933 und 1945 gegen
die faschistische Diktatur gekämpft und unter ihr
gelitten hatten. Sie wurden mit vielen anderen Mitgliedern
auch um ihre Ideale betrogen und versuchen
nun zum Teil, ihnen in der PDS wieder gerecht zu
werden, nachdem sie eine korrupte Führung ausgeschlossen
und sich zu neuen Zielen bekannt haben.
Wir stehen zu der Geschichte und der Verantwortung.
(Zurufe von der CDU/CSU: Modrow!)
Das macht den Weg sehr viel schwieriger, aber auch
ehrlicher. Damit steht vor uns in besonderem Maße
ein Problem, das vor vielen ehemaligen Bürgerinnen
und Bürgern der DDR sicherlich für viele wesentlich
schwächer, aber doch ähnlich steht: Es geht um eine
gerechte und differenzierte Beurteilung der Geschichte
der DDR und ihrer ehemaligen Bürgerinnen
und Bürger, also um die Einschätzung von Fehlentwicklungen,
von Undemokratischem, von Verbrecherischem,
von Uneffizientem, von Unökologischem,
aber auch um den Beitrag zur Friedens-, Abrüstungsund
Entspannungspolitik, um den Abbau von sozialen
Unterschieden und um bestimmte soziale und rechtliche
Leistungen. Es sollte ab jetzt alles unterlassen
werden, was das Selbstvertrauen ehemaliger Bürgerinnen
und Bürger der DDR weiter untergräbt, was
es ihnen schwer oder unmöglich macht, zu ihrer eigenen
Biographie zu stehen, daß sie schon nach eigenem
Empfinden Bürger zweiter Klasse sind.
Wenn sich hier Psychologisches und Soziales als
Minderwertiges auch noch koppelt, dann kann das
nicht ungefährlich sein.
(Beifall bei der PDS)
Dazu können auch Gesten gehören. Ich finde, es gibt
hier so manche falschen Gesten. Wenn z. B. fünf ehemalige
DDR-Politiker heute zu Ministern ernannt
werden und gleichzeitig gesagt wird, daß sie eigentlich
keine Aufgabe haben, dann ist das so eine falsche
Geste.
(Beifall bei der PDS und den GRÜNEN sowie
bei Abgeordneten der SPD — Zuruf von der
CDU/CSU: Sie haben auch keine Auf
-
gabe!)
—Es ist nur scheinbar großzügig und besagt doch, daß
sie eigentlich überflüssig sind.
(Zuruf von der CDU/CSU: Die PDS ist über
flüssig!)
—Das kann ja unbestritten sein.
Wenn ich sehe, wie wir hier ohne Tisch sitzen, dann
freue ich mich, daß es gerade Vizepräsident Stücklen
war, der mir gesagt hat, daß das beseitigt wird und daß
das nicht der Stil sein soll.
(Beifall bei Abgeordneten der PDS — Zurufe
von der CDU/CSU und der FDP)
Es geht ebenfalls nicht, daß wir durch eine Fernsehsendung
erfahren, daß es Radaranlagen in der Bundesrepublik
gibt — ich nehme übrigens an: auch in
der früheren DDR — , die eine Ausstrahlung haben, so
daß die Bediener an Krebs erkranken. Deshalb sei die
Entscheidung getroffen worden, sie an die Oder zu
verlegen. Das, glaube ich, ist genau der falsche Weg.
So kann das nicht laufen.
(Beifall bei der PDS — Zurufe von der CDU/
CSU)
Ich warne auch davor, die Auseinandersetzung mit
der Geschichte der ehemaligen DDR zu nutzen, um
die Bundesrepublik Deutschland zu glorifizieren. Das
nützt niemandem. Es gibt auch hier sozial Schwache
und Arme. Es gibt auch Ausgegrenzte. Es ist in diesem
Gesamtdeutschland auch an sozialer, psychologischer,
kultureller und politischer Entwicklung viel zu
tun.
(Beifall bei der PDS und bei Abgeordneten
der GRÜNEN)
Ich finde auch, daß man ehrlich und konsequent
sein muß und daß man die Verhältnisse danach ausrichten
sollte.
(Frau Schulte [Hameln] [SPD]: Geld ablie
fern! — Zurufe von der CDU/CSU)
18044 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Oktober 1990
Dr. Gysi
Ich werde Ihnen ein Beispiel nennen. Es gibt keine
Fraktion, die z. B. den Präsidenten der Sowjetunion,
Gorbatschow, hinsichtlich seiner Leistungen nicht
würdigt. Aber es gehört der Ehrlichkeit halber hinzu,
daß es in der Bundesrepublik Länder gibt, wo er mit
seiner Biographie nicht einmal Postbote werden
könnte. Das gehört eben dazu. Ich finde, da muß einiges
geändert werden.
(Beifall bei der PDS — Lachen bei der CDU/
CSU — Dr. Weng [Gerlingen] [FDP]: Will er
das denn?)
Ich will die Regierungserklärung des Bundeskanzlers
nutzen, um zu einer Frage, nämlich zu den Massenvernichtungswaffen,
zu sprechen. Ich glaube, daß
der Abbau des Ost-West-Konflikts eine wirklich einzigartige
Chance in sich birgt, diese Gefahr für die
gesamte Zivilisation loszuwerden.
Vizepräsident Cronenberg: Herr Abgeordneter Dr.
Gysi, es wird eine Zwischenfrage des Abgeordneten
Wetzel an Sie erbeten. Sind Sie bereit, sie zu beantworten?
Dr. Gysi (PDS) : Geht das von meiner Zeit ab?
Vizepräsident Cronenberg: Nein, das nehme ich Ihnen
nicht von Ihrer Zeit weg, Herr Dr. Gysi.
Dr. Gysi (PDS): Bitte.
Vizepräsident Cronenberg: Bitte sehr, Herr Abgeordneter.
Wetzel (GRÜNE) : Herr Abgeordneter Gysi, ich bitte
um Entschuldigung, daß ich mit einer gewissen Verzögerung
auf diesen Punkt zu sprechen komme. Aber
es ist noch etwas schwierig, Herr Präsident, die Kommunikation
zwischen Präsidium und Plenarsaal herzustellen.
Das hängt von den etwas unglücklichen
Räumlichkeiten ab.
Vizepräsident Cronenberg: Erstens ist das richtig,
und zweitens pflege ich den Redner nicht mitten im
Satz zu unterbrechen. Nun fragen Sie.
Wetzel (GRÜNE): Herr Gysi, Sie haben gerade ein
Plädoyer für Ehrlichkeit in der Politik gehalten. Wie
steht es mit dem unrechtmäßig erworbenen Vermögen
der PDS? Sind Sie bereit, das zurückzugeben?
(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und den
GRÜNEN)
Dr. Gysi (PDS): Wir könnten jetzt eine längere Debatte
darüber führen.
(Zurufe von der SPD: Nein!)
75 % unseres Eigentums sind schon zurückgegeben
worden; das wissen Sie.
(Widerspruch bei der CDU/CSU, der FDP
und der SPD — Roth [SPD]: Überweisungen
habt ihr gemacht! — Weitere Zurufe von der
SPD — Zurufe von der CDU/CSU)
— Meine Damen und Herren von der SPD, Sie hätten
mir ja imponiert, wenn Sie bei Ihren früheren engen
Kontakten zur SED dort einmal diese Forderung gestellt
hätten.
(Große Heiterkeit und Beifall bei der PDS,
der CDU/CSU und der FDP — Zurufe von der
SPD)
Wir werden auch weiterhin darüber verhandeln. Es
gibt ja auch Kommissionen, die sich damit beschäftigen.
Ich möchte auf das Thema Massenvernichtungswaffen
zurückkommen und darauf hinweisen, daß der
Atomwaffensperrvertrag 1995 ausläuft. Ich mache
mir Sorgen, daß, wenn es bis dahin nicht gelungen ist,
die Atomwaffen in der ersten Welt abzuschaffen, auch
eine Legitimation des Wunsches in der Dritten Welt
nach Atomwaffen entstehen könnte. Es scheint mit
deshalb wichtig zu sein, diese einmalige Chance des
Abbaus des Ost-West-Konflikts zu nutzen, um wirklich
mit den Massenvernichtungswaffen Schluß zu
machen, damit aus diesem Konflikt keine neue Konstellation
bei diesen Waffen im Verhältnis der ersten
Welt zur Dritten Welt entsteht. Das wäre für die gesamte
Zivilisation lebensgefährlich.
Ich will auch etwas zu dem Verhältnis zu den Nachbarvölkern
sagen. Ich glaube, man kann Deutschland
nicht gefahrlos als Kernland bezeichnen, ohne damit
eine ganz bestimmte Rolle anzustreben, nämlich eine
sehr globale Großmachtrolle. Wer das Wort „Großmacht"
benutzt, kann schon nicht mehr von gleichberechtigten
Völkern in Europa sprechen.
(Zustimmung bei der PDS)
Wer ein gutes Verhältnis zu Polen will, kann die deutsche
Einheit nicht nutzen, um die Grenzen zu Polen
fast zu schließen.
(Beifall bei der PDS und den GRÜNEN sowie
bei Abgeordneten der SPD)
Ich habe mit Interesse die Ausführungen des Herrn
Bundeskanzlers zur Frage der verdeckten Arbeitslosigkeit
gehört. Ich frage mich nur, weshalb die offene
so viel besser sein soll.
(Beifall bei der PDS)
Es gibt auch Menschen, die vielleicht nicht ganz so
flexibel und dynamisch sind und denen gegenüber
eine Gesellschaft auch Verantwortung trägt. Ich kann
nicht verstehen, weshalb der Landwirtschaft, der Industrie
und auch vielen Menschen nicht die notwendige
Übergangszeit gewährt worden ist. Es kann doch
wohl nicht wirtschaftlich sinnvoll sein, erst alles auf
Null zu fahren oder erheblich zu gefährden, um es
dann durch Investitionen wieder aufbauen zu wollen.
(Zuruf von der FDP: Sie haben es doch auf
Null gefahren!)
— Nein, der Anteil von dieser Seite ist jetzt schon
beachtlich. Die Art und Weise, wie die Wirtschafts-,
die Währungs- und die sogenannte Sozialunion
durchgeführt wurde, hat ihre durchaus eigene Wirkung.
Das ist ziemlich unstrittig.
(Beifall bei der PDS und den GRÜNEN)
In diesem Zusammenhang kann man auch keinen
Länderfinanzausgleich festlegen, in dem jetzt festgeDeutscher
Bundestag — 11. Wahlperiode — 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Oktober 1990 18045
Dr. Gysi
schrieben wird, daß die östlichen Länder auf lange
Frist benachteiligt werden.
Viele fragen, was dieser schnelle Anschluß kostet.
Ich frage, wer eigentlich wieviel daran verdient.
(Beifall bei der PDS)
Ich möchte darauf hinweisen, daß der Einigungsvertrag
eine Besonderheit enthält. Hinsichtlich einiger
sozialer Regelungen stand man vor der Frage,
was man mit ihnen machen soll, weil sie weitergehender
als die entsprechenden Vorschriften in der damaligen
Bundesrepublik waren. Man hat sich entschieden,
sie teils abzuschaffen, sie anderenteils unverändert
zu lassen, und zwar bef ristet. Dies ist als eine Art
Privileg für Bürgerinnen und Bürger der ehemaligen
DDR gedacht. Ich nenne z. B. das Krankengeld bei
einer Erkrankung der Kinder und viele andere Dinge.
Diese Übergangsregelungen sollen nach und nach
auslaufen. Ich kann Ihnen für die Abgeordneten der
PDS versprechen, daß wir darum ringen werden, daß
solche sozialen Regelungen nicht auslaufen, sondern
daß sie in ganz Deutschland Geltung haben, damit
dann auch alle Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik
etwas davon haben. Es muß nicht schlecht
sein, z. B. in den Genuß von mehr Kindergeld, mehr
Krankengeld bei Erkrankung der Kinder oder anderer
sozialer Vergünstigungen zu kommen, nur weil die
entsprechenden Vorschriften aus der DDR stammen.
(Beifall bei der PDS)
Ich finde auch, daß es an der Zeit ist, über bestimmte
Fragen einer modernen Gesellschaft neu nachzudenken.
In eine solche moderne Gesellschaft passen weder
§ 175 noch § 218 des Strafgesetzbuchs.
(Beifall bei der PDS und den GRÜNEN)
In dieser Frage sollte es auch kein Zurück geben.
Man sollte den Bürgerinnen und Bürgern der ehemaligen
Bundesrepublik und den Bürgern der ehemaligen
DDR die Chance geben, gleichberechtigt und in
Würde aufeinander zuzugehen. Man sollte nicht von
vornherein eine Rollenverteilung vornehmen, die der
künftigen Entwicklung nur schaden kann.
Ich will auch daran erinnern, daß wir meines Erachtens
eine Entsolidarisierung der Lohnabhängigen
nicht zulassen dürfen und daß es einfach darum geht,
entsprechende Gemeinsamkeiten festzustellen und
auch herzustellen sowie gemeinsam, wenn ich es einmal
so sagen darf, auch Kämpfe der Zeit zu führen.
Das Parlament ist weiß Gott nicht alles in einem Land,
aber es ist in gewisser Hinsicht auch Ausdruck der
Kultur und der Würde, die in einem Land generell
vertreten ist.
(Zurufe von der CDU/CSU)
— Sie können uns viel vorwerfen, aber nicht, daß wir
uns bisher hier nicht kultur- und würdevoll benommen
haben. Das können Sie nicht sagen.
(Dr. Bötsch [CDU/CSU]: 40 Jahre lang
nicht!)
Wenn ich erlebe, in welcher Art und Weise Sie nicht
zuhören und Zwischenrufe machen, von denen Sie
wissen, daß sie sowieso keiner versteht und sie deshalb
auch nicht beantwortet werden können, dann
frage ich mich, ob das wirklich das Bild ist, das wir
abgeben sollten.
(Beifall bei der PDS — Widerspruch bei der
CDU/CSU, der FDP sowie bei Abgeordneten
der SPD)
Lassen Sie uns hier lieber ein Bild der ernsthaften und
sachlichen Auseinandersetzung entwerfen. Das alles
sollte mit ein bißchen mehr Würde, ein bißchen mehr
Toleranz und vor allem ein bißchen mehr Kultur verbunden
sein.
Danke schön.
(Beifall bei der PDS)
Vizepräsident Cronenberg: Ihre Redezeit ist nicht
abgelaufen. Sie haben noch die Möglichkeit, eine
Frage des Abgeordneten Stratmann-Mertens zu beantworten.
— Bitte sehr, Herr Abgeordneter.
Stratmann-Mertens (GRÜNE): Herr Gysi, wenn Sie
ganz bewußt ein Plädoyer im ersten gesamtdeutschen
Parlament für Kultur und Würde halten, dann frage
ich Sie, Bezug nehmend darauf, daß Sie unmittelbar
nach Ihrer Wahl zum Vorsitzenden der damaligen
SED-PDS in einem ZDF-Interview und zuletzt in einem
Streitgespräch mit mir Pfingsten dieses Jahres
den Bau der Mauer nachträglich öffentlich legitimiert
haben, u. a. mit dem — öffentlichen — Verweis darauf,
daß es historische Situationen gebe, wo Maßnahmen
wie die Einmauerung einer gesamten Bevölkerung
notwendig seien: Wie ist diese öffentliche Legitimation
des Mauerbaus durch Sie persönlich mit Kultur
und Würde zu verbinden?
(Beifall bei den GRÜNEN, der CDU/CSU
und der FDP sowie bei Abgeordneten der
SPD)
Dr. Gysi (PDS): Herr Abgeordneter, Sie haben mich
mißverstanden.
(Widerspruch bei Abgeordneten der FDP)
— Was ich sage, entscheide immer noch ich selbst. Sie
entscheiden schon fast alles andere.
Es ging um eine andere Frage. Ich wiederhole es
auch hier. Ich habe gesagt: Erstens kann man diese
ganze Geschichte nicht ohne den Gesamtzusammenhang
in Europa, den Kalten Krieg und die Teilung in
Warschauer Vertrag und NATO sehen.
Zweitens habe ich gesagt: Was ich der Führung am
meisten übelnehme, ist, daß sie nicht ab 14. August
darauf hingearbeitet hat, diese Mauer zu beseitigen,
sondern darauf hingearbeitet hat, sie über Jahrzehnte
zu verfestigen. Ich bleibe dabei, daß dies einer der
größten politischen Fehler war — von anderen ganz
abgesehen, die später noch hinzukamen, insbesondere
nach 1985 und den Reformen in der Sowjetunion.
(Beifall bei der PDS — Frau Matthäus-Maier
[SPD]: Das war keine Antwort!)
Vizepräsident Cronenberg: Herr Abgeordneter,
nun ist es soweit, daß Ihre Redezeit wirklich abgelaufen
ist.