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Gleiche Chance für alle, zügig eine lebensrettende Transplantation zu erhalten

Archiv Linksfraktion - Rede von Gregor Gysi,

Gregor Gysi in der ersten Beratung der fraktionsübergreifenden Gruppeninitiative für ein Gesetz zur Regelung der Entscheidungslösung im Transplantationsgesetz

Herr Präsident! Meine Damen und Herren!

In kaum einem anderen Bereich hängen Fragen von Leben und Tod, Verzweiflung und Hoffnung, Freud und Leid so eng zusammen wie bei der Organspende und der Organtransplantation. Es geht um grundsätzliche Fragen der Ethik, um moralische Maßstäbe, aber auch um Grundsätze der Religion. Im Gesundheitswesen gibt es zweifellos viele sehr grundsätzliche Probleme, um die es aber heute nicht geht. Heute sprechen wir über Organspenden und  transplantationen.

Es gibt bei einigen Bedenken, dass Menschen, die Organe spenden, grob gesagt, als eine Art Ersatzteillager missbraucht werden. Ich frage mich: Was sagen solche Menschen Frank-Walter Steinmeier und seiner Frau? Warum soll er nicht berechtigt sein, das Leben seiner Frau zu retten, die er liebt? Warum soll sie nicht berechtigt sein, diese Spende anzunehmen? Ich sehe dafür keinen Grund.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN, der CDU/CSU, der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Aber selbst wenn man sagt: „Ich meine das nicht in Bezug auf Lebende, sondern nur in Bezug auf Tote“, frage ich mich: Was sagen diejenigen den jährlich etwa 1 000 Kranken in Deutschland, die mangels Organtransplantation sterben? Was sagen sie den 12 000 Personen, die auf Wartelisten stehen und noch nicht wissen, ob sie gerettet werden oder nicht? Meine ethische Überzeugung, meine Sicht der Solidarität besteht darin, dass die Medizin alles Mögliche zu tun hat, um das Leben von Menschen zu retten.

Nach den Umfragen gibt es eine große Mehrheit, die bereit ist, Organe zu spenden. Aber nur wenige von ihnen teilen das auch schriftlich mit. Sie wissen, wie schwer es in Krankenhäusern ist, wenn jemand gestorben ist und die Angehörigen nach dem Willen des Verstorbenen gefragt werden. Ich möchte die Angehörigen vor dieser Befragung eigentlich schützen, indem ich die Menschen animiere, sich selbst zu entscheiden oder zu entscheiden, dass sie sich nicht entscheiden. Alles ist eine Art der Entscheidung.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN, der CDU/CSU und der SPD)

Woran liegt es, dass das so wenige mitteilen? Ich denke, das Hauptproblem liegt in unserer Kultur, in unserer Zivilisation. Wir verdrängen Fragen, die mit dem Tod zusammenhängen. Ein bisschen kann ich das verstehen. Für eine 25-Jährige oder einen 25-Jährigen liegen diese Fragen so weit weg, obwohl auch sie jeden Tag unangenehm überrascht werden können. Aber ich sagte es schon: Man verdrängt das. Man will sich damit gar nicht beschäftigen. Fragen Sie doch einmal eine 25-Jährige oder einen 25-Jährigen, wie sie oder er beerdigt werden will. Dann wird sie oder er sagen: Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht.   Das ist nachvollziehbar. Aber deshalb finde ich es nicht falsch, wenn die Gesellschaft den Menschen eine Frage stellt   um mehr geht es nicht   und sie bittet, sich zu entscheiden; nur darum geht es.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN, der CDU/CSU, der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Persönlich - das will ich Ihnen ebenfalls sagen - bin ich für die Widerspruchslösung. Das bedeutet: Alle sind grundsätzlich zur Organspende bereit, es sei denn, sie widersprechen. Aber ich weiß: Ich habe gar keine Chance auf eine Mehrheit, wahrscheinlich nicht in der Gesellschaft, auf jeden Fall nicht im Bundestag. Deshalb führe ich darüber keine Diskussion. Aber ich wollte das der Ehrlichkeit halber gesagt haben.

Nun also liegt ein Gruppenantrag vor. Über Krankenkassen sollen Befragungen stattfinden. Wichtig ist: Es bleibt vollständig beim Prinzip der Freiwilligkeit. Es ist ein Angebot an jede Bürgerin und jeden Bürger, für sich eine Entscheidung zu treffen oder bewusst keine Entscheidung zu treffen. Es geht nicht um mehr und nicht um weniger. Beigefügt wird dem Anschreiben der Krankenkassen ein Organspendeausweis aus Pappe, in den jeder und jede seine bzw. ihre Entscheidung eintragen kann oder eben sich verweigert, sie einzutragen.

Auf den Organspendeausweis aus Pappe hat insbesondere unsere Fachpolitikerin auch nach der von uns abgelehnten, aber hier beschlossenen Einführung der elektronischen Gesundheitskarte bestanden. Das ist wichtig, weil nur mit dem Ausweis aus Pappe die völlige Anonymität gewahrt werden kann; denn das Stückchen Papier hinterlässt keinerlei Spuren:

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

nicht im Internet, nicht in Patientendateien, nicht in den Verwaltungen der Krankenkassen, schon gar nicht zentral. Ich entscheide, ob und wem ich es mitteile.

Dennoch gibt es auch in meiner Fraktion größere Bedenken, dass das weitere, spätere Angebot, künftige Entscheidungen auch auf der elektronischen Gesundheitskarte vermerken lassen zu können, zu erheblichem Datenmissbrauch führen und das verfassungsrechtlich hohe Gut der informationellen Selbstbestimmung aushebeln könnte. Diese Bedenken sind aus mehreren Gründen berechtigt:

Erstens. Wo Daten erhoben und zentral gespeichert werden, können sie auch kopiert, vervielfältigt und missbraucht werden.

Zweitens. Wir haben zusätzlich das Problem, dass wir derzeit rund 200 gesetzliche und private Krankenkassen haben und dass es erlaubt ist, die Kassen zu wechseln. Das erschwert die Gewährleistung der Sicherheit der personenbezogenen Daten erheblich. Es gibt nicht nur eine Schwachstelle beim System der Datenerhebung, sondern Hunderte. Daher soll nach dem Gesetzentwurf bis Mitte nächsten Jahres geprüft werden, ob die Eintragung zugelassen werden soll. Sollte bei der Prüfung herauskommen, dass der datenrechtliche Schutz nicht möglich ist, wird es den Eintrag auf der elektronischen Gesundheitskarte nicht geben.

Wichtig ist aber, dass durch unseren Einwand auch bei Zulässigkeit der Eintragung auf der elektronischen Gesundheitskarte dauerhaft die Alternative erhalten bleibt, den eigenen Organspendeausweis in Gestalt einer Pappkarte statt der elektronischen Gesundheitskarte zu nutzen; das ist uns besonders wichtig.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Ich fasse zusammen:

Erstens. Der Gesetzentwurf sichert, dass jede bzw. jeder selbstbestimmt entscheidet, ob sie bzw. er entscheiden will oder nicht.

Zweitens. Der Gesetzentwurf sichert, dass die- bzw. derjenige, die bzw. der eine Entscheidung treffen will, sich für oder gegen eine Organspende entscheiden kann.

Drittens. Der Gesetzentwurf sichert, dass auch nach dem Zeitpunkt der Einführung der von uns kritisierten elektronischen Gesundheitskarte zunächst geprüft werden muss, ob ein Eintrag der vorhandenen oder fehlenden Bereitschaft zur Organspende vollständig datenrechtlich geschützt werden kann; wenn nicht, wird der Eintrag unzulässig.

Viertens. Im Falle der Zulässigkeit entscheidet weiterhin jede oder jeder, ob sie bzw. er sich entscheiden will, und im Falle einer Entscheidung, ob sie oder er die Entscheidung auf einer elektronischen oder auf der Pappkarte dokumentiert.

Diesem Entwurf kann ich deshalb zustimmen, weil ich nicht berechtigt bin, jemandem gegebenenfalls seine Entscheidung für einen Eintrag auf der elektronischen Gesundheitskarte zu verbieten bzw. sie zu unterbinden. Auch wenn ich es für falsch halte, muss ich doch auch dieses Selbstbestimmungsrecht der oder des anderen respektieren.

Nur durch die auf unser Drängen hin eingeführte Alternative wird doch das Selbstbestimmungsrecht der Bürgerinnen und Bürger gestärkt und die Bedeutung der elektronischen Gesundheitskarte reduziert, indem man sich ausdrücklich gegen die elektronische Gesundheitskarte und für die Pappkarte entscheiden kann.

Aus verschiedenen Gründen werden wir die Novelle zum Transplantationsgesetz in der jetzigen Fassung ablehnen. Beispielsweise müssen bei der Hirntoddiagnostik die Anwendungen modernster Verfahren vorgeschrieben werden. Warum gibt es beispielsweise die verpflichtende apparative Diagnostik durch EEG oder SPECT anders als in anderen Ländern in Deutschland nicht? Nur dadurch wäre man sich sicher. Das ist nur ein Beispiel. Es gibt noch andere Kritikpunkte.

Wir werden über beide Gesetzentwürfe noch diskutieren. Es wird noch die eine oder andere Änderung geben. Aber ich bitte Sie alle im Saal letztlich um die Zustimmung zum Gruppenantrag, erstens, um zu erreichen, dass Tausende Menschen, die auf ein lebensrettendes Organ warten, berechtigt darauf hoffen können, dass sie die Transplantation erhalten werden, und, zweitens, um jeden Handel mit Organen auszuschließen. Wir müssen verhindern, dass Reiche, egal wo, Organe von Menschen aus armen Ländern kaufen, die zur Spende zumindest unzulässig unter Druck gesetzt wurden.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN, der SPD und der FDP)

Wenn wir das verhindern wollen, dann müssen wir es in unserer Gesellschaft so organisieren, dass jede und jeder unabhängig von ihrer oder seiner sozialen Lage die gleiche Chance hat, zügig eine lebensrettende Transplantation zu erhalten.

Wir wenden uns an die Bürgerinnen und Bürger mit der Bitte, sich bewusst zu entscheiden. Wie sie sich entscheiden, ist ihre Sache. Aber eine Entscheidung sollten sie treffen.
Danke schön.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN, der CDU/CSU, der SPD und der FDP)