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Gesundheitsreform: Keine Probleme gelöst, sondern neue geschaffen

Archiv Linksfraktion - Rede von Gregor Gysi,

Gregor Gysi, Vorsitzender der Fraktion DIE LINKE. kritisiert in der abschließenden Debatte zur Gesundheitsreform die Politik der Großen Koalition als Gemurkse, in der kein einziges Problem gelöst, sondern lediglich neue geschaffen werden.

Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt, ich habe Ihnen sehr genau zugehört, und Sie waren ja auch schon für die Gesundheitsreform 2003 zuständig. Ich zitiere einmal einen Satz, den Sie damals gesagt haben für den Fall, dass Sie es vergessen haben sollten : Die Beitragssätze in der gesetzlichen Krankenversicherung werden bereits im nächsten Jahr von durchschnittlich 14,3 Prozent auf 13,6 Prozent und bis 2006 deutlich unter 13 Prozent sinken.

(Zuruf von der LINKEN: Hört! Hört!)

Die paritätischen Beitragssätze liegen inzwischen bei 14,2 Prozent

(Zuruf von der FDP: Nein, 14,8 Prozent!)
und werden durch Ihre Maßnahmen noch auf 14,8 Prozent steigen.

(Carl-Ludwig Thiele (FDP): Da sind sie jetzt schon!)

Deswegen sage ich Ihnen: Der Wahrheitsgehalt Ihrer damaligen Prognosen stimmt überein mit dem Wahrheitsgehalt Ihrer heutigen Prognosen.
(Beifall bei der LINKEN und der FDP)
Die Steigerung, die wir bei den Beiträgen erleben werden, hängt damit zusammen, dass Sie entschieden haben, dass alle gesetzlichen Krankenkassen bis Ende 2008 entschuldet sein müssen.

(Elke Ferner (SPD): Sie müssen schon bis zum Ende dieses Jahres entschuldet sein! Keine Ahnung!)

Das können Sie nur über Beitragserhöhungen hinbekommen. Darüber haben Sie hier so gut wie gar nicht geredet. Denn das belastet die Unternehmen und die Versicherten.
Dann machen Sie einen weiteren Schritt, der was die FDP zu wenig betont das eigentliche Ziel dieser Gesundheitsreform betrifft: der Wirtschaft zu dienen. Denn ab 2009 gibt es ja diesen bürokratischen Fonds. Ab diesem Zeitpunkt dürfen nur noch die Beiträge der Versicherten erhöht werden. Die Sozialabgabe der Unternehmen darf prozentual dann nie wieder gesteigert werden.

(Elke Ferner (SPD): Das stimmt überhaupt nicht! Schmeißen Sie mal Ihre Referenten raus, die Ihnen so einen Mist aufschreiben!)

Sie frieren die Beiträge der Wirtschaft zum Gesundheitswesen ein und sagen, dass die Versicherten das dann alleine bezahlen müssen. Das hat mit sozial und mit solidarisch gar nichts zu tun.

(Beifall bei der LINKEN)

Sie gehen davon aus: Wenn die Beitragssätze zu stark erhöht werden, dann können die Leute aus ihrer Krankenversicherung austreten und Mitglied einer anderen Krankenversicherung werden. Aber auch Sie wissen, dass keine gesetzliche Krankenkasse scharf darauf ist, alle armen Schlucker der Republik aufzunehmen. Was werden sie also machen? Wenn eine Krankenkasse ihren Beitragssatz erhöht, dann erhöhen auch die anderen Krankenkassen ihre Beitragssätze, damit nicht alle zu ihnen wechseln wollen. Das wird das Ergebnis Ihrer diesbezüglichen Politik sein.

(Jens Spahn (CDU/CSU): Das sind doch alles Märchen, was Sie da erzählen!)

Sie führen in die Gesundheitsversicherung eine Entsolidarisierung ein. Ich will Ihnen erklären, warum. Das liegt daran, dass Sie aus der Gesundheitsversicherung eine Art Autoversicherung machen. Eine Autoversicherung funktioniert aber nach anderen Kriterien. Sie führen eine Beitragsrückerstattung und eine Teilkaskoversicherung ein. Was heißt das?
Zunächst zur Beitragsrückerstattung. Wenn ein Versicherter im Laufe eines Jahres bei seiner Krankenversicherung keine Rechnung einreicht und er seine Gesundheitskosten selbst bezahlt, dann bekommt er im nächsten Jahr einen bestimmten Teil seiner Beiträge erstattet.
Nun zur Teilkaskoversicherung. Ein Versicherter kann sich dafür entscheiden, einen bestimmten Anteil der ihm entstehenden Gesundheitskosten selbst zu bezahlen zum Beispiel, wie Sie es vorsehen, bis zu einem Betrag von 900 Euro pro Jahr und nur die Kosten, die diesen Betrag übersteigen, zu versichern. Dies hätte eine Senkung seines Beitragssatzes zur Folge. Wenn es um eine Autoversicherung geht, kann man das machen. Aber hier geht es um eine Gesundheitsversicherung.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich frage Sie: Warum entsolidarisieren Sie diese Versicherung? Nur ein Besserverdienender, nur ein Junger, nur ein Gesunder kann diese Möglichkeit nutzen, weil er weiß, dass er relativ geringe Kosten verursacht. Wenn er aber älter ist und krank wird, dann werden sich auch diejenigen so verhalten, die dann jung sind. Damit entsolidarisieren Sie diese Versicherung.

(Beifall bei der LINKEN)

Heute ist es so, dass die Jungen und Gesunden für die Kranken bezahlen. Dieses Solidarprinzip lösen Sie auf.
Eines Ihrer Versprechen haben Sie gebrochen es tut mir leid, dass ich das ansprechen muss : Sie haben eine zusätzliche Tabaksteuer eingeführt und angekündigt, dass sämtliche aus dieser Steuer erzielten Einnahmen in das Gesundheitswesen fließen werden.
(Elke Ferner (SPD): Die sind aber nicht gekommen!)
Im letzten Jahr betrugen die Einnahmen aus der Tabaksteuer 4,2 Milliarden Euro. Was wollen Sie heute beschließen? Dass Sie dem Gesundheitswesen im nächsten und im übernächsten Jahr nur noch 2,5 Milliarden Euro aus diesen Einnahmen zukommen lassen werden. Den Rest kratzen Sie einfach weg. Wenn Sie solche scheinpädagogischen Steuern wie die Tabaksteuer erhöhen, das eingenommene Geld dann aber ganz anders verwenden, als Sie es versprochen haben, fordere ich Sie auf: Machen Sie keine Versprechen mehr!

(Beifall bei der LINKEN Elke Ferner (SPD): Sagen Sie lieber erst einmal die ganze Wahrheit, Herr Gysi!)

Jetzt will ich auf ein Thema zu sprechen kommen, das mir wichtig ist, von dem bisher aber kaum gesprochen worden ist: die Einführung des Verschuldensprinzips. Erstens wollen Sie die Zuzahlungen von chronisch Kranken erhöhen, falls sie eine mangelnde Vorbeugung praktizieren oder Therapien ausgelassen haben.

(Elke Ferner (SPD): Das stimmt doch alles gar nicht! Jens Spahn (CDU/CSU): Nein! Nicht wahr!)

Sie wollen also eine Art Strafgeld einführen.

(Jens Spahn (CDU/CSU): Haben Sie den Gesetzentwurf überhaupt gelesen?)

Zweitens wollen Sie die Regelung einführen, dass die Patienten die Kosten bestimmter Erkrankungen selbst zu begleichen haben. Das gilt zum Beispiel für Gesundheitskosten, die als Folge von Tätowierungen, Piercings und Schönheitsoperationen entstehen.

(Elke Ferner (SPD): So ein Unsinn!)

Sie wissen, dass sich die Bevölkerung für dieses Vorhaben nicht so sehr interessieren wird, nach dem Motto: Piercings und Tätowierungen was soll’s? Aber diese Regelung ist grundgesetzwidrig. Jemand, der als Folge eines Piercings eine schwere Entzündung bekommt und die entstehenden Behandlungskosten selbst zahlen muss, wird Ihnen die Frage stellen, warum ein Autofahrer, der, weil er betrunken war, einen Unfall verursacht hat und schwerverletzt ist, die Kosten seiner Behandlung nicht selbst übernehmen muss. Verstehen Sie, was ich meine? Das, was Sie machen, geht nicht. Entweder führen Sie das Verschuldensprinzip ein oder Sie führen es nicht ein.

(Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das ist allerdings wahr!)

Der Stolz unserer Gesundheitsversicherung besteht darin, dass es ein Sachleistungsprinzip gibt,

(Elke Ferner (SPD): Ja! Das gilt auch immer noch!)

dass also jeder Kranke behandelt und nicht darauf geachtet wird, ob er seine Krankheit selbst verschuldet hat oder nicht.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Indem Sie das Verschuldensprinzip einführen, lösen Sie jetzt eine Diskussion aus, die auch die Raucher betreffen wird.
Abgesehen davon, dass diese Regelung grundgesetzwidrig ist das sagte ich bereits , machen Sie aber noch etwas anderes: Sie verändern den Beruf der Ärztin bzw. des Arztes. Durch Einführung der Kassengebühr von 10 Euro haben Sie aus den Ärztinnen und Ärzten Kassenwarte gemacht.

(Widerspruch bei der CDU/CSU und der SPD Jens Spahn (CDU/CSU): Und das sagt uns ausgerechnet einer von den Linken!)

Jetzt machen Sie aus den Ärztinnen und Ärzten Gesundheitspolizistinnen und Gesundheitspolizisten. Denn in Zukunft müssen sie ermitteln, ob die notwendigen Voraussetzungen erfüllt sind, um die Patienten stärker zur Kasse bitten zu können. Wie Sie wissen, haben Ärztinnen und Ärzte einen hippokratischen Eid geleistet. Der Beruf des Polizisten ist etwas anderes als der Beruf des Arztes. Den Beruf des Polizisten wollten die Ärzte nicht ergreifen. Aber Sie sorgen dafür, dass sie solche Aufgaben übernehmen müssen.

(Beifall bei der LINKEN)

Lassen Sie mich noch kurz auf einen anderen Punkt zu sprechen kommen. Herr Kollege Zöller, es liegen über 80 Änderungsanträge vor. Lassen Sie uns doch die Abgeordneten einmal fragen, ob sie wissen, welche Änderungen vorgenommen worden sind. Die Abgeordneten sollen abstimmen, wissen aber gar nicht, worüber. Das ist die Wahrheit. Dafür hätten sie nämlich mehr Zeit gebraucht.

(Beifall bei der LINKEN und der FDP)

Zu den sechs Abgeordneten der SPD möchte ich nur eine Bemerkung machen: Als sie diese Regelungen hätten verhindern können, sind sie nicht hingegangen. Aber heute stimmen sie dann ganz mutig mit Nein, da sie wissen, dass es auf ihre Stimmen nicht ankommt. Das ist das Gegenteil von Volksvertretung.

(Beifall bei der LINKEN und der FDP)

Sie beschließen hier heute nur Gemurkse. Aber Sie haben Recht, Frau Bundesgesundheitsministerin: Nur die Große Koalition war in der Lage, einen Beschluss zu fassen, der Gemurkse ist und durch den kein einziges Problem gelöst, sondern nur neue Probleme geschaffen werden.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der FDP - Volker Kauder (CDU/CSU): Ich glaube, jetzt brauchen Sie einen Blutdrucksenker!)