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Gender-Perspektiven in Wissenschaft und Forschung

Archiv Linksfraktion - Rede von Petra Sitte,

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!

mit diesem Antrag verbindet sich eine ganz grundsätzliche Fragestellung: Welches Verständnis von Innovation legen die Regierungsfraktionen von Union und SPD ihrer Wirtschafts- und Wissenschaftspolitik eigentlich zugrunde? Ziele der aktuellen Politik, die auch von B’90/Die Grünen nicht grundsätzlich in Frage gestellt werden, sind mehr Wettbewerbsfähigkeit und mehr Exzellenz in Wirtschaft und Wissenschaft. Über diverse Förderprogramme werden Milliarden in Spitzenforschung und Erkenntnistransfer gepumpt!

DIE LINKE hat die einseitige technologie- und marktzentrierte Ausrichtung dieser Förderpolitik der Regierungsfraktionen stets kritisiert. Aber jetzt bleibe ich doch einmal für einen Moment in Ihrer Innovationslogik. Wieso lassen Sie ausgerechnet in Wissenschaft und Forschung in so hohem Maße innovative Potentiale ungenutzt? Weshalb wird tausenden hochqualifizierten und hochmotivierten Frauen der Zugang, die Teilhabe und die Mitwirkung an kreativen Prozessen verwehrt? Da wird in diesen Tagen beispielsweise insbesondere im ingenieurtechnischen Bereich von Wirtschaft und Wissenschaft ein gewaltiger Fachkräftemangel beklagt.

Pro Jahr fehlen rund 20.000 Ingenieure. Aber die Zahl eingestellter Frauen bleibt seit zehn Jahren konstant. Unter männlichen Ingenieuren sind nur sieben Prozent ohne Arbeit, unter weiblichen dagegen 20 Prozent. Zwei Drittel der Ingenieurinnen mit Uni-Abschluss und die Hälfte derer mit Fachhochschulabschluss finden keine Anstellung im Beruf. In der Industrieforschung sind Forscherinnen nur mit 12 Prozent vertreten. Statt diesen endlich Berufs- und damit neue Lebensperspektiven zu ermöglichen, wollen sie die Lücke kurzfristig durch Zuwanderung hochqualifizierter ausländischer Fachkräfte verkleinern.

Nur um das klarzustellen: DIE LINKE ist für Zuwanderung. Aber die Misere des Fachkräftemangels ist mit Abweichungen in allen Forschungs- und Wissenschaftsdisziplinen festzustellen. Frauen sind in höherdotierten Professuren sowie in Führungspositionen in Wirtschaft und Wissenschaft unglaublich unterrepräsentiert. DIE LINKE sagt: In der Wirtschafts-, Wissenschafts- und Forschungspolitik klaffen gewaltige Widersprüche! Vier grundlegende Probleme müssen Gegenstand einer neuen Politik sein:

Erstens: Ihre Politik ist ungerecht, weil sie Frauen trotz gleicher Befähigung umihr Recht auf Beschäftigung bzw. akademische Laufbahnen und um ihr Recht auf gleiche Bezahlung bringen. Professor Strohschneider vom Wissenschaftsrat spricht völlig zutreffend von „Exklusionsmechanismen“.

Zweitens: Diese Politik führt nicht nur zu Benachteiligung von Frauen in Wissenschaft und Forschung, sondern auch zu einem gewaltigen Verlust an kreativem Potential und an Exzellenz. Von den Forscherinnen haben rund 26 Prozent ihr Projekt interdisziplinär ausgerichtet. Von den Forschern dagegen nur 15 Prozent. Aus der Innovationsforschung aber ist bekannt, dass vor allem aus den interdisziplinär angelegten Forschungsprojekten bahnbrechende Erkenntnisse erwartet werden. Damit werden auch die klassischen Fächertrennungen und Disziplingrenzen, die eben über 200 Jahre vor allem von Männern geprägt wurden, überwunden!

Eine Wissenschafts- und Forschungspolitik, die den Gender-Aspekt ernst nimmt, verspricht also bisher unentdeckte Blickwinkel innovativer Entwicklung zu erschließen. Neue Felder, neue Ideen, neue Ansätze bleiben uns vorenthalten, weil Sie, sehr geehrte Damen und Herren auf den Regierungsbänken, die spezifischen Fähigkeiten und die Lebensrealitäten von forschenden Frauen nicht integrieren! Um nochmals an ihre Logik anzuknüpfen, Sie verpassen damit auch Märkte! Oder, um aus dieser Logik auszubrechen, ohne den Blick für Genderfragen leidet die Qualität von Wissenschaft und Forschung. Hier muss ein System der Projektförderung ansetzen. Fördermittel haben erhebliche Macht, wenn es um die Bestimmung und Bearbeitung neuer Themen und Gegenstände der Forschung geht. Gender muss zu wissenschaftlicher Normalität werden. Genderforschung muss bereits im Curriculum, also in die Lehrziele eines Studienganges integriert werden, weil die Sensibilität und das Verständnis geweckt werden müssen. Und letztlich bedarf es auch eines stringenten Ansatzes auf EU-Ebene. Dort wurden frühere Ansätze im 7. Forschungsrahmenprogramm abgeschwächt, teilweise - wie der Gender Action Plan - nicht fortgesetzt. Gender fehlt in den Evaluierungskriterien.

Drittens: Eine gerechte Wissenschafts-, Forschungs- und Wirtschaftspolitik muss zu einer grundlegenden Veränderung der Wissenschaftskultur führen. Sie muss den offenen, aber vielmehr noch den feinsinnig verdeckten Formen der Ausgrenzung und Benachteiligung von Frauen konsequent entgegentreten. Nur die verstärkte Einstellung von Frauen zu fördern, hat über die Jahre unbefriedigende Ergebnisse gebracht. Frauen treten nach wie vor viel seltener als Männer auf besser bezahlten und auf einflussreichen Position in Erscheinung.

Das mag auch an der Höhe der Förderzuschüsse gelegen haben. Immer mehr reift die Erkenntnis, dass es ohne Quoten, wie sie Herr Professor Winnacker nach Beendigung seiner Amtszeit als Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) ein wenig entnervt forderte, nicht gehen wird. Und zugleich müssen Sanktionen, also Mittelabzug bei zu geringen Beschäftigungsanteilen von Frauen, das finanzielle System der Frauenförderung unterstützen.

Viertens: Eine echte Innovationspolitik braucht einen lebensweltlichen, einen sozialen Kontext. Forscherlaufbahnen werden bisher zu Lasten von Familien oder Familiengründung durchlaufen. Familienfreundlichkeit darf sich allerdings nicht auf bessere Kinderbetreuung beschränken. Diese wird ohnehin fast immer nur auf Frauenförderung bezogen. Dabei bringt sie auch Männern in der Familie Entlastung. Die Bedürfnisse der ganzen jungen Familie sind zu berücksichtigen.

Wissenschaftlerin oder Wissenschaftler zu werden, darf nicht von Absage an normale, gesellschaftlich übliche Lebensverhältnisse von Menschen begleitet werden. Karriereplanung, geregeltes Einkommen, Urlaub, begrenzte Arbeitszeiten, Wochenenden, soziale Kontakte und eben Kinder gehören dazu. Was haben Menschen für gesellschaftliche Kompetenzen und Persönlichkeiten, die durch Selbstaufgabe ihrer Lebensansprüche beruflich erfolgreich geworden sind? Wissenschaft und Forschung stehen nicht über der Gesellschaft. Sie sind Bestandteil ebenso, wie sie ganz maßgebliche Impulse für ihre Verbesserung setzen können. Und alle zusammen werden an Innovationskraft gewinnen, wenn Männer und Frauen gleichberechtigt daran mitwirken!