(Zu Protokoll gegeben)
Sehr geehrter Herr Präsident,
liebe Kolleginnen und Kollegen,
ich freue mich, dass der Bundestag heute erneut zu einem geschichtspolitischen Thema die Debatte sucht. Wichtig ist es auch deshalb, weil es bei dem von der Linksfraktion vorgelegten Gesetzentwurf zur Änderung des Gesetzes zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile um die Aufarbeitung des dunkelsten Kapitels der deutschen Geschichte geht. Leider, dass muss an dieser Stelle aber auch gesagt werden, findet diese Debatte viel zu spät statt: 62 Jahre nach der Befreiung vom Hitlerfaschismus, 62 Jahre nach Holocaust, 62 Jahre nach dem fürchterlichsten Krieg, den die Menschheit erlebt hat, 62 Jahre nach dem Massenmord durch deutsche Kriegsschergen an über 60 Millionen Menschen. Die Bundesrepublik Deutschland und der Deutsche Bundestag haben 58 Jahre verstreichen lassen, um Menschen zu rehabilitieren, die aus politischen und moralischen Gründen gegen das Hitlerregime handelten und deshalb bis heute vorbestraft sind und gesellschaftlich stigmatisiert werden. Die Rede ist von den so genannten Kriegsverrätern.
Mit dem Gesetz zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile wurde in der Strafrechtspflege (NS-AufhG) 1998 ein wichtiger Schritt in Richtung Aufarbeitung deutscher Geschichte eingeschlagen. Im § 1 des NS-AufhG werden verurteilende strafgerichtliche Entscheidungen, die unter Verstoß gegen elementare Gedanken der Gerechtigkeit nach dem 30. Januar 1933 zur Durchsetzung oder Aufrechterhaltung des nationalsozialistischen Unrechtsregimes aus politischen, militärischen, rassischen, religiösen oder weltanschaulichen Gründen ergangen sind, aufgehoben.
Die genannten Entscheidungen betreffen nach § 2 des Gesetzes unter anderem auch solche, die auf den in der Anlage zu § 2 Nr. 3 NS-AufhG genannten gesetzlichen Vorschriften beruhen. Ausgenommen sind darin jedoch die §§ 57, 59 und 60 des Militärstrafgesetzbuches von 1934, also der Kriegsverrat. Betroffene müssen sich seither einer Einzelfallsprüfung unterziehen. Dies ist unserer Meinung nach nicht nur unzumutbar, sondern auch undurchführbar, denn außer bei Verurteilungen in Abwesenheit wurden sie grundsätzlich zum Tode verurteilt und hingerichtet.
Unter der rot-grünen Bundesregierung wurde der Katalog der Straftaten, die im Anhang zu § 2 Nr. 3 NS-AufhG aufgeführt sind, mit Gesetz vom 23. Juli 2002 erweitert. Mit dem Änderungsgesetz wurden die §§ 175, 175a Nr. 4 des Reichsstrafgesetzbuches sowie eine Vielzahl von Verurteilungen unter anderem wegen Desertion (§ 69 Militärstrafgesetzbuch), Feigheit (§ 85) oder unerlaubte Entfernung (§ 64) in die Anlage zu § 2 Nr. 3 NS-AufhG (Nr. 26a) aufgenommen. Die Begründung damals: Die Einzelfallprüfung führe zu Unzuträglichkeiten.
Der Gesetzgeber konnte sich trotz der Aufnahme einer großen Zahl von Straftatbeständen des Militärstrafgesetzbuches in die Anlage zu § 2 Nr. 3 nicht dazu entschließen, dieses Gesetz im Ganzen einzufügen. In der Begründung zum Änderungsgesetz heißt es: „Es finden sich eine ganze Reihe von Straftatbeständen, bei denen die Aufhebung des Urteils ohne Einzelfallprüfung nicht verantwortbar erscheint. Beispielhaft seien hier der Kriegsverrat, die Plünderung, die Fledderei sowie Misshandlungen von Untergebenen genannt.“
Diese Aussage ist gleich in mehrfacher Hinsicht skandalös. Zum einen, weil sie zum Ausdruck bringt, dass Unrechtsurteile von Nazirichtern, die ohne rechtsstaatliche Grundsätze und zum Schutze eines menschenverachtenden Systems gefällt wurden, nur durch Einzelfallprüfung revidiert werden können. Zum zweiten aber stellt diese Begründung den Kriegsverrat in eine Reihe mit Plünderungen und Fleddereien. Das ist nicht hinnehmbar.
Die unter dem Straftatbestand des Kriegsverrates subsumierten Handlungen sind mit den anderen genannten Straftatbeständen des Militärstrafgesetzbuches nicht vergleichbar, denn sie waren fast durchweg politisch oder moralisch motiviert, wie auch neuere Forschungen von z.B. Prof. Dr. Wolfram Wette belegen. Ein vergleichbarer krimineller Unrechtsgehalt wie bei Delikten der Plünderung ist nicht erkennbar.
Um es deutlich zu sagen: Beim so genanntem Kriegsverrat handelte es sich um den Verrat des deutschen Angriffs- und Vernichtungskrieges, der zu Mord, Vertreibungen und Vergewaltigungen an Millionen geführt hat. Neuere Untersuchungen zeigen zudem, dass das Verhalten der Menschen, die wegen Kriegsverrats verfolgt und verurteilt wurden, fast durchweg - wie bereits angesprochen - moralisch/ethisch oder politisch motiviert war. Diese Menschen riskierten ihr Leben, um das barbarische Morden, um den Angriffs- und Vernichtungskrieg zu beenden. Diese Menschen verdienen Anerkennung und höchsten Respekt.
Deshalb müssen unserer Meinung nach die §§ 57, 59 und 60 Militärstrafgesetzbuch in die Anlage zu § 2 Nr. 3 NS-AufhG aufgenommen werden.
In seinem Urteil vom 11. September 1991 stellt das Bundessozialgericht hinsichtlich der Todesurteile der Militärstrafjustiz während des Zweiten Weltkrieges fest, dass angesichts der Gesamtumstände die Rechtswidrigkeit der Urteile zu vermuten sei. Angesichts der durch die NS-Militärjustiz gefällten 30 000 Todesurteile und zehntausenden Zuchthausurteilen kann man wohl kaum mehr nur von einer Vermutung sprechen, sondern muss von einer belegbaren Tatsache in diesem Zusammenhang ausgehen.
Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen,
Ihnen allen wird der Name Ludwig Baumann sicherlich bekannt sein. Ludwig Baumann streitet seit Jahren gemeinsam mit seiner „Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz e.V.“ für die Rehabilitierung von Wehrmachtsdeserteuren und Kriegsverrätern. Sein bewegtes Leben bietet ein plastisches Beispiel für die Verhältnisse in Wehrmacht und NS-Regime und für die Aufarbeitung der deutschen Geschichte durch die Bundesrepublik.
Im Zuge der Gesetzesänderung unter rot-grün im Jahr 2002 hat er sich intensiv in die politische und parlamentarische Debatte eingebracht, hat gute Kontakte zur damaligen PDS-Fraktion, aber auch zu den Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen hergestellt. Nachdem der Straftatbestand des Kriegsverrats von der Gesetzesänderung 2002 ausdrücklich ausgenommen wurde, unternahm er 2006 einen erneuten Versuch und machte Bundesjustizministerin Brigitte Zypries auf das Thema aufmerksam.
In ihrem Antwortschreiben vom 25. April 2006 an Ludwig Baumann nimmt Frau Zypries zum Sachverhalt wie folgt Stellung:
„Bei der Erarbeitung des NS-AufhG, der als Entwurf der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen in das Gesetzgebungsverfahren eingebracht worden ist (BT-Drs. 14/8276), wurde versucht, sämtliche Tatbestände des Militärstrafgesetzbuches zu erfassen, bei denen eine pauschale Aufhebung gerechtfertigt werden konnte. Als Ergebnis wurden insgesamt 44 Straftatbestände zusätzlich in das NS-AufhG aufgenommen. Ausdrücklich nicht aufgenommen wurden Straftatbestände, bei denen die Aufhebung des Urteils ohne Einzelfallprüfung nach wie vor nicht vertretbar erschien. […] Der in Fällen des Kriegsverrats möglicherweise gegebene Unrechtsgehalt (nicht ausschließbare Lebensgefährdung für eine Vielzahl von Soldaten) erschien äußerst hoch, so dass der Umstand, dass sie während eines völkerrechtswidrigen Angriffskrieges begangen worden sind, keinen Anlass zur pauschalen Rehabilitierung begründen könnte“.
Für mich übersetzt heißt dies, dass der Widerstand gegen einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg nicht anerkannt wird, auch wenn es sich dabei um einen Vernichtungsfeldzug im Namen des Hitlerfaschismus handelte. In Bezug auf die Äußerungen der Ministerin zur Gefährdung einer Vielzahl von Soldaten durch den Kriegsverrat, ergeben sich für mich Fragen. Bedeutet dies übersetzt, dass das Leben von Soldaten, die einen Angriffskrieg führen, höher bewertet wird, als das Leben von Millionen von Zivilisten, die durch den Verrat von Kriegsvorbereitungen oder -handlungen hätten gerettet werden können? Es wäre hilfreich, wenn Frau Zypries im Rahmen dieser Gesetzesdebatte ihre Position noch einmal deutlich machen würde, um Missverständnisse auszuschließen.
Die Antwort der Frau Ministerin ist umso Besorgnis erregender, als der Bundestag in seiner Entschließung vom 15. Mai 1997 bereits feststellte: „Der Zweite Weltkrieg war ein Angriffs- und Vernichtungskrieg, ein vom nationalsozialistischen Deutschland verschuldetes Verbrechen“ (BT-Drs. 13/7669). Der Verrat eines, wie der Bundestag sagt, „Vernichtungskrieges“ ist nach Meinung der Bundesjustizministerin offenbar nicht rehabilitierungswürdig. Zumindest nicht ohne Einzelfallprüfung. Diese juristische Position zeugt von wenig politischer Souveränität, denn wie bereits dargestellt, ist eine Einzelfallprüfung kaum möglich, da die meisten Betroffenen den NS-Henkern zum Opfer gefallen sind. Für die wenigen noch lebenden ist eine solche Prüfung erniedrigend und beschädigt das Gedenken an den Widerstand gegen die NS-Diktatur.
Ich möchte zum Schluss noch einmal daran erinnern, was die NS-Justiz unter dem Straftatbestand des Kriegsverrates verstand: Verraten deutscher Angriffspläne und -termine an die Niederlande, Frankreich, Belgien, England, Dänemark, Norwegen, Jugoslawien; das Knüpfen konspirativer Auslandskontakte; der Versuch, Jüdinnen und Juden das Leben zu retten; die Kontaktaufnahme zu sowjetischen Kriegsgefangenen; das Überlaufen zu den Partisanen und die Unterstützung des einheimischen Widerstandes durch Weitergabe kriegswichtiger Informationen.
Meine Damen und Herren,
wie Sie sehen können, verbirgt sich hinter dem einfachen Wort Kriegsverrat eine ganze Reihe von Tätigkeiten, die heute, beispielsweise im Zusammenhang mit dem 20. Juli, durch die Öffentlichkeit und den Bundestag gewürdigt werden.
Ich bitte Sie also, unserem Gesetzesentwurf Ihre Zustimmung zu geben. Es ist an der Zeit. Kurt Tucholsky schrieb 1921 im Hamburger Echo: „Aber wenn wir nicht mehr wollen: dann gibt es nie wieder Krieg!“ Und wenn wir wollen, dann werden wir endlich auch die Kriegsverräter rehabilitieren und anerkennen, dass sie Gegner des Krieges waren und die Anerkennung der Bundesrepublik verdienen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Gegner des Zweiten Weltkrieges rehabilitieren.
Archiv Linksfraktion -
Rede
von
Jan Korte,