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Exportüberschuss ging zu Lasten der Bevölkerung

Archiv Linksfraktion - Rede von Gregor Gysi,

Gregor Gysi in der Debatte über den Jahreswirtschaftsbericht 2011

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Steinmeier, mir ist aufgefallen, dass Sie gesagt haben, dass die Union und die FDP die Reformen von SPD und Grünen nutzen. Es sollte Ihnen aber nicht positiv auffallen, sondern negativ, dass den Konservativen und Neoliberalen Ihre Reformen so gut gefallen.

(Beifall bei der LINKEN)

Aber abgesehen davon, Herr Brüderle, haben Sie im Zusammenhang mit dem Aufschwung ein paar Fakten vergessen; daran muss ich Sie einfach erinnern. Der Aufschwung macht ein Wirtschaftswachstum von 3,6 Prozent aus. Im Jahr davor hatten wir ein Minus von 4,7 Prozent. Das heißt, wir stehen immer noch schlechter da als 2008. Das hätte doch Ihr erster Satz sein können.

Abgesehen davon haben Sie - das ist das Entscheidende - überhaupt nicht über die Frage geredet, wem der Aufschwung zugute kommt und wem nicht. Was Sie dazu gesagt haben, stimmt nicht. Wir haben   das stimmt   einen Aufschwung für die Deutsche Bank. Wir haben auch einen Aufschwung für Vermögende und Spekulanten; das stimmt.

(Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP): Porsche-Fahrer!   Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU): Porsche-Fahrer aus Ihrer Fraktion!)

Aber wir haben keinen Aufschwung für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Wir haben keinen Aufschwung für Rentnerinnen und Rentner.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir haben keinen Aufschwung für Kranke. Wir haben keinen Aufschwung für Hartz-IV-Empfängerinnen und Hartz-IV-Empfänger. Was hat denn die Hartz-IV-Empfängerin von Ihrem Aufschwung? 5 Euro wollen Sie ihr geben. Machen Sie sich doch nicht lächerlich, kann ich da nur sagen.

(Beifall bei der LINKEN - Widerspruch bei der CDU/CSU)

Die Reallöhne sind im letzen Jahre um 0,1 Prozent gestiegen, Herr Brüderle. Aber das Geldvermögen ist im letzten Jahr in Deutschland um 4,7 Prozent gestiegen. Das Bruttogeldvermögen hat um 220 Milliarden Euro zugenommen und liegt jetzt bei 4,9 Billionen Euro, ein unvorstellbarer Betrag.

Nun könnte man zwar sagen: Was spricht denn dagegen, wenn alle mehr Vermögen haben? Das Problem ist aber, dass 1 Prozent der Bevölkerung ein Viertel des Geldvermögens besitzt. 10 Prozent der Bevölkerung besitzen 60 Prozent des Geldvermögens. Zwei Drittel der Bevölkerung besitzen gar kein Vermögen. Das ist die grobe Ungerechtigkeit, an der Sie nichts ändern. Sie spitzen das sogar weiter zu.

(Beifall bei der LINKEN)

In der Krise - das hätten auch Sie eigentlich kritisieren müssen, Herr Brüderle - hat die Zahl der Vermögensmillionärinnen und Vermögensmillionäre um 51 000 zugenommen. Die Zahl liegt jetzt bei 861 000. Erklären Sie das einmal denjenigen, die nicht wissen, wie sie irgendwas bezahlen sollen. Wozu brauchen wir denn so viele Vermögensmillionäre? Mit etwas weniger kann man in unserer Gesellschaft auch sehr gut leben.

(Lachen bei der FDP)

- Sie nicht, meine Damen und Herren von der FDP! Es tut mir leid, wenn Sie sich das nicht vorstellen können.

Bei uns nimmt nicht nur der Reichtum zu, sondern auch die Armut. Hier hilft am besten ein Zehnjahresvergleich. Von 2000 bis 2010 hat das private Geldvermögen von 3,5 Billionen auf 4,9 Billionen Euro zugenommen. Es ist also auf 150 Prozent gestiegen. Nach einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung hat die Armut in den letzten zehn Jahren um ein Drittel zugenommen. Die Anteil der Armen ist von 11 Prozent auf 14 Prozent der Bevölkerung gestiegen. Das heißt, von Armut sind nicht mehr 7,7 Millionen, sondern 11,5 Millionen Menschen betroffen. Da reden Sie von Aufschwung? Erklären Sie diesen 11,5 Millionen Menschen, worin der Aufschwung für sie besteht!

(Beifall bei der LINKEN)

Nur in Deutschland sanken in den letzten zehn Jahren die Reallöhne laut Internationaler Arbeitsorganisation, ILO - einer UN-Sonderorganisation -, um 4,5 Prozent. Der durchschnittliche Bruttoverdienst sank um 100 Euro. Wir sind Lohnsenkungsweltmeister. Herr Brüderle, wenn Sie vom Export reden, müssen Sie auch sagen, dass der Exportanstieg darauf zurückzuführen ist, dass in Deutschland die Löhne gesenkt wurden, die Renten gesenkt wurden und die Sozialleistungen gesenkt wurden. Das machte die Produkte billiger. Das heißt, Ihr ganzer Exportüberschuss ging zulasten der Bevölkerung. Das müssen Sie sagen, und das haben Sie verabsäumt zu erklären.

(Beifall bei der LINKEN - Widerspruch bei der FDP)

Die Reallöhne in anderen Ländern haben sich anders entwickelt; sie sind gestiegen: in Spanien, in Frankreich, in Großbritannien, in Finnland und in Norwegen - in Norwegen sogar um 25 Prozent. Nur bei uns sind sie gesunken. Dafür tragen die letzten drei Regierungen Verantwortung: SPD und Grüne, Union und SPD sowie jetzt Union und FDP. Die umgekehrte Entwicklung in Deutschland hat natürlich auch etwas damit zu tun, dass die prekäre Beschäftigung in Deutschland - das haben Sie alle so gewürdigt - zugenommen hat. 22 Prozent der Beschäftigten in Deutschland sind prekär beschäftigt, zum Beispiel in Teilzeit, in Leiharbeit und in Minijobs. Oder sie sind Aufstockerinnen und Aufstocker. Erklären Sie diesen Menschen den Aufschwung! Die Zahl dieser Menschen nimmt nicht ab, sondern zu.

Nehmen wir als Beispiel die Entwicklung bei den sozialversicherungspflichtigen Vollzeitarbeitsplätzen im Laufe der letzten zehn Jahre. Deren Zahl hat nicht zugenommen, Herr Brüderle - Sie sind ja so stolz auf den Abbau der Arbeitslosigkeit -, sondern abgenommen, und zwar um 1,4 Millionen. Aber die Zahl der Teilzeitarbeitsplätze hat zugenommen, und zwar um 1,6 Millionen. Jetzt sind wir bei 5,4 Millionen Teilzeitarbeitsplätzen. Die Zahl der Niedriglohnbeschäftigten hat zugenommen: von 5 Millionen auf 6,6 Millionen. Die Zahl der Minijobs ist gestiegen: von 5,5 Millionen auf 7 Millionen. Die Zahl der Leiharbeiter ist gestiegen: von 320 000 auf 921 000. Erklären Sie den betroffenen Menschen, was sie vom Aufschwung haben! Sie haben den ganzen Arbeitsmarkt zerstört und die Gewerkschaften ungeheuer geschwächt. Das merken wir alle.

(Beifall bei der LINKEN)

Selbst die Zahl der Aufstockerinnen und Aufstocker hat während des Aufschwungs zugenommen, und zwar um 100 000. Wir sind jetzt bei 1,4 Millionen. Auch ein toller Aufschwung für die Betroffenen! In Ostdeutschland muss fast jeder Dritte zu einem Einkommen unter 860 Euro arbeiten. In ganz Deutschland sind es 22 Prozent. Eine Studie hat jetzt herausgearbeitet, dass eine Leiharbeiterin oder ein Leiharbeiter im Schnitt 900 Euro weniger verdient als eine Beschäftigte oder ein Beschäftigter ohne Berufsausbildung. Daran müssen Sie etwas ändern. Anstatt vom Aufschwung zu reden, sollten Sie sich um das Schicksal von Millionen Menschen in diesem Land kümmern.

(Beifall bei der LINKEN)

Was wir jetzt wirklich dringend brauchen - das verweigern Sie leider, gerade Sie von der FDP -, ist ein flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn. Sie wissen gar nicht, was Sie anrichten, wenn am 1. Mai Freizügigkeit herrscht und wir keine Mindeststandards diesbezüglich gesetzt haben. Ich sage Ihnen: Die Folge werden dann eine zunehmende Ausländerfeindlichkeit und ein zunehmender Rassismus sein.

(Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU): Die schüren Sie doch gerade wieder! - Zurufe von der FDP: Sie schüren die doch!)

Das können wir überhaupt nicht gebrauchen. Übernehmen Sie einfach einmal Verantwortung, und führen Sie einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn in Deutschland ein!

(Beifall bei der LINKEN   Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP): Sie und die NPD schüren das doch!)

- Quatschen Sie doch nicht so ein dummes Zeug, Herr Lindner! Was an Ihnen liberal ist, würde ich auch gerne wissen. Sie sind das Intoleranteste, was mir je begegnet ist.

Abgesehen davon, sage ich Ihnen, weil Sie vom Aufschwung reden: Die Druckerei Schlott macht gerade dicht. 2 000 Beschäftigte werden in Freudenstadt, Nürnberg, Landau und Hamburg entlassen. Das Unternehmen Alstom Power in Mannheim baut 400 Stellen ab. Erklären Sie den betroffenen Menschen den Aufschwung!

Die Lohnsteigerungen, die wir jetzt brauchen, müssen wirklich von einem anderen Kaliber sein als in den vergangenen Jahren. Wir hatten einen Reallohnverlust von 4,5 Prozent. Deshalb sage ich: Wir brauchen in diesem Jahr einen Anstieg der Reallöhne um mindestens 5 Prozent, angemessen wären 10 Prozent, wenn man tatsächlich an einen Produktivitätsaufschwung denkt.

(Beifall bei der LINKEN - Zurufe von der FDP)

Ja, wir brauchen Rentenerhöhungen. Wir brauchen auch Erhöhungen der Sozialleistungen. Statt Hartz IV brauchen wir endlich eine angemessene Grundsicherung in unserer Gesellschaft, und zwar sanktionsfrei.

(Beifall bei der LINKEN - Zurufe von der FDP)

Sie sagen, die gesamte Entwicklung sei toll, sie gingen einen anderen Weg, und die anderen Länder machten alles falsch. Ich kenne diese Art von Egozentrismus. Ich glaube, er ist völlig falsch. Ich will Ihnen sagen, was Sie in Griechenland anrichten. In Griechenland werden die Reallöhne um 11,2 Prozent gesenkt, die Industrieproduktion um 20,7 Prozent, die Industrieaufträge sind um über 46 Prozent zurückgegangen. Das alles finden Sie richtig. Sie sagen: Die müssen sparen, sparen, sparen. Dasselbe sagen Sie bei Irland, dasselbe sagen Sie bei Portugal, und dasselbe sagen Sie bei Spanien. Ich sage Ihnen: Verträge, die die Menschen zu einem solchen Sozialabbau zwingen, haben verheerende Folgen.

Sie müssen das einmal in einem Geschichtsbuch nachlesen. Durch den Vertrag von Versailles wurde Deutschland gezwungen, einen solchen Weg zu gehen. Der Weg war völlig falsch; denn er hat mit dazu geführt, dass die Nazis so stark geworden sind. Wir können überhaupt nicht regulieren, was in den genannten Ländern passiert, wenn Sie dort einen solchen Sozialabbau organisieren. Das ist der völlig falsche Weg.

(Beifall bei der LINKEN - Zuruf von der FDP: Geschichtsklitterei!)

Ich habe übrigens noch ein Beispiel für den Aufschwung. Die Europäische Zentralbank darf Griechenland keinen Kredit geben. Aber die Europäische Zentralbank darf der Deutschen Bank einen Kredit geben. Die Deutsche Bank holt sich dort 1 Milliarde Euro und zahlt 1 Prozent Zinsen. Dann geht die Deutsche Bank nach Griechenland und sagt: Ihr bekommt die Milliarde, aber ihr müsst leider 11 Prozent Zinsen zahlen. Da verdient die Deutsche Bank für eine Überweisung 10 Prozent Zinsen, das sind 100 Millionen Euro. In diesem Bereich organisieren Sie den Aufschwung, das stimmt, Herr Brüderle, aber wir brauchen einen anderen Aufschwung in unserer Gesellschaft.

(Beifall bei der LINKEN - Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): Risikoaufschlag!)

  So ein Quatsch.

Wir haben es mit Spekulationen auf den Nahrungsmittel- und Rohstoffmärkten zu tun. Die Weizenpreise sind um 40 Prozent gestiegen. Ich sage Ihnen: Spekulationen mit Nahrungsmitteln sind ein Verbrechen. Das müssen Sie verbieten.

(Beifall bei der LINKEN)

Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Sie wollen nur den Export stärken, wir wollen die Binnenwirtschaft stärken. Sie wollen und organisieren den Aufschwung für die Deutsche Bank, die Konzerne, die Großaktionäre und die Vermögenden, wir dagegen fordern einen Aufschwung für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, für die Rentnerinnen und Rentner, für die Hartz-IV-Beziehenden und die kleinen und mittleren Unternehmerinnen und Unternehmer. Es wird Zeit, dass auch sie einen Aufschwung erleben.

(Beifall bei der LINKEN)