Rede in der 160. Sitzung des Bundestages zur Abgabe einer Regierungserkärung durch die Bundeskanzlerin zum Europäischen Rat am 17./18. März 1026 in Brüssel
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Bundeskanzlerin, Sie haben mehrfach in Ihrer Rede davon gesprochen, dass die aktuelle Flüchtlingskrise nur gelöst werden kann, wenn die Fluchtursachen beseitigt werden. Ja, das ist richtig, aber das darf nicht zu einer Phrase werden, meine Damen und Herren.
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))
Ich will es noch einmal klar und deutlich sagen: Die Flüchtlinge sind die Botschafter der Kriege und des Elends dieser Welt. Deutschland und Europa müssen an die Ursachen, an den Kern des Problems gehen, und der liegt nun mal im Krieg und in der Zerstörung in Syrien, im Irak und in der ganzen Region. Das bedeutet aber auch: Schluss mit Waffenlieferungen in Krisenregionen, Schluss mit militärischer Logik in Krisenregionen
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
und Nachdenken über eine andere Weltwirtschaftsordnung. Ich könnte jetzt noch einmal die Situation in Afghanistan seit 2002 schildern. Da sehen wir die Ergebnisse der Politik. Das kann so nicht weitergehen.
(Beifall bei der LINKEN)
Sie haben zu Beginn Ihrer Rede auf die Situation in Griechenland Bezug genommen. Ich habe gestern ein Video gesehen, das Norbert Blüm in Idomeni zeigt. In diesem Video sagt er: Was ist das für ein Europa? Hier, wenn ich die Bahngleise sehe, wenn es um Geschäft und Waren geht: freie Bahn, wenn es um die Menschen geht: dann nicht. Geldgeschäfte: global und grenzenlos. Wenn es um die Menschen geht: eingesperrt. Was ist das für eine Welt? Ist das Globalisierung? - Norbert Blüm hat mit den Fragen und der Analyse völlig recht.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Es ist leider so: An vielen innereuropäischen Grenzen und auch an seinen Außengrenzen hat Europa seine Humanität, seine Menschlichkeit verloren. Der Tod - Sie haben die Zahlen genannt - ist zu einer alltäglichen Nachricht geworden, und es sind keine Lösungen in Sicht. Das große Projekt Europa, das ein Projekt des Friedens, der Kultur und der Solidarität ist, steht vor dem Scheitern. Es geht Europa nicht gut, Frau Bundeskanzlerin. Um diese Dimension geht es, um nicht mehr und auch nicht um weniger.
(Beifall bei der LINKEN)
Nun sind in diesen Gipfel auch mit Blick auf die Landtagswahlen, die stattgefunden haben, viele Erwartungen gesetzt worden. Natürlich ist unbestritten: Die Türkei ist ein Schlüsselland in dieser Krise. Sie meinen, Lösungen gefunden zu haben, indem Sie mit dem Despoten Erdogan einen Schulterschluss suchen. Erdogan diktiert Europa Bedingungen.
Frau Merkel, Sie haben eben von Angemessenheit gesprochen. Sie hofieren einen Mann, der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler entlässt, weil sie von ihrem Recht der freien Meinungsäußerung Gebrauch machen und sich für den Frieden in der Türkei einsetzen. Sie hofieren einen Mann, der die Türkei zu einer Kriegspartei in Syrien gemacht hat, der die Türkei über Jahre zu einem Transitland des Terrorismus gemacht hat. Sie hofieren einen Mann, der Journalisten verhaften lässt, der die Pressefreiheit abschafft und kritische Zeitungen staatlich besetzen lässt. Sie hofieren einen Mann, der Krieg gegen die eigene Bevölkerung, gegen die Kurden führt mit Hunderten Toten, der sogar im Irak, also in einem anderen Land, bombardieren lässt. Sie hofieren einen Mann, der Frauen niederknüppeln lässt und der kurz vor dem Internationalen Frauentag mit Gummigeschossen gewaltsam gegen eine friedliche Demonstration von Frauen vorgegangen ist. 103 ermordete Frauen im Jahr 2015! Mit so einem Partner kann es keine Lösung für Europa geben. Menschenrechte dürfen nirgendwo und niemals auf dem Verhandlungstisch liegen.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Volker Kauder (CDU/CSU): Russland! Russland!)
- Auch nicht in Russland, Herr Kauder. Da haben Sie völlig recht. Ich habe „nirgendwo“ gesagt.
Ihre Vorvereinbarung auf dem letzten EU-Gipfel besagt, dass Sie Flüchtlinge vor allen Dingen aus Griechenland wieder in die Türkei abschieben wollen. Sie haben das eben noch einmal dargelegt. Für jeden abgeschobenen Flüchtling sollen andere aus Syrien in die EU einreisen dürfen. Darunter sind im Übrigen unter Umständen auch Kurdinnen und Kurden. Stellen Sie sich vor, dass von Griechenland Kurdinnen und Kurden in die Türkei abgeschoben werden. Was ist denn das für eine Herangehensweise? Das kann doch nicht wahr sein.
(Beifall bei der LINKEN)
Das alles ist ein scheinheiliger Deal. Sie schaffen damit das fundamentale Recht in der Europäischen Union auf ein individuelles Asylverfahren ab. Dieses Recht ist aber nun einmal ein Grundrecht.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Zuruf von der CDU/CSU: Das stimmt nicht!)
Während in Idomeni im Dreck und in Fäkalien Kinder geboren werden und leben müssen, machen Sie uns vor, dass es eine europäische Lösung geben kann. Sie haben völlig recht - auch Herr Blüm hat das gesagt -: 500 Millionen Europäer müssten in der Lage sein, dieses Problem zu lösen. Ja, es muss eine europäische Lösung unter Einbeziehung der Menschen geben. Doch das Problem ist: Europa folgt Ihnen nicht mehr. Sie haben eben de facto kein Wort zu den problematischen europäischen Partnern gesagt, weder zu Ungarn noch zu Polen oder zu Frankreich. Beim Verteilungsschlüssel wollen die EU-Staaten nicht mitmachen. Das ist doch die reale Lage. Der UN-Hochkommissar für Flüchtlinge, al-Hussein, bezeichnet die kollektive und willkürliche Ausweisung von Flüchtlinge sogar als illegal. Das Europäische Parlament ist gegen Ihren Vorschlag. Die Mehrzahl der EU-Staaten will nicht mitmachen.
Es gibt dafür einen Grund: Frau Bundeskanzlerin, Sie haben einen Beitrag dazu geleistet, dass Europa so entzweit ist. Das hat auch mit Alleingängen und Drohungen Richtung Athen vor anderthalb Jahren zu tun. Das ist doch die Realität. Ist Ihnen aufgefallen, dass Nicht-EU-Staaten die Grenzen zu uns dichtmachen? Mazedonien baut Grenzanlagen gegen die EU. Früher wollten diese Länder die Schlagbäume Richtung EU einreißen. Das alles ist auch das Ergebnis von zehn Jahren Ihrer Politik, Frau Merkel. Das ist ein Ergebnis Ihrer Politik.
(Beifall bei der LINKEN)
Sie sind mitverantwortlich für die politische, humanitäre und soziale Krise in Europa. Sie waren es doch, die sich mit ihrem Finanzminister geweigert hat, die Verantwortlichen für die Wirtschafts- und Finanzkrise wirklich zur Verantwortung zu ziehen.
Das, was Krise in Griechenland, Spanien und anderen Ländern ist, ist im Übrigen auch Krise in unserem Land. Auch da sage ich ganz klar: Was waren denn die Rezepte? Weiterhin die schwarze Null. Ein Ergebnis ist, dass es in unserem Land auf der einen Seite immer mehr Kinder und immer mehr Rentnerinnen und Rentner in Armut gibt und dass auf der anderen Seite wenige Menschen extrem viel Geld besitzen, und zwar obszön viel Geld, meine Damen und Herren.
(Beifall der Abg. Kathrin Vogler (DIE LINKE))
Warum wird die ungerechte Verteilung von Einkommen und Vermögen in Deutschland und Europa angesichts dieser Krise nicht einmal thematisiert?
(Beifall bei der LINKEN)
Kurz vor den Landtagswahlen kam der Vizekanzler mit der Forderung, in Deutschland müsse mehr in Sachen „sozial“ getan werden. Das, lieber Herr Gabriel, kam zwar spät und direkt vor den Wahlen - na ja -, aber es ist völlig richtig. Auch wir sind dieser Auffassung. Allerdings sind wir der Auffassung, dass es für alle in diesem Land ein Solidaritätspaket geben sollte. Ja, das sollten wir machen.
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
Deswegen gibt es unseren Entschließungsantrag. Wir fordern mehr Investitionen unter anderem in den sozialen Wohnungsbau, ins Gesundheitswesen, in Schulen und in Bildung. „5 x 5“ haben wir vorgeschlagen, also fünfmal 5 Milliarden Euro für ein soziales Land, solide finanziert. Das muss doch wirklich möglich sein.
(Beifall bei der LINKEN)
Meine Damen und Herren, es wurde in diesem Land bereits viel Vertrauen in die Politik zerstört. Was das bedeutet, haben wir alle am letzten Sonntag sehen können. Die Braunen im nationalkonservativen blauen Gewand sind in drei Landtage zweistellig eingezogen, und sie fischen ganz bewusst am ganz rechten Rand.
(Matern von Marschall (CDU/CSU): Und am ganz linken!)
Die AfD ist aber nicht nur rechtspopulistisch und rassistisch. Nein, sie würde das Land sogar noch unsozialer machen. Die AfD spaltet die Gesellschaft. Sie will Hartz IV absenken, den Mindestlohn abschaffen, die Frauen zurück an den Herd schicken und fürs Vaterland gebären lassen. Deshalb, meine Damen und Herren: Das übliche Parteiengeplänkel ist keine Antwort auf die Fragen der Zeit. Alle in diesem Haus haben am 13. März verloren. Das muss man erst einmal anerkennen und entsprechend handeln.
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
Wir als demokratische Sozialistinnen und Sozialisten haben einen Vorteil. Wir sagen: Wir können niemals glücklich sein, wenn andere unglücklich sind.
(Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Oh! Oh! - Zurufe von der SPD: Na! - Wirklich?)
- Sie auch? Sehr schön. Nur mittun! Sie haben nachher die Möglichkeit; denn dann findet eine wunderbare Abstimmung statt.
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
Die alten Recken der Union haben das im Übrigen begriffen. Sie haben begriffen: Die Menschen in diesem Land wollen wieder ernst genommen und gehört werden, und sie wollen mehr soziale Gerechtigkeit. Wir haben das verstanden. Ich hoffe, Sie auch. Kommen Sie mit den entsprechenden Ergebnissen vom Gipfel zurück!
Herzlichen Dank.
(Beifall bei der LINKEN)