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EU: Entscheidend ist, was die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger will

Archiv Linksfraktion - Rede von Gregor Gysi,

Gregor Gysi in der Debatte zum 50. Jahresttag der Römischen Verträge

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!

Vor 50 Jahren wurden die Römischen Verträge geschlossen und die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft gebildet. Sie hatte ursprünglich drei Ziele: Erstens wollte man eine gemeinsame ökonomische Stärke - auch gegenüber dem sowjetischen Bereich - herausarbeiten. Man muss sagen: Das ist wohl ganz gut gelungen. Zweitens wollte man nach Faschismus und Zweitem Weltkrieg Deutschland einbinden und in gewisser Hinsicht auch unter Kontrolle nehmen. Auch das - so kann man sagen - ist ganz gut gelungen und heute so vielleicht nicht mehr nötig. Drittens wollte man keine Kriege mehr in Europa, und zwar nicht nur zwischen den Mitgliedsländern, sondern in ganz Europa nicht. Da gibt es eine unangenehme Ausnahme - das muss ich sagen -: Das ist der völkerrechtswidrige Angriffskrieg gegen Jugoslawien, der nie hätte stattfinden dürfen.

(Beifall bei der LINKEN)

Unklar ist bis heute, ob die EWG, die inzwischen nicht mehr EWG, sondern EU, Europäische Union, heißt, ein Staatenbund oder ein Bundesstaat werden soll. Das wurde nie wirklich ausdiskutiert. Das verunsichert die Leute, weil das Ziel nicht völlig klar ist.
Zum Ende des Kalten Krieges passierte etwas, was hier schon beschrieben worden ist: Osteuropa kam hinzu. Die EU hat jetzt 27 Mitgliedsländer; das ist natürlich eine völlig andere Größe mit anderen Herausforderungen, als wir sie früher hatten. Es gibt seit 1945 positive Veränderungen in Europa - das kann man so sagen -, auf die Guido Westerwelle hingewiesen hat.
Aber wir sind nicht nur eine Wirtschaftsunion. 13 Mitgliedsländer waren damals auch an der Einführung einer Währungsunion beteiligt. Ich möchte daran erinnern, dass wir damals sagten: Euro, so nicht! Dies hieß ja nicht: Euro, nein!

(Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ja, ja!)
Wir sagten vielmehr: Die Voraussetzungen fehlen,
(Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Oh!)

nämlich eine politische Union, eine Steuerharmonisierung, Mindestlöhne sowie soziale und juristische Mindeststandards für die Bürgerinnen und Bürger. All das war und ist im Kern bis heute nicht vereinbart. Das ist das Problem der Währungsunion.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich sage Ihnen auch, warum: Weil dadurch Ängste entstehen. Dadurch lebte der Nationalismus in den Ländern wieder auf, und Parteien, zum Beispiel die NPD, hatten Erfolge, die wir alle hier in Deutschland nicht wollen. Deshalb müssen wir die Europäische Union in unserem gemeinsamen Interesse in Zukunft anders gestalten.

(Beifall bei der LINKEN)

Durch den Maastrichtvertrag und die Lissabonstrategie übernahm man dann die neoliberale Ausrichtung der EU. Ich erinnere daran: Seitdem wird in ganz Europa über Privatisierung diskutiert. Ob es Stromkonzerne oder Verkehrsnetze sind - all das, was mit öffentlicher Daseinsvorsorge zu tun hat, soll Schritt für Schritt privatisiert werden. Das entmündigt die Politik. Im Bewusstsein der Menschen reduziert sich dadurch die Bedeutung der Demokratie. Denn wenn ich oder Sie Bürgermeister sein können, wir beide aber nichts mehr zu entscheiden haben, weil sowieso alles privatisiert ist, dann wird die Wahl für die Leute unwichtiger. Es geht hier also auch um Kernfragen der Demokratie.

(Beifall bei der LINKEN Zuruf von der FDP: Quatsch auf niedrigem Niveau!)

Dann zur Deregulierung. Wir führen in Deutschland und auch in Europa seit langer Zeit die Debatte um den Kündigungsschutz. Die Zahl der befristeten Arbeitsverträge hat in Deutschland enorm zugenommen. Über 50-Jährige können immer wieder befristet eingestellt werden. Es ist die Frage: Bringt das den über 50-Jährigen etwas? Es ist dadurch kein einziger zusätzlicher Arbeitsplatz entstanden. Wissen Sie, was der einzige Unterschied zwischen einem Arbeitnehmer mit einem unbefristeten und einem mit einem befristeten Arbeitsverhältnis ist? Entlassen werden können zwar beide; aber der eine hat Anspruch auf Abfindung und der andere nicht. Es geht nur ums Geld, und zwar zum Nachteil der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.

(Beifall bei der LINKEN)

Derzeit gibt es eine Dominanz der Marktkontrolle und immer weniger gesellschaftliche Gestaltung. Dazu passt die Dienstleistungsrichtlinie, die Sie, Herr Westerwelle, wenn ich es richtig verstanden habe, ein bisschen gewürdigt haben. Sie ist ja zum Glück nicht so in Kraft getreten, wie sie ursprünglich geplant war; das muss ich hinzufügen. Sie können doch nicht im Ernst eine Richtlinie anstreben, in der gesagt wird: Rumänische Unternehmen können in Deutschland vollständig zu rumänischen Bedingungen und auch zu rumänischen Löhnen arbeiten. Damit zerstören Sie den europäischen Integrationsgedanken.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich habe davon gesprochen: Es gibt keine Steuerharmonisierung. Nun ist die Frage: Wer setzt hier eigentlich wen unter Druck? Ich darf Ihnen ein Beispiel nennen. Nehmen wir doch einmal die jetzt vom Bundesfinanzminister Steinbrück von der SPD vorgeschlagene Senkung der Körperschaftsteuer. Ich bitte Sie: Der Steuersatz lag mal bei 45 Prozent, dann bei 40 Prozent und jetzt bei 25 Prozent. Nun sagt er: Die Deutsche Bank und andere Kapitalgesellschaften sollen nur noch einen Steuersatz von 15 Prozent zahlen. Im Vergleich dazu haben die drei Länder Frankreich, Großbritannien und USA ich weiß, die USA sind nicht in der EU; Sie brauchen mich nicht zu korrigieren; ich sage es trotzdem jeweils Körperschaftsteuersätze von 30 bis 35 Prozent. Wir setzen diese Länder doch unter Druck.

(Beifall bei der LINKEN)

Dort werden Debatten beginnen, und man wird sagen: Die Steuersätze müssen herunter, weil Deutschland seine so senkt.
Nehmen wir die Löhne. Wenn wir etwas machen, dann machen wir es komplett, also immer zu 100 Prozent. In allen europäischen Ländern sind die Löhne in den letzten Jahren gestiegen. Nur in Deutschland sind sie in den letzten acht Jahren um 1 Prozent gesunken, was natürlich auch die Kaufkraft reduziert und damit die mittleren und kleinen Unternehmen schwächt, die auf den Binnenmarkt angewiesen sind.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir haben jetzt zwei Krisen: Das eine ist eine Verfassungskrise, und das andere ist eine Krise hinsichtlich der gemeinsamen Außenpolitik.
Die Verfassungskrise ist ganz klar. Es ist ein Entwurf vorgelegt worden, der Aufrüstung und auch ein weltweites militärisches Agieren der EU vorsieht. Das war ursprünglich gar nicht der Gedanke, als die Verträge vor 50 Jahren geschlossen worden sind. Es ist eine neoliberale Ausrichtung enthalten. Es gibt keine sozialen Grundrechte. Es gibt wohl politische Grundrechte, aber keine sozialen Grundrechte. Entsprechende Standards gibt es auch nicht.
Das alles hat dazu geführt, dass die Mehrheit der Französinnen und Franzosen und auch der Niederländerinnen und Niederländer Nein gesagt hat. Was nun? Jetzt wird ständig über Tricks nachgedacht, wie man das ohne Volksentscheid hinkriegt. Das ist doch nicht die Lösung! Wir müssen eine viel kürzere, eine klare, eine die Rechte stärkende Verfassung erarbeiten, alle Mitgliedsländer müssen Volksentscheide durchführen, und überall muss eine Mehrheit Ja sagen.

(Beifall bei der LINKEN)

Dann ist es akzeptiert. Das wäre auch ein demokratischer Fortschritt in Europa.
Wo ist die Krise in der Außenpolitik entstanden? Sie ist ganz klar bei der Frage „Irak“ entstanden. Großbritannien hat ganz klar Ja gesagt. Deutschland hat Nein gesagt. Später haben wir festgestellt, nur zu 80 Prozent; aber immerhin.

(Dr. Peter Struck (SPD): Nicht zu 80 Prozent! Das ist Quatsch!)

Es ist ein Verdienst. Das hat auch eine eigenständige Außenpolitik im Verhältnis zu den USA begründet. Dann ging die Spaltung durch die gesamte EU. Was soll man denn nun sagen, was die gemeinsame Außenpolitik der Europäischen Union in Bezug auf den Irak ist? Es gibt darauf keine Antwort. Das hat uns diesbezüglich weit zurückgeworfen.
Jetzt kriegen wir - das ist nicht vergleichbar - wieder eine solche Spaltung in Bezug auf die Raketenaufstellung in Polen und Tschechien. Bei dieser Frage denkt und handelt die EU wiederum nicht einheitlich. Ich denke, wir stimmen überein, dass wir eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik brauchen. Dafür muss man eine Menge tun.
Die europäische Integration - das ist ja eine Ausnahme - ist das Einzige, was alle Fraktionen in diesem Haus wollen.

(Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU): Sie haben es nicht gewollt!)

Das ist übrigens etwas, worüber man ernsthaft nachdenken muss. Aber die Frage ist, wie wir sie viel besser hinkriegen. Das Entscheidende ist nicht, ob wir das alle wollen, sondern ob auch eine Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger das will. Um das zu erreichen, brauchen wir andere, positive Erfahrungen für die Bürgerinnen und Bürger. Das heißt, wir brauchen in der EU mehr Demokratie und weniger Bürokratie. Wir brauchen mehr Steuergerechtigkeit, kein Lohn- und Sozialdumping, sondern mehr soziale Standards und deutlich weniger Arbeitslosigkeit. Wir brauchen mehr ökologische Nachhaltigkeit. Wir brauchen mehr Bildung und Kultur und weltweite Friedenseinsätze, nicht weltweite Kriegseinsätze.

(Beifall bei der LINKEN)

Das muss die EU ausstrahlen. Wenn wir das hinkriegen, dann hätten auch demokratische Parteien deutlich höhere Chancen und die NPD spielte - wie sie es verdient - eine völlig marginale Rolle. Lassen wir uns die EU nicht kaputtmachen! Aber dazu müssen wir sie ändern, auch von ihren Grundlagen her.
Danke.

(Beifall bei der LINKEN)