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Foto: Rico Prauss

Erdogan erpresst Europa

Archiv Linksfraktion - Rede von Dietmar Bartsch,

Rede in der 166. Sitzung des Bundestages in der Aktuellen Stunde auf Verlangen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zum Umgang mit der Presse- und Meinungsfreiheit in der Türkei

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist gut, dass die Grünen eine Aktuelle Stunde zu diesem Thema beantragt haben. Ich glaube, wir müssen diese Debatte in einen Gesamtkontext stellen. Es hat natürlich mit dem Deal der Bundesregierung zum Thema Flüchtlinge zu tun. Es hat damit zu tun, dass Herr Erdogan in der Türkei verkündet hat, dass ab 1. Juli dieses Jahres Visafreiheit herrschen wird. Es gibt im Übrigen auch den Zusammenhang, dass der Parlamentspräsident, Herr Kahraman, gesagt hat, man brauche eine islamische Verfassung. Das alles sind Dinge, die mit zu diesem Thema gehören. Herr Erdogan hat, wenn man es nett sagen möchte, eine Schlüsselstellung. Man kann aber auch sagen: Herr Erdogan nutzt diese und erpresst Europa. Das Schlimme ist: Er kann Europa erpressen, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Thomas Jefferson hat vor rund 240 Jahren gesagt:

Wo Pressefreiheit herrscht und jedermann lesen kann, da ist Sicherheit.

Ich füge heute hinzu: Wo Journalistinnen und Journalisten frei berichten können, nicht attackiert, verhaftet oder ermordet werden, dort erst können Bürgerinnen und Bürger die Demokratie frei gestalten.

(Beifall bei der LINKEN)

Wie aber ist die Lage in der Türkei? „Reporter ohne Grenzen“ hat festgestellt, dass die Türkei bei der Pressefreiheit auf Platz 151 von 180 Ländern liegt. Aktuell sind über drei Duzend Journalistinnen und Journalisten in Haft. Unsere Fraktion hatte in der letzten Woche die Ehefrau von Can Dündar, dem Chefredakteur der Cumhuriyet, zu Besuch. Wenn man einen Betroffenen in der Fraktion zu Besuch hat und mit ihm redet, dann gewinnt man einen anderen Eindruck. Man erfährt zum Beispiel, dass Redaktionen gestürmt werden. Wenn man sich das alles vor Augen führt, bekommt man eine andere Sicht auf die Situation.

Im Übrigen betrifft das inzwischen auch Journalisten von hier. Der ARD-Journalist Volker Schwenck wurde über zehn Stunden am Flughafen in der Türkei festgehalten und an der Einreise gehindert. Seit dem Amtsantritt von Herrn Erdogan gab es in der Türkei über 2 000 Verfahren wegen Verunglimpfung des Staatspräsidenten.

(Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): Unglaublich!)

Meine Damen und Herren, das ist doch skandalös.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Herr Böhmermann, der hier genannt wurde, ist nur das prominenteste Beispiel hier in Deutschland. Viele haben gesagt, dass es ein großer Fehler der Kanzlerin war, sich hierzu öffentlich zu äußern. Sie hat diesen Fehler eingeräumt. Es wurde auch wirklich Zeit.

Aber, meine Damen und Herren, es ist mehr nötig. Wenn früher autokratische Staatschefs besucht wurden, dann hatte der Besucher immer eine Liste mit Personen dabei, die aus dem Gefängnis zu entlassen waren und vor Verfolgung geschützt werden sollten. Hatte die Bundeskanzlerin auf ihrer Reise eigentlich auch einen solchen Zettel mit? War das so? Haben Sie Herrn Erdogan wirklich entsprechende Hinweise gegeben?

Mich erinnert das Verhalten der Kanzlerin daran, was in der Reisewarnung des Auswärtigen Amtes steht - Katrin Göring-Eckardt hat das zitiert -:

Es wird dringend davon abgeraten, in der Öffentlichkeit politische Äußerungen gegen den türkischen Staat zu machen ...

Genau das hat Frau Merkel offensichtlich völlig in sich aufgenommen.

Lieber Herr Nick, Sie haben gesagt: Wir betrachten das mit Aufmerksamkeit - na, Donnerwetter! -, wir haben keinen Nachholbedarf - na, Donnerwetter! -, wir wollen keinen erhobenen Zeigefinger. - Entschuldigen Sie, bei dieser Entwicklung ist nun wirklich etwas mehr nötig.

(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wie hat Maxim Gorkij gesagt?

Die Abschaffung der Pressefreiheit ist eine physische Vergewaltigung und der Demokratie unwürdig.

Wir müssen aufpassen, dass das Grundrecht auf Presse- und Meinungsfreiheit hierzulande und in Europa nicht aktuellen politischen Erwägungen geopfert wird.

Es ist eben so: Der lange Arm Erdogans reicht inzwischen sehr weit. Am Wochenende wurde die Forderung des türkischen EU-Botschafters bekannt, Fördermittel der Europäischen Union für das Konzertprogramm Aghet - Agit der Dresdner Sinfoniker nicht auszuzahlen. In diesem Stück wird der Massenmord an den Armeniern vor hundert Jahren als Genozid bezeichnet. Die EU-Kommission ist der Forderung zwar nicht nachgekommen, hatte aber nach Angaben der Dresdner Sinfoniker eine Entschärfung der bisherigen Formulierung auf ihrer Internetseite angekündigt, und die Projektbeschreibung wurde deshalb von der Internetseite heruntergenommen. Das dürfen Demokratinnen und Demokraten nicht akzeptieren. Die Erpressungen müssen aufhören.

(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Ich will zum Schluss kommen und noch einmal zitieren:

Die Presse muss die Freiheit haben, alles zu sagen, damit gewisse Leute nicht die Freiheit haben, alles zu tun.

In diesem Sinne, Frau Bundeskanzlerin und liebe Bundesregierung - der Bundesaußenminister ist ja anwesend -: Finden Sie deutliche Worte! Es geht nicht um erhobene Zeigefinger, es geht um die Werte, die wir haben - die Werte in unserem Land und die Werte Europas. Deswegen erwarten wir eine deutliche öffentliche Positionierung.

Die Türkei ist ein NATO-Partner, und sie will sogar in die EU. Bei diesen Voraussetzungen - Stichworte: Frauenrechte, Politik gegen Kurdinnen und Kurden, Trennung von Kirche und Staat, nicht zuletzt Pressefreiheit - ist das für uns hier in diesem Hause aber nicht akzeptabel. Das dürfen wir in diesem Hause - und zwar alle politischen Parteien - niemals akzeptieren.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)