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Eine letzte Chance für den Osten

Rede von Gregor Gysi,

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Osten ist und bleibt das Stiefkind aller Bundesregierungen seit der Herstellung der Deutschen Einheit.

(Hannes Walter [SPD]: So ein Quatsch! – Dr. Rainer Kraft [AfD]: Nee, die SED hat ihn schon kaputtgemacht!)

Es ist einerseits richtig, dass die Ostdeutschen an Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit gewonnen haben. Es wurden Infrastruktur, Wohnungen, Innenstädte, Kirchen, Schlösser und historische Gebäude saniert. Aber andererseits wurden die Potenziale des Ostens weder erkannt noch genutzt.

(Dr. Rainer Kraft [AfD]: Die SED! – Jens Spahn [CDU/CSU]: Wer hat ihn denn kaputtgemacht?)

Sie haben die DDR auf Mauertote und Staatssicherheit reduziert und sich für das Leben dort nicht interessiert.

Sie haben weder erkannt noch genutzt, dass in der DDR die Gleichstellung der Geschlechter weiter entwickelt war als in der alten Bundesrepublik

(Maja Wallstein [SPD]: Die Frauen hatten trotzdem 100 Prozent Carearbeit!)

und dass es sehr viele gut entwickelte Kindereinrichtungen und Schulstrukturen gab. Sie haben sich nicht dafür interessiert, dass die DDR schon eine Behaltegesellschaft war, während die Bundesrepublik damals noch als Wegwerfgesellschaft fungierte. Wäre das übernommen worden, wäre das Selbstbewusstsein der Ostdeutschen nicht so gedrückt worden,

(Beifall bei der Linken – Zuruf des Abg. Dr. Rainer Kraft [AfD])

und die Westdeutschen hätten eine Steigerung ihrer Lebensqualität dank des Ostens erlebt.

Die Deindustrialisierung brachte Millionen Menschen Arbeitslosigkeit und sollte Konkurrenz für westdeutsche Unternehmen verhindern.

(Gerald Ullrich [FDP]: Der Sozialismus brachte die Arbeitslosigkeit!)

Wohnungen wurden massenhaft abgerissen, das am weitesten verbreitete Bahnstreckennetz in Europa deutlich eingeschränkt.

(Jens Spahn [CDU/CSU]: Erst das Land so runterwirtschaften und dann hier so reden! Das sind die Richtigen!)

Das war Wahnsinn und eine Verschleuderung von Vermögen.

(Beifall bei der Linken – Jens Spahn [CDU/CSU]: Apropos Vermögen: Wo ist eigentlich das SED-Vermögen? – Gegenruf des Abg. Sepp Müller [CDU/CSU]: Wo ist das?)

Noch heute sind Löhne im Osten geringer, die Arbeitszeit länger, die Renten niedriger, die Arbeitslosigkeit höher.

(Zuruf von der CDU/CSU)

– Sie meinen, das sei nicht das Thema. Es ist für Sie nicht das Thema. Aber den Osten interessiert genau dieses Thema.

(Beifall bei der Linken – Sepp Müller [CDU/CSU]: Ja, wo das SED-Vermögen ist, interessiert den Osten! Das stimmt! Sagen Sie mal aus!)

Diese Erfahrungen lassen viele befürchten, dass der Strukturwandel in der Kohleregion zu ihrem Nachteil ausgehen wird.

(Maja Wallstein [SPD]: Ja, die Angst ist da! Das stimmt!)

Jeder Kumpel, jede Kranfahrerin muss wissen, welchen gleichbezahlten Job er und sie danach haben werden, und zwar nicht Hunderte Kilometer entfernt.

(Beifall bei der Linken)

Anders wird es keine Akzeptanz geben.

Wenn Finanzminister Lindner das 49-Euro-Ticket gegen die dringend notwendigen Investitionen bei der Bahn ausspielt, ahnt man, wie das läuft. Für die FDP ist die schwarze Haushaltsnull wichtiger als die Zukunft der Menschen.

(Manfred Todtenhausen [FDP]: Es gibt keine schwarze Null! Das heißt „Schuldenbremse“!)

Wie viele Krisen brauchen Sie noch, um zu begreifen, dass die Schuldenbremse, so wie sie derzeit konstruiert ist, die Zukunft unseres Landes verspielt? Darauf haben nur wir von Anfang an hingewiesen.

(Beifall bei der Linken – Jens Spahn [CDU/CSU]: 3-Prozent-Partei!)

Das schlimmste Verhalten jeder Bundesregierung bisher bestand und besteht in dem mangelnden Respekt für die ostdeutschen Biografien, obwohl dort viele sehr gut qualifiziert waren und sind. Schon diese Missachtung lässt eine wirkliche innere Einheit nicht zu.

Den Strukturwandel in den Braunkohleregionen wirklich fair und sozial gerecht zu gestalten, ist vielleicht eine der letzten Chancen, den Ostdeutschen zu zeigen, dass sie endlich und vollständig gleichberechtigt zum Land gehören. Dafür ist es mehr als höchste Zeit!

(Beifall bei der Linken)