Beratung der Großen Anfrage der Fraktion der FDP
"Achtung der Grundrechte"
Petra Pau (DIE LINKE):Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Große Anfrage der FDP hat schon einige Monate auf dem Buckel. Sie ist dennoch höchst aktuell. Ich empfehle sie allen, die an Bürgerrechten interessiert sind, zur Lektüre. Die Fragen zeigen, wie gefährdet Bürgerrechte sind. Die Antworten zeigen, wie selbstgefällig die Bundesregierung damit umgeht.
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Jörg Tauss (fraktionslos))
Deshalb möchte ich eingangs festhalten: Es ist wohlfeil, aus Anlass von 60 Jahren Grundgesetz die Grundrechte in Festreden zu lobpreisen; aber es ist ein Spiel mit dem Feuer, sie einerseits zu loben und andererseits gleichzeitig verkommen zu lassen. Das ist leider politischer Alltag, und das lehnt die Linke ab.
(Beifall bei der LINKEN - Volker Kauder (CDU/CSU): „Politischer Alltag“? Aha!)
Ich will Ihnen das gerne anhand der Großen Anfrage der FDP illustrieren. Die FDP fragte: Wie bewertet die Bundesregierung die Akzeptanz der Grundrechte in der Bevölkerung? Wohlgemerkt: Es geht um die Art. 1 bis 19 Grundgesetz, also um souveräne Rechte aller Bürgerinnen und Bürger. Die Antwort der Bundesregierung lautet: Die Akzeptanz der Grundrechte in der Bevölkerung ist sehr hoch. Dafür spreche allein ich zitiere „die große Anzahl der Verfassungsbeschwerden“. Mit Verlaub: Auf eine solche regierungsamtliche Formulierung muss man erst einmal kommen.
(Beifall bei der LINKEN)
Zur Erinnerung: Die Zahl der Verfassungsbeschwerden nimmt deshalb zu, weil die Regierungskoalition wieder und wieder Gesetze beschließt, die mit dem Grundgesetz auf Kriegsfuß stehen. Anstatt also Selbstkritik zu üben, verbreitet die Bundesregierung Selbstlob. Das ist ein Trauerspiel.
(Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU): 98 Prozent werden gar nicht angenommen!)
In der Schröder/Fischer-Ära wurde ein Luftsicherheitsgesetz beschlossen, das vom Bundesverfassungsgericht völlig zu Recht „kassiert“ wurde; denn SPD und Grüne wollten Gott spielen und entführte Flugpassagiere abschießen lassen ein klarer Verstoß gegen Art. 1 Grundgesetz.
In der Merkel/Müntefering-Ära wurde verfügt, dass Computer heimlich ausgespäht werden. Auch dieser Anschlag auf das Grundgesetz wurde vom Bundesverfassungsgericht gestutzt, leider nur halbherzig, aber immerhin.
(Christoph Strässer (SPD): Wieso „leider“? Das ist doch das Verfassungsgericht!)
Die Einschläge per Gesetz kommen aber immer näher. Individuelle Freiheitsrechte werden relativiert und staatliche Sicherheitsrechte statuiert. Das ist der Trend. So wird das Grundgesetz in Geist und Buchstabe umgedeutet. Der Staat erhebt sich mehr und mehr über die Bürgerinnen und Bürger, und genau das ist verfassungswidrig.
Eine weitere Frage der FDP zielte auf die Demonstrations- und Versammlungsfreiheit. Konkret ging es um den G-8-Gipfel in Heiligendamm. Die Regierungsantwort lautet: Art. 8 Grundgesetz sei wesentlich Ländersache, und Ländersachen kommentiere man nicht. Mit Verlaub: Rund um den G-8-Gipfel war die Bundeswehr mit Personal und Gerät massiv im Einsatz. Ein Camp von G-8-Kritikern wurde sogar aus der Luft per Tiefflug attackiert. Es ist geradezu schäbig, dem Land Mecklenburg-Vorpommern allein die Grundrechtsverstöße rund um den G-8-Gipfel in die Schuhe zu schieben.
(Beifall bei der LINKEN)
Verstoßen wurde damit übrigens auch gegen Art. 35 Grundgesetz, weil er besagt, dass die Bundeswehr im Innern nur bei großen Katastrophen oder besonders schweren Unglücksfällen Amtshilfe leisten darf. Für die Bundeswehr ist doch wohl noch immer die Bundesebene zuständig. Deshalb umgekehrt gefragt: Wenn der G-8-Gipfel offenbar als große Katastrophe oder besonders schwerer Unglücksfall eingestuft wurde, sodass die Bundeswehr helfen musste, warum hat dann die Bundeskanzlerin Merkel so viel Gefahr überhaupt ins Land geholt?
(Lachen bei der CDU Daniela Raab (CDU/CSU): Das ist ja furchtbar lustig! Da muss sie selber lachen! Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU): Ich würde den Mitarbeiter, der das aufgeschrieben hat, entlassen!)
Weiter zur Großen Anfrage der FDP. Mehrere Fragen widmen sich dem Datenschutz. Auch er gilt spätestens seit dem legendären Volkszählungsurteil des Verfassungsgerichtes als verbrieftes Grundrecht.
(Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/CSU): Soll das Recht dem Unrecht weichen?)
Es ist das Grundrecht, das inzwischen auch von Staats wegen zu den bedrohten Arten zählt.
(Dr. Carl-Christian Dressel (SPD): Da möchte man nicht mal mehr was dazwischenrufen, so dumm ist das!)
Ich möchte das an zwei Beispielen illustrieren:
Stichwort eins: Hartz IV. Wer arm dran ist, der muss 150 bis 180 ganz persönliche Daten über sich und seine Umwelt preisgeben. Das würden die Ackermänner nie tun. Kurzum: Wer arm dran ist, wird auch noch seiner Bürgerrechte beraubt.
(Beifall bei der LINKEN)
Stichwort zwei: Vorratsdatenspeicherung. Alles wird registriert: Wer wann wo mit wem telefoniert hat, wer wem eine SMS oder E-Mail geschickt hat, und wer wann im Internet welche Internetseite geöffnet hat.
(Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/CSU): Für Abrechnungszwecke gibt es das schon lange! Das ist doch nichts Neues!)
All das hält die Linke für grundrechtswidrig.
Auch dagegen laufen übrigens Klagen beim Bundesverfassungsgericht.
Meines Wissens ist es das erste Mal in der Geschichte der Bundesrepublik, dass gleich zwei Vizepräsidenten des Bundestages gegen ein von der Mehrheit des Bundestages beschlossenes Gesetz beim Bundesverfassungsgericht klagen.
(Beifall bei der LINKEN - Dr. Carl-Christian Dressel (SPD): Tut mir leid, Frau Pau, aber ich habe Sie nicht gewählt!)
Durch die Praxis der Vorratsdatenspeicherung wird allerdings noch ein viel weiter gehender Verstoß gegen das Grundgesetz belegt. Laut Grundgesetz sind Grundrechte vor allem Schutz- und Trutzrechte der Bürgerinnen und Bürger gegen Begehrlichkeiten des Staates. Die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen, also aktuell die CDU/CSU und die SPD, stellen diesen Grundsatz einfach auf den Kopf. Sie nehmen namens einer vermeintlichen Sicherheit alle Bürgerinnen und Bürger ausnahmslos unter Generalverdacht. Mit Blick auf den Geist des Grundgesetzes ist das ein Ding aus dem Tollhaus, und es zeigt: Die größten Gefahren gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung drohen derzeit nicht von Terroristen, auch nicht von Extremisten, sondern eher von Sicherheitsexperten.
(Beifall bei der LINKEN Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/CSU): Wissen Sie überhaupt, was Sie da sagen? Kennen Sie die terroristische Gefahr überhaupt? Lesen Sie Zeitung?)
Herr Kauder, ich sage das sehr deutlich: Nicht alles, was technisch machbar ist und was man sicherlich aus dem beruflichen Blickfeld von Polizistinnen und Polizisten sowie Ermittlungsbehörden gern an Instrumenten in der Hand hat, ist mit unseren Grundrechten und unserem Grundgesetz vereinbar. Wir sind dazu da, genau dieses Spannungsfeld sehr verantwortungsvoll auszuloten.
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Jörg Tauss (fraktionslos) Volker Kauder (CDU/CSU): Was Sie sagen, ist ungeheuerlich, Frau Pau!)
Das Ganze korrespondiert mit einer weiteren Entwicklung.
(Volker Kauder (CDU/CSU): Das ist Demagogie, was Sie hier machen!)
Substanzielle und verfassungsrechtliche Grenzen werden Stück für Stück aufgeweicht, zum Beispiel zwischen Landesverteidigung und weltweiten Kampfeinsätzen, zwischen Militär und Polizei, zwischen Polizei und Geheimdiensten. Das heißt, wir erleben seit Jahren den zielstrebigen Umbau der Gesellschaft weg vom Rechtsstaat hin zum präventiven Sicherheitsstaat.
(Joachim Stünker (SPD): Das ist ja wohl unglaublich! Das ist Unsinn! Das ist eine Unverschämtheit! Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU): Freuen Sie sich, dass Sie endlich in einem Rechtsstaat leben!)
Andere sprechen auch vom Überwachungsstaat. Auch diese Praxis widerspricht den wohlfeilen Antworten der Bundesregierung.
(Joachim Stünker (SPD): Sie kommen aus einer Diktatur und halten solche Reden! Das ist unglaublich!)
Kollege, ich wollte ja eigentlich noch auf die Fragen und die Antworten an die FDP eingehen, aber Ihr Zwischenruf veranlasst mich, hier mal sehr deutlich Folgendes zu sagen:
(Volker Kauder (CDU/CSU): Nein! Es reicht, was Sie gesagt haben!)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ja, ich bin in der DDR geboren. Ich habe in der DDR Verantwortung getragen.
(Hartwig Fischer (Göttingen) (CDU/CSU): Parteihochschule Karl Marx!)
1990, die demokratische Wende, die ich nicht erzwungen habe auch das gestehe ich hier , hat mir nicht nur sehr viel Stoff zum Nachdenken gegeben, sondern ich persönlich habe aus dem Scheitern dessen, was sich Sozialismus nannte, auch aus dem Scheitern der Ideen, für die ich dort gearbeitet habe, sehr schmerzhafte, aber für mich auch nachhaltige Lehren gezogen. Als ich 1998 in den Deutschen Bundestag gewählt wurde, habe ich es mir zur Aufgabe gemacht, dass es eine linke, eine sozialistische Bürgerrechtspartei in der Bundesrepublik gibt. Das heißt, aus den Lehren aus der Geschichte nehme ich mir das Recht heraus, auf Gefahren für die Grundrechte und für das Grundgesetz auch hier in dieser Bundesrepublik hinzuweisen. Dazu steht die Linke.
(Beifall bei der LINKEN Joachim Stünker (SPD): Sie haben zielgerichtet von Umbau gesprochen! Das ist Vorsatz! Eine Unverschämtheit! Hartwig Fischer (Göttingen) (CDU/CSU): Gestern den Internationalen Strafgerichtshof verhöhnen und heute solche Reden! Volker Kauder (CDU/CSU): Und dann als Vizepräsidentin da oben sitzen! Das ist alles so ein Ding!)