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»Die Riester-Rente ist ein Hohn«

Archiv Linksfraktion - Rede von Gregor Gysi,

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Rentenrasur in Deutschland wurde zunächst durchgeführt von Union und FDP, dann allerdings ab 2001 von SPD und Grünen verschärft. Das führte zu einem Paradigmenwechsel bei der Alterssicherung, mit dem wir es heute zunehmend zu tun bekommen.

Das Rentenniveau wurde von 53 Prozent auf 43 Prozent des durchschnittlichen Nettolohns im Jahr 2030 gesenkt. Man überlege sich einmal, wie viel Geringverdienende wir haben, und schaue sich die Zahl der Normalverdienenden an. Angesichts dessen ist das eine skandalöse Absenkung, die Sie damals beschlossen haben.

(Beifall bei der LINKEN)

Die Anrechnungszeiten für die Kindererziehung und die eigene Ausbildung wurden gekürzt. Die Rente wurde durch die Einführung einer Rente erst ab 67 Jahren um zwei Jahre gekürzt. Das hat mit den gesellschaftlichen Realitäten übrigens nichts zu tun. Ich staune, dass Sie diese nicht zur Kenntnis nehmen. Ich nenne Ihnen nur ein Beispiel: Im Juni 2011 hatten von allen 64-Jährigen in Deutschland 9,9 Prozent einen Vollzeitjob. Konkret waren das 14,1 Prozent der Männer und 5,9 Prozent der Frauen. Den anderen sagen Sie, sie sollen zwei Jahre länger arbeiten. Ich frage Sie: Wo denn? Bei wem?

(Beifall bei der LINKEN)

Die Erwerbsminderungsrenten haben Sie ebenfalls gekürzt. Die Unternehmen wurden teilweise aus der paritätischen Finanzierung entlassen, indem Sie den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern gesagt haben, sie sollen private oder betriebliche Vorsorge treffen. Bei der privaten Vorsorge sind Sie dann auf die Idee mit der Riester-Rente gekommen. Dafür zahlen die Leute selbst, dann gibt es noch staatliche Zuschüsse, und die Unternehmen sind von jedem Beitrag befreit. Um nichts anderes ging es Ihnen ja auch. Das heißt, für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer kam wieder weniger Netto vom Brutto heraus. Die staatlichen Zuschüsse bekommen ja nicht die Leute, sondern die Versicherungsunternehmen. Von 2002 bis 2011 waren das 16,6 Milliarden Euro. Deshalb spendet die Allianz jedes Jahr an Union, SPD, FDP und Grüne, nur an die Linke nicht. Man kann sich ausrechnen, woran das liegt.

(Beifall bei der LINKEN - Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Schön, wer ein einfaches Weltbild hat!)

Ich nenne Ihnen drei Beispiele. ‑ Erstes Beispiel. Zwei Arbeitnehmerinnen haben seit ihrem 35. Lebensjahr in die gesetzliche Rentenversicherung eingezahlt. Beide verdienen 1 790 Euro netto im Monat. Das sind keine Geringverdienenden. Das ist fast der Durchschnitt; ich will nur daran erinnern. Die eine zahlt bei Riester ein, und die andere sagt: Ich möchte den Beitrag nicht bezahlen; ich möchte mir lieber mal ein hübsches T-Shirt kaufen. Ich verzichte darauf. ‑ Beide werden am selben Tag Rentnerinnen. Was kommt bei ihnen heraus? Die eine Arbeitnehmerin bekommt eine Rente von 500 Euro, die andere eine Rente von 640 Euro. Beide können davon nicht leben. Beide erfüllen die Voraussetzungen für eine Grundsicherung und beantragen sie. Dann bekommt die eine, um auf die durchschnittliche Grundsicherung in Höhe von 707 Euro zu kommen, einen Zuschuss von 207 Euro und die andere von 67 Euro. Sie hat also jahrelang Beiträge gezahlt, um dann den gleichen Betrag zur Verfügung zu haben wie die andere. Sie ändern nichts daran, auch wenn die FDP es will. Gelegentlich sagt das auch die Union; aber Sie machen nichts.

(Beifall bei der LINKEN - Petra Hinz (Essen) (SPD): Was bringt es ihnen, wenn sie T-Shirts im Schrank haben?)

Zweites Beispiel. Frau Schäfer, Rentnerin, ist 70 Jahre alt. Sie hat drei Kinder aufgezogen. Sie hat Jahrzehnte als Verkäuferin und Kassiererin gearbeitet. Sie bekommt heute eine Rente von 599 Euro. Sie könnte Grundsicherung beantragen; das macht sie aber nicht. Sie will das nicht. Sie sagt, dass es sie demütigt.

(Dr. Dagmar Enkelmann (DIE LINKE): Stimmt!)

Viele, die es könnten, machen es nicht. Bei der Beantragung der Grundsicherung muss man auch die Voraussetzungen im Blick haben: Man darf keine Eigentumswohnung oder kein Grundstück ab einer bestimmten Größe besitzen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das stimmt alles nicht!)

Der Höhepunkt aber ist: Man darf nur ein Sparguthaben in Höhe von 2 600 Euro haben. Das ist weniger, als selbst ein Hartz-IV-Beziehender haben darf. ‑ Sie muss erst einmal das Geld ausgeben, bevor sie die Grundsicherung beantragen kann. Indiskutabel!

(Beifall bei der LINKEN)

Deshalb muss diese 70-jährige Frau bis an ihr Lebensende in einem Minijob arbeiten, nicht, weil sie es so klasse findet, sondern um überhaupt existieren zu können.

436 000 Menschen beziehen Grundsicherung im Alter. 925 000 Personen könnten sie beantragen, tun es aber nicht. Zwei Drittel der Personen verzichten auf Ihren Rechtsanspruch, weil er so demütigend organisiert ist.

Drittes Beispiel: die irrsinnige Lebenserwartung. Eine Frau, die vor zehn Jahren im Alter von 35 Jahren einen Riester-Rentenvertrag abschloss, muss knapp 80 Jahre alt werden, bis sie als Rentnerin alle Beiträge wieder herausbekommen hat. Wenn sie aber davon träumt, eine kleine Rendite von 2,5 Prozent zu erhalten, dann muss sie 90 Jahre alt werden. Wenn sie die dreiste Vorstellung hat, eine Rendite von 5 Prozent zu bekommen, dann muss sie 128 Jahre alt werden. Das erklären Sie einmal den Leuten. Die Riester-Rente ist ein Hohn. Sie muss überwunden werden.

(Beifall bei der LINKEN)

Was hat damals Bundesminister Riester gesagt? Ich zitiere:

Wir haben das Ziel, das Versorgungsniveau im Alter insgesamt zu erhöhen. In Zukunft soll die gesetzliche Rente als Basis durch eine zusätzliche Rente ergänzt werden.

So ein Mist ist bei alledem herausgekommen, um es einmal deutlich zu sagen. Die Geringverdienenden „riestern“ sowieso nicht. Sie können es sich gar nicht leisten.

Zurück zur gesetzlichen Rente. Wer heute in Rente geht und 40 Jahre ununterbrochen gearbeitet hat, nie arbeitslos war, muss pro Stunde 10,80 Euro verdient haben, um das Grundsicherungsniveau von 707 Euro zu erreichen. Wenn er nur 35 Beitragsjahre hat, dann müsste er durchschnittlich 13 Euro pro Stunde verdient haben. Schauen Sie sich doch einmal die Realität in unserer Gesellschaft an! Wir laufen auf eine dramatische Altersarmut zu.

(Dr. Dagmar Enkelmann (DIE LINKE): Genau so ist es!)

Die Grünen haben den Paradigmenwechsel immer damit begründet, dass sie gesagt haben, sie wollten die junge Generation schützen, damit sie nicht so hohe Beiträge zahlen muss. Die damals Jungen gehen jetzt in die Altersarmut.

(Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): So ist es!)

Wechseln Sie doch einmal Ihre Position! Nicht die Demografieentwicklung ist entscheidend, sondern die Produktivitätsentwicklung. Darauf müssen wir setzen.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir haben 3,3 Millionen Selbstständige, die überhaupt keine Altersvorsorge haben. Was soll eigentlich aus denen im Alter werden? Auch dazu machen Sie sich keine Gedanken.

Wenn wir die Altersarmut wirksam bekämpfen wollen, brauchen wir gute Löhne, gute Arbeit und als Erstes einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn von 10 Euro pro Stunde.

(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Bettina Hagedorn (SPD) - Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Ich habe schon lange darauf gewartet, dass das kommt!)

Wir müssen die ganze prekäre Beschäftigung, den Niedriglohnsektor, die Aufstockerei, die Leiharbeit, den Missbrauch der Werkverträge und die befristete Beschäftigung endlich überwinden. Anders können wir die Altersarmut nicht wirksam bekämpfen.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich muss der SPD einmal sagen ‑ sonst bin ich ja nicht so kleinlich ‑: Sie sind nicht die Erfinderin des flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns.

(Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): Das war wirklich eine harte Nummer!)

Das sind nun wirklich wir. Unseren Antrag vom 25. April 2002 haben Sie noch kategorisch abgelehnt.

(Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): So ist es!)

Ich finde es gut, dass Sie sich korrigieren; aber Sie könnten es auch einmal erwähnen, wollte ich nur sagen.

(Beifall bei der LINKEN)

Um darüber hinaus Altersarmut zu verhindern und die Würde der Menschen im Alter zu wahren, damit sie den Lebensstandard einigermaßen halten können, brauchen wir folgende Schritte:

Erstens. Das Rentenniveau muss wieder auf 53 Prozent des Durchschnittseinkommens erhöht werden; anders geht es nicht.

(Beifall bei der LINKEN - Ingrid Arndt-Brauer (SPD): Wer zahlt das denn?)

Zweitens. Die Kürzungsfaktoren, also Riesterfaktor, Nachholfaktor und Nachhaltigkeitsfaktor, müssen gestrichen werden.

(Beifall bei der LINKEN)

Drittens. Die Rente erst ab 67 Jahren muss zurückgenommen werden. Das können wir heute hier entscheiden. Ein entsprechender Antrag liegt vor.

(Beifall bei der LINKEN)

Viertens. 23 Jahre nach der deutschen Einheit muss jetzt endlich einmal eine Rentenangleichung, eine Angleichung der Rentenwerte Ost an West, geschehen.

(Beifall bei der LINKEN ‑ Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): Unbedingt! Das ist dringend überfällig!)

Es muss eine gleiche Rente für gleiche Lebensleistungen geben. Ich verstehe nicht, dass Union und FDP dies erst in den Koalitionsvertrag aufnehmen und es dann einfach aufkündigen. Das ist für die ostdeutschen Rentnerinnen und Rentner nicht hinnehmbar.

(Beifall bei der LINKEN)

Die Lücken und Benachteiligungen bei der Rentenüberleitung müssen beseitigt werden.

Fünftens. Wir brauchen endlich eine Anrechnung der Kindererziehungszeiten auch für Kinder, die vor 1992 geboren sind.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Erklären Sie doch einmal einem Kind, wieso es weniger wert ist, nur weil es einen Monat früher geboren ist als ein anderes Kind! Das ist nicht nachvollziehbar, um das einmal ganz klar zu sagen.

(Beifall bei der LINKEN)

Auch dazu liegt heute ein Antrag vor. Auch darüber können wir namentlich entscheiden.

Weiter müssen die Abschläge auf Erwerbsminderungsrenten gestrichen werden. Es müssen wieder Rentenbeiträge für die Hartz-IV-Beziehenden eingeführt werden. Da die Riester-Rente gescheitert ist, muss sie auslaufen. Wir wollen jetzt die Möglichkeit schaffen, dass Leute, die einen Riester-Rentenvertrag abgeschlossen haben, alle Beiträge und die Zuschläge des Staates in die gesetzliche Rente überführen können, ohne dass ihnen Kosten entstehen. Das wäre immerhin ein Ausweg. Denken Sie einmal darüber nach!

(Beifall bei der LINKEN)

Des Weiteren brauchen wir Lösungen für die Selbstständigen. Dazu haben wir Vorschläge unterbreitet. Darüber hinaus brauchen wir in Deutschland eine solidarische Mindestrente von 1 050 Euro. Dann haben wir auch keine Altersarmut.

(Beifall bei der LINKEN)

Jetzt zu der Frage, wie wir das alles finanzieren können; mich wundert, dass die SPD unseren Weg nicht mitgeht.

(Petra Hinz (Essen) (SPD): Das werden wir Ihnen erklären!)

Wir müssen der neuen Generation sagen: Erstens. Alle Erwerbstätigen müssen von sämtlichen Erwerbseinkommen einen Beitrag an die gesetzliche Rentenversicherung zahlen, auch Abgeordnete, auch Rechtsanwälte, auch Beamte.

(Beifall bei der LINKEN)

Beamte müssen dann allerdings einen Ausgleich erhalten, damit sie nicht schlechtergestellt sind. Zweitens. Wir müssen die Beitragsbemessungsgrenzen aufgeben. Dann müssen die neuen Ackermänner, also die Ackermänner der nächsten Generation, einen bestimmten Prozentsatz von ihrem gesamten Einkommen in die gesetzliche Rentenversicherung einzahlen.

(Beifall bei der LINKEN ‑ Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Und bekommen dann höhere Renten!)

Der damit verbundene Rentenanstieg ‑ das sehen auch wir ‑ muss abgeflacht werden. Dies erlaubt auch das Bundesverfassungsgericht.

Dann brauchen wir nicht mehr über Altersarmut zu diskutieren, dann ist sie überwunden. Dann gilt endlich der Grundsatz, der auch in der Schweiz gilt: Die Millionäre benötigen zwar keine gesetzliche Rente ‑ das ist richtig ‑; aber die gesetzliche Rentenversicherung benötigt die Millionäre. Genau das müssen wir durchsetzen.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Als Letztes: Wir brauchen nicht weitere Kürzungen; wir brauchen einen anderen Weg. Fassen Sie einmal Mut! Lassen Sie uns alle gemeinsam

(Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP): Den Sozialismus wagen! Sehr gute Idee! Nicht nur in Italien gibt es Clowns!)

etwas für die Rentnerinnen und Rentner der Zukunft in diesem Lande tun!

Danke schön.

(Anhaltender Beifall bei der LINKEN)