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Die Hauptschule hat sich überlebt - integrative Schule muss her!

Archiv Linksfraktion - Rede von Gesine Lötzsch,

Die Probleme an Hauptschulen sind zu ernst, um von Medien-Vertretern und Scharfmachern wie Stoiber und Schönbohm schamlos ausgenutzt zu werden. Wer Abschiebung fordert, sollte sich auch die Mühe machen, Entscheidungen der aktuellen Politik zu hinterfragen und das Schulsystem auf Tauglichkeit überprüfen. Wir fordern ein integratives Schulsystem. Mit der Dreigliederung, die Hauptschüler aufs Abstellgleis schiebt, muss Schluss sein. Wer die Situation der Schüler verbessern will, muss die Betroffenen sprachlich fördern und mehr Geld für Ganztagsschulen schon im Haushaltsjahr 2006 ausgeben. Doch die Große Koalition kürzt Jugendlichen lieber das ALG II und verschärft ihre soziale Lage weiter. Mit Gipfeltreffen jedenfalls, wie von der Regierung geplant, ist den Jugendlichen nicht geholfen. Gesine Lötzsch in der Debatte anlässlich der Aktuellen Stunde des Deutschen Bundestages.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Gäste auf den Tribünen! An der Rütli-Schule ist einiges falsch gelaufen. Das ist zu Recht zu kritisieren. Aber jede Verallgemeinerung ist gefährlich: (Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD)) Zum einen haben nicht alle 54 Hauptschulen in Berlin solche Probleme; ich habe bei meinen regelmäßigen Schulbesuchen im Wahlkreis viele gute Erfahrungen gemacht. Zum anderen, Frau Böhmer, gibt es auch an vielen Hauptschulen, in denen nicht ein einziges Kind mit so genanntem „Migrationshintergrund“ ist, ähnliche Probleme wie in dieser Hauptschule. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Ich lehne es also ab, das allein als Migrationsproblem zu kennzeichnen; es ist vielmehr ein Problem der Bildungspolitik. (Beifall bei der LINKEN) Der neue Leiter der Rütli-Schule hat gestern auf der Pressekonferenz einiges klargestellt: Es gibt große Probleme an der Schule, aber es gibt auch eine Diskrepanz zwischen den Mediendarstellungen und der Situation an dieser Schule. Seine Äußerungen lassen sich wie folgt zusammenfassen: Erstens. An der Rütli-Schule werden ab sofort ein Arabisch und ein Türkisch sprechender Sozialpädagoge arbeiten. Ab 1. Mai 2006 wird es einen weiteren Sozialarbeiter geben. Das ist der richtige Weg. (Monika Grütters (CDU/CSU): Warum geht das nicht früher? Weiter Zuruf von der CDU/CSU: Zu spät! Zu spät! Gegenruf des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): Zu spät ist es nie!) Zweitens. Die Schülerinnen und Schüler wenden sich gegen eine diskriminierende Verurteilung in der Öffentlichkeit. Drittens. Die Rütli-Schule sollte nicht zur Wahlkampfarena werden; denn das würde weder den Schülerinnen und Schülern noch den Lehrern helfen. (Beifall bei der LINKEN und der SPD) Meine Damen und Herren, die Redezeit reicht nicht aus, um sich mit allen unqualifizierten Äußerungen zu diesem Thema auseinander zu setzen. Die üblichen Verdächtigen wie Herr Schönbohm und Herr Stoiber haben ja für jedes Problem die gleiche Lösung: einsperren oder ausweisen. Das ist dumm und gefährlich zugleich. (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Zuruf von der CDU/CSU: Quatsch!) Wer sich ernsthaft mit dem Problem Schule beschäftigen möchte, muss auch bereit sein, die eigene Politik zu hinterfragen. Herr Gerhardt, ich gehe davon aus, dass die FDP dieses Thema auf die Tagesordnung gesetzt hat, um deutlich zu machen, dass die Rütli-Schule für eine bildungspolitische Sackgasse und für ein bildungspolitisches Auslaufmodell steht, nämlich für das dreigliedrige Schulsystem. (Widerspruch bei der CDU/CSU) Das ist ein Selektionssystem, mit dem viele junge Menschen unabhängig von ihrer Muttersprache frühzeitig ins Abseits gestellt werden. Denken Sie doch mal selber darüber nach, wie Sie in der 4. Klasse, in der 6. Klasse oder in der 8. Klasse waren und wann die Weichen gestellt wurden. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Cornelia Pieper (FDP): Das ist doch gar nicht das Problem!) Damit sinken die Ausbildungs- und Arbeitsmarktchancen dieser Kinder drastisch. (Markus Löning (FDP): Sie sitzen in der Regierung in Berlin! Die Aufgabe beginnt mit den Arbeitslosen in Berlin! Das ist das Problem!) Wen wundert es dann, dass diese Perspektivlosigkeit zu Lethargie und Aggressionen führen kann? Meine Damen und Herren, die Frage, die hier besprochen werden muss, ist doch, was der Bundestag tun kann, um den jungen Menschen an dieser Schule und an den anderen Hauptschulen in unserem Land eine Chance auf Bildung und Arbeit zu geben. Die Bundestagsfraktion der Union hat nun einen Integrationsgipfel bei Frau Merkel vorgeschlagen. Ich sage Ihnen: Das ist ein Placebo für die aufgeregte Öffentlichkeit. Das wird an der Situation der Jugendlichen nichts ändern; denn es ist ein Trugschluss, dass man mit Gipfeltreffen alle Probleme lösen könnte. Das ist symbolisch und kurzatmig. Wir brauchen konkrete Vorschläge. (Beifall bei der LINKEN) Die Linksfraktionen im Bundestag und in den Landtagen haben klare bildungs- und arbeitsmarktpolitische Vorstellungen: Erstens. Wir wollen das dreigliedrige Schulsystem durch eine integrative Schule ersetzen, (Beifall bei der LINKEN) die ein gemeinsames Lernen von Schülern aus unterschiedlichen sozialen und soziokulturellen Gruppen möglich macht. Zweitens. Wir wollen auch schon für das Haushaltsjahr 2006 mehr Geld für Ganztagsschulen bereitstellen, um die Bildungschancen für alle Schülerinnen und Schüler zu verbessern. (Beifall bei der LINKEN) Drittens. Wir wollen eine faire und effiziente Möglichkeit, Sprache so früh wie möglich zu erlernen. Wir wollen nicht, dass mit Fingern auf die gezeigt wird, die die deutsche Sprache nicht perfekt beherrschen, sondern wir wollen ihnen helfen, diese Sprache zu lernen. Viertens. Wir wollen Jugendlichen eine Ausbildungsperspektive geben und halten die von der Koalition aus CDU/CSU und SPD beschlossenen Kürzungen für jugendliche Empfänger von Arbeitslosengeld II für das falsche Signal. (Beifall bei der LINKEN Zuruf von der CDU/CSU: Haben Sie in Berlin doch gemacht!) Wir erwarten von der Bundesagentur für Arbeit mehr Anstrengungen bei der Qualifizierung und Vermittlung von jungen Menschen in den ersten Arbeitsmarkt. (Manfred Grund (CDU/CSU): Wer regiert denn eigentlich in Berlin? Michael Kretschmer (CDU/CSU): Sehen Sie einmal, was in Berlin gemacht wird! Ihre Regierung ist das!) Meine Damen und Herren, in den 20er-Jahren des letzten Jahrhunderts orientierten sich die Lehrer der Rütli-Schule an den Ideen der Reformer Wilhelm Paulsen und Peter Petersen. Die Hauptidee war: Kinder sollten in der Schule nicht nur Wissen erwerben, sondern auch das Zusammenleben einüben und gestalten. Ich würde mich freuen, wenn wir der Schule, den Schülerinnen und Schülern und allen Schulen im Lande wirklich helfen könnten und wenn wir hier nicht in eine Wahlkamparena eintreten würden. Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Für den Bundesrat hat nun Herr Senator Klaus Böger das Wort. (Beifall bei der SPD)