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Die Datensammelwut muss beschränkt und beendet werden

Archiv Linksfraktion - Rede von Petra Pau,

Rede Petra Pau (DIE LINKE) im Deutschen Bundestag,

04. 06. 2008: Bespitzelungsaffäre bei der Deutschen Telekom und Konsequenzen

Petra Pau (DIE LINKE):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Telekom soll über einen längeren Zeitraum Mitarbeiter, Führungskräfte und Journalisten ausgespäht, abgehorcht und überwacht haben. Von einer Spitzelaffäre ist die Rede. Andere vergleichen sie bereits mit der Spiegel-Affäre in der alten Bundesrepublik in den 1960er-Jahren.

Inzwischen ist auch die Bahn AG in ähnliche Schlagzeilen geraten. Einige Kollegen vermuten sogar öffentlich, dass auch sie und weitere Abgeordnete im Visier Mehdorns waren. Sollte das stimmen, dann hat der Bundestag ein sehr ernstes Problem; denn für beide, für die Telekom und für die Bahn, trägt die Bundesregierung eine besondere Verantwortung.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])

Zurück zur Telekom. Von einer Affäre ist die Rede. Ich finde, so schreibt man einen Skandal klein. Nach Lage der Dinge geht es nämlich um Verfassungsbruch, und zwar mit Vorsatz und mindestens dreifach: Persönlichkeitsrechte wurden ausgehebelt, das Post- und Fernmeldegeheimnis wurde gebrochen, und die Pressefreiheit wurde attackiert. Umso erstaunter vernahm ich die ersten Reaktionen der Bundesregierung: Die Telekom und weitere Telekommunikationsunternehmen sollten nach Berlin kommen und eine Selbstverpflichtung abgeben. Ja, was sollten diese denn sagen? „Wir wollen das Grundgesetz wieder lieb haben“ oder Ähnliches? Oder worum sollte es bei dieser Selbstverpflichtung gehen? Das ist doch Bundeskabarett der schlechtesten Art.

(Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])

Inzwischen wurden weitere Stellungnahmen ausgetauscht. Von krimineller Energie ist die Rede und vom berühmten Einzelfall. Aufklärung wird gefordert und vor Schnellschüssen gewarnt. Die einen wollen schärfere Gesetze, andere wollen härtere Strafen. Wieder andere fordern mehr Datenschutzkontrollen. Das mag alles sinnvoll sein;

(Dr. Michael Bürsch [SPD]: Das ist sinnvoll!)

aber - Kollege Gehb, in der Sache gebe ich Ihnen recht - das geht am eigentlichen Problem vorbei.

Der Datenschutzbeauftragte des Bundes, Peter Schaar, hat übrigens vorgestern gesagt, er habe fünf Mitarbeiter für 5 000 Telekommunikationsunternehmen. Er hat also gar keine Chance, großflächig zu kontrollieren. Folglich ist die Gefahr, beim Datenmissbrauch erwischt zu werden, sehr klein.

Sie wäre übrigens kaum größer, wenn Schaar 50 Mitarbeiter hätte, die sich um die Telekommunikationsbetriebe kümmern. Ich möchte Ihnen dazu eine kleine Rechnung präsentieren: Nehmen wir einmal an, an einem Tag telefonieren in Deutschland nur 50 Millionen Bürgerinnen und Bürger, und zwar nur einmal. Sie schicken zudem je eine SMS und eine E-Mail ab. Wenn man Absender und Empfänger addiert, fallen so an einem einzigen Tag 300 Millionen Sätze mit Verbindungsdaten an. Diese wiederum sollen nun laut Gesetz für ein halbes Jahr auf Vorrat gespeichert werden. Das heißt, binnen dieses halben Jahres kommen somit rund 60 Milliarden Datensätze zusammen.

(Jörg Tauss [SPD]: Allein bei der Telekom! - Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Mehr!)

In Wirklichkeit sind es dreimal so viel. Aber allein diese Zahl - 60 Milliarden - sollte uns ein Gefühl dafür geben: Das alles ist nicht mehr kontrollierbar. Das eigentliche Problem ist daher nicht der Missbrauch, sondern die Vorratsdatenspeicherung selbst, und deshalb muss sie vom Tisch.

(Beifall bei der LINKEN und dem BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP und des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])

Denn je mehr Daten erfasst werden, umso größer ist die Gefahr, dass alles aus dem Ruder läuft.

Der einzig sichere Datenschutz ist und bleibt die Vermeidung von Daten.

(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Jetzt aber endlich mal Schluss mit der Telefoniererei! - Dr. Stephan Eisel [CDU/CSU]: Nicht mehr telefonieren!)

Mit der Vorratsdatenspeicherung haben sich die Union und die SPD für das Gegenteil entschieden. So wachsen die Datenberge, und niemand darf sich wundern, wenn daraus auch kriminelle Begehrlichkeiten wachsen. Nein, eine falsche Politik ist der Kern des Telekom-Skandals.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])

Nun habe ich sehr wohl den Einwand des Kollegen Bosbach und anderer gehört, die Telekom habe die Daten missbraucht, bevor die Vorratsdatenspeicherung zur Pflicht wurde. Natürlich weiß ich auch, dass bereits vordem Verbindungsdaten gespeichert wurden,

(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Siehst du!)

unter anderem, weil die Telekom-Kunden natürlich ein Recht auf eine transparente Rechnung haben.

(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Aha!)

Aber dieser geschäftliche Speichergrund entfällt im Zeitalter der Flatrate immer mehr. Umso mehr wäre die eigentlich spannende Frage: Wie kann man die Speicherung persönlicher Kommunikationsdaten minimieren, statt sie zu maximieren?

(Beifall bei der LINKEN und dem BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP und des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])

Die Koalition hat sich mit der Vorratsdatenspeicherung fürs Maximieren entschieden. Das ist das Gegenteil von Bürger- und Datenschutz.

Die Koalition hat damit noch ein zweites Signal gesetzt, nämlich: Wir brauchen möglichst alles über jeden. Rechtsstaatlich - das habe ich schon damals in der Debatte hier gesagt - rütteln Sie damit an der Unschuldsvermutung, weil auf diese Weise unterstellt wird, jede und jeder ist ein potenzieller Krimineller oder Terrorist. Auch Lidl hat übrigens so argumentiert: Alle sind potenzielle Ladendiebe; also wurden alle überwacht.

Genauso war auch die Denkweise bei der Telekom: Im Zweifelsfall hat der Datenschutz zu weichen, allemal, wenn es ums eigene Geschäft geht. Das ist letztlich dieselbe Haltung, die immer wieder in Äußerungen der Unionsparteien, aber auch anderer zu finden ist, nämlich wenn sie behaupten, dass Datenschutz eigentlich Täterschutz sei. Denn so legitimiert man Datenmissbrauch.

Datenschutz ist aber kein Täterschutz, sondern Persönlichkeitsschutz. Das hat das Bundesverfassungsgericht mehrfach bekräftigt. Wenn es seiner eigenen Rechtsprechung treu bleibt, dann wird auch die Vorratsdatenspeicherung keinen Bestand haben.

(Beifall bei der LINKEN und dem BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP und des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])

Über 30 000 Bürgerinnen und Bürger haben in Karlsruhe inzwischen dagegen geklagt. Auch ich gehöre zur Klagegemeinschaft.

Es geht im Übrigen aber um noch mehr. Im sogenannten Volkszählungsurteil hatte das Bundesverfassungsgericht betont: Bürgerinnen und Bürger, die nicht mehr wissen oder nicht mehr wissen können, wer was über sie weiß, sind nicht mehr souverän. Und wer nicht mehr souverän ist, kann auch kein Souverän sein. Eine Demokratie ohne Souveräne aber ist undenkbar.


So urteilte das Bundesverfassungsgericht bereits vor 25 Jahren. Wer den Datenschutz aushöhlt, untergräbt die Demokratie. Das war die mahnende Botschaft. Sie gilt heute mehr denn je; denn noch nie war das technische Überwachungspotenzial so groß wie heute im Zeitalter der Handys, des Internets und der allgegenwärtigen Videokameras.

(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Es ist eben sabotageanfälliger!)

Deshalb fordert die Linke auch: Wir brauchen endlich ein neues und modernes Datenschutzrecht.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos] - Dr. Stephan Eisel [CDU/CSU]: Ausgerechnet die frühere SED!)

Das alte Datenschutzrecht folgt noch häufig den Spielregeln der Zeit, da mit dem Bleistift geschrieben und das Dampfradio gehört wurde. Heute sind wir im 21. Jahrhundert, im Internet-Zeitalter. Es ist also höchste Zeit, den Datenschutz den neuen Bedingungen anzupassen.

Unter diesen Bedingungen heißt Datenschutz für mich übrigens nicht, rechtsstaatlich zu regeln, wie Daten erfasst, gehortet und gehandelt werden können. Im Gegenteil: Moderner Datenschutz verlangt, rechtsstaatlich zu regeln, wie das Erfassen, Horten und Handeln von persönlichen Daten grundsätzlich minimiert werden kann. Das wäre eine verantwortungsvolle Aufgabe des Bundestages. Stattdessen werden immer mehr persönliche Daten erhoben und via EU und USA ins unkontrollierbare Nirwana verschickt. Dagegen ist der Telekom-Skandal sogar noch ein Kavaliersdelikt. Das macht ihn allerdings nicht besser. Aber es zeigt: Der politisch eingeschlagene Weg ist ein Irrweg.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])

Der leichtfertige und gefährliche Umgang mit persönlichen Daten von Staats wegen und in der Wirtschaft hat leider eine Entsprechung in der Bevölkerung. Noch nie wurde so leichtsinnig mit den eigenen Daten umgegangen wie heute. Prüfe jede und jeder selbst, wie viele Pay-Cards er oder sie in Erwartung von Rabatten oder anderen Vorteilen mit sich herumträgt.

(Jörg Tauss [SPD]: Keine!)

- Löblich, Herr Kollege.

(Dr. Michael Bürsch [SPD]: Ja! Alles Quatsch!)

Es wäre also eine wichtige Aufgabe der Politik - nicht nur von uns beiden, Kollege Tauss -, viel mehr über die Risiken und Nebenwirkungen dieser Karten und der gedankenlosen Datenherausgabe und -weitergabe aufzuklären.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])

Die Bundespolitik aber setzt das gegenteilige Signal. Denn sie suggeriert, gegenüber der Sicherheit und für Schnäppchen sei der Datenschutz zweitrangig. Das kann nicht gut gehen, weil damit die Demokratie nicht reparierbar aufs Spiel gesetzt wird.

Deshalb habe ich am Anfang der Woche gesagt: Der Telekom-Skandal ist ein Glücksfall; denn er kann erhellen,

(Dr. Stephan Eisel [CDU/CSU]: Wenn das ein Glücksfall ist, dann ist Gysi auch ein Glücksfall!)

welche Gefahren lauern, wenn wir dem Datenschutz nicht endlich den Stellenwert einräumen, der ihm zukommt.

(Dr. Stephan Eisel [CDU/CSU]: Sie halten ja auch Herrn Gysi für einen Glücksfall!)

Davon sind wir aber weit entfernt. Also wünsche ich mir etwas weniger Empörung über die Telekom und dafür etwas mehr bundespolitische Verantwortung insgesamt für den Datenschutz und die Bürgerrechte.

Abschließend: Es ist höchste Zeit für eine neue Bürgerrechtsbewegung. Sie beginnt rund um den Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung. Dieser hatte sich am vergangenen Wochenende bundesweit mit dezentralen Aktionstagen zu Wort gemeldet. Er folgt der Erkenntnis, die ich hier unterstreichen will: Der beste Verfassungsschutz sind noch immer agile Bürgerinnen und Bürger. Das war so, und das bleibt so.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos] - Dr. Stephan Eisel [CDU/CSU]: SED! - Rita Pawelski [CDU/ CSU]: Sie wissen ja, wovon Sie reden!)