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Der NATO-Krieg in Afghanistan ist gescheitert

Archiv Linksfraktion - Rede von Gregor Gysi,

Debatte über die Verlängerung des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sie haben recht, Herr Bundesaußenminister: Letztmalig wird der Deutsche Bundestag heute über die Verlängerung des Einsatzes der knapp 3 200 Bundeswehrsoldatinnen und Bundeswehrsoldaten in Afghanistan beraten und entscheiden. Nach Abschluss des Jahres 2014 werden allerdings noch 600 bis 800 Soldatinnen und Soldaten vor Ort bleiben, um bei der Ausbildung zu helfen sowie Beratung und Unterstützung zu gewähren.

(Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE): Sehr richtig!)

Dazu habe ich mehrere Fragen. Die erste Frage lautet: Warum kann die Ausbildung eigentlich nicht hier oder anderswo stattfinden? Warum müssen unsere Soldaten in Afghanistan bleiben? Meine zweite Frage: Selbst wenn sie dort bleiben, dann ist es doch kein Kampfeinsatz mehr. Müsste dann nicht die UN-Resolution dahin gehend geändert werden, dass nicht Kapitel VII der Charta als Grundlage herangezogen wird, sondern Kapitel VI? Dann dürften Soldaten wie im Inland nur noch in Notwehr schießen und in keinem anderen Fall; denn ein Kampfeinsatz wäre damit untersagt. Meine Frage an Sie: Werden Sie sich dafür einsetzen, dass in der UN-Resolution Kapitel VII durch Kapitel VI der Charta ersetzt wird? Das wäre nämlich zwingend notwendig.

(Beifall bei der LINKEN)

Sie haben über das Sicherheitsabkommen zwischen den USA und Afghanistan gesprochen. Herr Ströbele hat dazu eine richtige und wichtige Frage gestellt, mit der er uns auch ein bisschen darüber informiert hat, um welche Teile es geht. Abgesehen davon: Haben Sie eigentlich einen Plan B? Was passiert, wenn der Vertrag nicht zustande kommt? Ich habe versucht, das herauszubekommen; aber das weiß keiner. Das scheint mir wenig systematisch, wenig koordiniert und wenig geplant zu sein. Weshalb gibt es überhaupt den Abzug der Soldaten, nicht nur der deutschen, sondern auch der anderer Nationen? Ich sage Ihnen: Das hängt mit dem Scheitern des NATO-Krieges in Afghanistan zusammen. Es gibt keine andere logische Feststellung.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)   Zuruf von der CDU/CSU): Völliger Quatsch!)

Der Einsatz war die falsche Antwort auf die Anschläge auf das World Trade Center am 11. September 2001 in den USA. Man hätte andere Wege gehen können. Schauen wir uns doch einmal die Bilanz nach 13 Jahren Krieg an   die haben Sie hier nicht benannt  : über 70 000 Tote, unter den Toten Tausende Zivilistinnen und Zivilisten, auch Kinder und eben Frauen, allein in Kunduz, auch von unseren Soldaten verursacht, bis zu 142 tote Zivilistinnen und Zivilisten und Hunderttausende Verwundete. Ich bitte, nicht zu vergessen, dass auch 54 Bundeswehrsoldaten ihr Leben gelassen haben. Das hat große Trauer und großes Entsetzen in deren Familien und bei deren Freundinnen und Freunden ausgelöst. Bisher waren mehr als 100 000 deutsche Soldatinnen und Soldaten in Afghanistan. Ein Drittel von ihnen leidet unter posttraumatischen Belastungsstörungen. Das sind über 30 000 Menschen. Wir werden sie noch jahrelang betreuen und behandeln müssen. Auch das ist ein Ergebnis dieses Krieges.
Lassen Sie mich auch ein Wort zu den Kosten sagen   gerade haben wir eine Wirtschaftsdebatte geführt; wir führen auch Sozialdebatten  : Der ganze Krieg kostet uns nach Einschätzung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung bis Ende 2014  23 Milliarden Euro.
Was waren die Ziele, Herr Steinmeier, und was ist davon erreicht worden? Das erste Ziel lautete: Al-Qaida muss vernichtet und die Ausbildung von Terroristinnen und Terroristen durch al-Qaida verhindert werden. Das ist aber nicht verhindert worden. Al-Qaida bildet weiter Terroristinnen und Terroristen aus. Sie sagen, es ist ein großer Erfolg, dass das nicht mehr in Afghanistan stattfindet? Jetzt findet das in Pakistan, im Jemen und in anderen Ländern statt. Das ist doch kein Erfolg, ganz im Gegenteil.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wie wollen Sie das lösen? Wollen Sie in diesen Ländern jetzt auch Krieg führen? Was soll die Antwort darauf sein?

Zweitens. Es sollte ein Regimewechsel erreicht werden. Die Taliban sollten endgültig entmachtet werden. Nun sprechen selbst die USA mit den Taliban darüber, ob sie nicht bereit sind, in die Regierung zurückzukehren. Auch dieses Ziel ist also völlig verfehlt worden.
Drittens. Es wurde gesagt, dass die inneren Kämpfe beendet werden müssen. Ist das wirklich gelungen? Seit 2013 nehmen die Kämpfe wieder deutlich zu. Heute sind in Afghanistan 65 ehemalige Kämpfer aus den Gefängnissen entlassen worden   gegen den Willen der USA. Nicht einmal darauf achtet die afghanische Regierung jetzt noch. Es gibt einen gewaltigen Anstieg der Zahl der Opfer, gerade im Jahr 2013. Herr Steinmeier, die UN-Organisation UNAMA stellt fest, dass das Jahr 2013 das gewaltreichste Jahr in Afghanistan seit 2001 war. Wenn Sie diesen Hintergrund sehen, beweist das doch das Scheitern des Krieges. Die Gewalt hat nicht abgenommen, sondern zugenommen.

(Beifall bei der LINKEN)

Allein im Jahr 2013 haben wir im Vergleich zum Vorjahr eine Verdoppelung der Verluste bei den afghanischen Streitkräften und bei der afghanischen Polizei zu verzeichnen: 4 600 Gefallene auf deren Seite. Die Zahl der zivilen Opfer hat sich im Vergleich zum Vorjahr um 700 erhöht. Das heißt, im Jahr 2013 gab es 8 615 zivile Tote in Afghanistan. Im Verantwortungsbereich der Bundeswehr, also in den nordafghanischen Provinzen, gibt es eine dramatische Zunahme der Angriffe und Kämpfe. Die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle ist im Jahr 2013 im Vergleich zum Jahr 2012 um 35 Prozent gestiegen. Das ist das Ergebnis.

Im Übrigen ist es wirklich nicht hinnehmbar   auch das muss ich sagen, Herr Bundesaußenminister  , dass die Zahlen, die Sie der Bevölkerung zur Verfügung stellen, immer knapper werden. Wir brauchen hier Transparenz. Wir müssen wissen, was dort passiert.

(Beifall bei der LINKEN)

Das vierte Ziel war - darauf sind Sie ein bisschen eingegangen -, in Afghanistan in kultureller, humaner, demokratischer und rechtsstaatlicher Hinsicht einen Fortschritt zu erzielen. Schauen wir uns die Realitäten an: 2,7 Millionen Afghaninnen und Afghanen haben Afghanistan verlassen, sind geflüchtet. Die Zahl der Binnenflüchtlinge hat mit 590 000 ihren Höchststand erreicht. Hinsichtlich der Lebenserwartung, des Lebensstandards und der Bildung   Sie haben die Bildung erwähnt   hat sich Afghanistan deutlich verschlechtert. Es nimmt jetzt Platz 175 von 187 Ländern ein. Von Fortschritt kann da gar keine Rede sein. Die Müttersterblichkeit liegt bei 500 pro 100 000 Geburten. Das ist im internationalen Vergleich eine sehr hohe Zahl. 10 Prozent der Kinder sterben vor Erreichen des fünften Lebensjahres. Nur 39 Prozent der Afghaninnen und Afghanen haben Zugang zu Trinkwasser. Nur 7,5 Prozent der Afghaninnen und Afghanen haben Zugang zur Abwasserentsorgung. 7,5 Prozent! Die Gewalt gegen Frauen hat dramatisch zugenommen: Im ersten Halbjahr 2013 gab es über 4 100 Fälle. Das ist die letzte Zahl, die wir bekommen haben. Die Anbaufläche für Opium wurde während des Krieges versechsundzwanzigfacht. Ich bitte Sie! Afghanistan ist heute Weltmeister im Opiumexport. Das alles haben wir zugelassen. Das muss man ehrlicherweise hier erklären.

(Beifall bei der LINKEN)

Auch die Bundeswehr arbeitet inzwischen mit den Drogenbaronen zusammen.

(Volker Kauder (CDU/CSU): Was?)

- Ja.

(Volker Kauder (CDU/CSU): Das stimmt ja gar nicht!)

- Natürlich stimmt das.

(Volker Kauder (CDU/CSU): Nein! Das stimmt nicht!)

Die Menschenrechtsverletzungen nehmen zu. Die UN-Organisation UNAMA bestätigt, dass es systematische Folterungen und Misshandlungen in den Gefängnissen, Plünderungen und Morde auch von Polizei und Milizen der Warlords auch im deutschen Zuständigkeitsbereich, speziell in den Provinzen Kunduz und Baghlan, gibt.

Ein Bericht des Afghanistan Analysts Network vom November 2013 kommt zu dem Schluss, dass die Präsenz der Bundeswehr im Norden zwölf Jahre lang nichts an der wirklichen Machtverteilung änderte und die Bundeswehrverantwortlichen am Schluss mit den stärksten Machthabern, das heißt mit den Warlords und ihren Banden, kooperierten. Das sagt diese Organisation, nicht Die Linke. Jede Vorstellung, dass die Bundeswehr Entwicklung vorantreiben kann, ist auch vom früheren Verteidigungsminister de Maizière in unserer Fraktion zu Recht zurückgewiesen worden. Er hat gesagt: Die Bundeswehr ist kein Entwicklungshelfer, sondern eine Armee. Eine Armee - das sage ich Ihnen - hat gänzlich andere Aufgaben und ein gänzlich anderes Selbstverständnis.
Mit anderen Worten: Keines der Ziele wurde erreicht. Den Afghaninnen und Afghanen geht es nicht besser, sondern schlechter. Wir haben Tote verursacht und eigene Tote zu beklagen.
Dieser Krieg wurde hinsichtlich der Bundeswehr durch SPD und Grüne, durch Bundeskanzler Schröder, Kanzleramtschef Steinmeier, Verteidigungsminister Scharping und Außenminister Fischer mit Zustimmung von Union und FDP eingeleitet und durchgeführt. Wir, die Linken, haben nicht nur dagegen gestimmt, sondern immer wieder erklärt, dass man die Probleme der Menschheit mit Kriegen nicht lösen kann. Im Gegenteil!

(Beifall bei der LINKEN)

Ich hatte gehofft und hätte erwartet, Herr Steinmeier, dass Sie heute das Desaster eingestehen und sich zumindest entschuldigen

(Widerspruch bei der CDU/CSU)

bei den Afghaninnen und Afghanen sowie unseren Soldatinnen und Soldaten.

(Beifall bei der LINKEN)

Ja, das hätte ich erwartet. Dass es ein völliges Desaster ist, räumen Sie schon deshalb ein

(Zurufe von der CDU/CSU)

- ich werde es Ihnen jetzt belegen -, weil Sie die afghanischen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Bundeswehr nach Deutschland einreisen lassen; denn dort befinden sie sich in Lebensgefahr.

(Zuruf von der CDU/CSU: Ja, was denn sonst?)

- Ich sage ja nicht, dass das falsch ist. - Die Tatsache, dass sie sich in Lebensgefahr befinden, beweist doch, dass sie als Kollaborateure einer fremden Besatzungsmacht betrachtet und verfolgt werden und von der Bevölkerung nicht anerkannt und begrüßt werden.

(Beifall bei der LINKEN)

Das ist doch das Problem, und das müssen Sie akzeptieren. Natürlich müssen wir sie jetzt in unser Land lassen - darüber streiten wir nicht -, aber die Gründe dafür, dass sie einer solchen Lebensgefahr ausgesetzt sind, sind interessant.

(Volker Kauder (CDU/CSU): Herr Gysi, das ist schäbig, was Sie jetzt machen! Schäbig ist das!)

Was ist jetzt Ihre Schlussfolgerung, Herr Kauder? Ihre Schlussfolgerung ist, dass die Bundeswehr jetzt auch noch verstärkt nach Afrika gehen soll. Ich kann Ihnen nur sagen: Der Wahnsinn muss endlich aufhören. Das wird höchste Zeit.

(Beifall bei der LINKEN - Zurufe von der CDU/CSU)

Kommen Sie doch endlich zur Besinnung!

(Zuruf von der CDU/CSU: Sie nimmt doch keiner mehr ernst!)

Ich sage Ihnen: Deutschland kann ein wichtiges Land auf der Erde sein, wenn wir uns weltweit für Frieden, für Konfliktvorbeugung, gegen Hunger, Elend und Not, für soziale Gerechtigkeit, für ökologische Nachhaltigkeit, aber eben nicht für Kriege einsetzen und uns schon gar nicht an ihnen beteiligen.

(Beifall bei der LINKEN - Volker Kauder (CDU/CSU): Schämen sollten Sie sich!)