Zum Hauptinhalt springen

Der Hartz IV-Kompromiss ist scheinheilig, unsozial und unredlich

Archiv Linksfraktion - Rede von Gregor Gysi,

Rede zum Tagesordnungspunkt ZP 5, Zur Lage von SGB-Leistungsempfängern und ihrer Kinder (HArtz IV).

 

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Union, FDP und SPD haben sich auf dem Rücken der Ärmsten unserer Gesellschaft auf ein verfassungswidriges Gesetz verständigt,

(Beifall bei der LINKEN)

das das Urteil des Bundesverfassungsgerichts weitgehend ignoriert und ‑ auch das sage ich ‑ die Hartz-IV-Beziehenden verhöhnt. Außerdem wurden der Rechtsstaat und die Demokratie schwer beschädigt.

Führende Politikerinnen und Politiker der SPD haben verfassungsrechtliche Bedenken geäußert, stimmen aber trotzdem zu. Ich halte das für unverantwortlich.

(Beifall bei der LINKEN - Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): Das kann man wohl sagen!)

Die Grünen haben erst fünf Minuten vor zwölf kalte Füße gekriegt, aber immerhin: Sie haben sie bekommen; das ist ja ein kleiner Fortschritt.

(Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Halb elf! Wenn ich für kalte Füße dich brauche ... - Schnösel! - Heiterkeit)

Heinrich Alt, Vorstandsmitglied der Bundesagentur für Arbeit und verantwortlich für Hartz IV, sagte in der Sendung Klipp & Klar des RBB am Dienstag, dass niemand auf Dauer von diesem Regelsatz leben könne.

(Zuruf von der CDU/CSU)

- Ja, er wies darauf hin, das Ziel sei ja, die Hartz-IV-Beziehenden wieder in Erwerbsarbeit zu bringen.

(Zuruf von der CDU/CSU: So ist das!)

- Ja, aber er und Sie übersehen zwei Tatsachen: Sie übersehen nämlich, dass 860 000 Menschen, die Hartz IV als Grundsicherung im Alter erhalten, überhaupt nicht mehr für den Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen und da auch keine Chance haben. Sie übersehen außerdem, dass, seitdem SPD und Grüne Hartz IV eingeführt haben, das heißt seit knapp sechs Jahren, rund 1,4 Millionen Menschen ununterbrochen Hartz-IV-Leistungen empfangen, weil sie keine Chance auf dem Arbeitsmarkt haben.

(Manfred Grund (CDU/CSU): Warum nicht?)

Das heißt, 2,3 Millionen Menschen sind dauerhaft auf Hartz IV angewiesen, wozu Herr Alt von der Bundesagentur sagt, dass man davon dauerhaft nicht leben kann. Nehmen Sie doch einmal zu dieser Tatsache Stellung!

(Beifall bei der LINKEN)

Der Kompromiss, den Sie gefunden haben, ist scheinheilig, unsozial und unredlich.

(Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): Genau!)

Ich darf daran erinnern, dass mit dem sogenannten Sparpaket 3,8 Milliarden Euro bei den Leistungen für Hartz-IV-Beziehende gestrichen wurden. Das Elterngeld wurde gestrichen. Die Rentenbeiträge wurden gestrichen. Leistungen für Weiterbildung wurden drastisch gekürzt. Das bedeutet doch, dass die Hartz-IV-Empfangenden sämtliche gefeierten Leistungssteigerungen selbst bezahlen. Das kommt dabei heraus.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN ‑ Dr. Axel Troost (DIE LINKE): Genau das!)

Stolz verkünden Sie zum Beispiel ‑ Frau von der Leyen ist ganz stolz darauf ‑, dass das Bildungspaket um 500 Millionen Euro pro Jahr aufgestockt wird. Aber die gleiche Summe sparen Sie durch die Streichung des Elterngeldes pro Jahr ein. Das heißt, die Eltern und die Hartz-IV-Kinder finanzieren das Bildungspaket selbst. Das kommt dabei heraus und nichts anderes.

(Beifall bei der LINKEN)

Stolz haben Sie auch verkündet ‑ damit wurden die Länder geködert ‑, dass die Grundsicherung im Alter nicht mehr von den Kommunen bezahlt wird, sondern vom Bund. Das ist aber nicht wahr; denn es bezahlt nicht der Bund, sondern es bezahlt die Bundesagentur für Arbeit. Das heißt, es bezahlen die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler.

(Elke Ferner (SPD): Das zahlen die Mehrwertsteuerzahler!)

Soweit die es nicht bezahlen, werden Leistungen gekürzt. Dann geht es wieder zulasten der Erwerbslosen. Nicht aus Steuermitteln wird das Ganze finanziert, sondern aus Beitragszahlungen, und das ist völlig falsch.

(Beifall bei der LINKEN - Thomas Oppermann (SPD): Es sind aber die Mehrwertsteuermittel!)

Es ist gut ‑ das begrüße ich auch ‑, dass 3 000 Schulsozialarbeitsstellen geschaffen werden. Aber die Mittel dafür werden nach drei Jahren wieder gestrichen.

(Hubertus Heil (Peine) (SPD): Da gibt es andere Mehrheiten! - Elke Ferner (SPD): Nach drei Jahren haben wir andere Mehrheiten!)

Es gilt der Grundsatz: Arm, ärmer, Kommune. In drei Jahren sind die Kommunen nicht reicher. Sie wissen schon heute nicht mehr, wie sie ein Bad, eine Bibliothek oder ein Theater bezahlen sollen. Deshalb hätten sie sich niemals auf die Befristung auf drei Jahre einlassen dürfen.

(Thomas Oppermann (SPD): Besser gar nichts, Herr Gysi?)

Man hat ein schlechtes Gewissen, etwas einzuführen, wenn man es wieder abschaffen muss. Unbefristet brauchen wir Schulsozialarbeitsstellen.

(Beifall bei der LINKEN)

Die Bundesregierung hat die Regelsätze für Kinder ermitteln lassen und kam zu dem Ergebnis, dass die heutigen Regelsätze sogar zu hoch seien. Nur: Ihre Verbrauchsstichproben in Bezug auf Kinder wurden von allen Sachverständigen als nicht repräsentativ qualifiziert. Auch das verstößt gegen das Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Sie stellen 10 Euro im Monat für Kinder für eine Mitgliedschaft in einem Sportverein, für Musikunterricht etc. zur Verfügung. Finden Sie das nicht verhöhnend niedrig? Wer soll denn davon eigentlich was real bezahlen?

Rechtsstaat und Demokratie, habe ich gesagt, wurden schwer beschädigt - damit auch das Ansehen der Parteien, und zwar aller Parteien:

Erstens. Im Jahr 2008 hat Finanzminister Steinbrück verkündet, dass die Erwachsenenregelsätze um 5 Euro zu erhöhen sind. Sie haben die Vergleichsproben willkürlich so zugeschnitten, bis die 5 Euro herauskamen. Das widerspricht dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Sie haben die Bezugsgröße geändert. Statt 20 Prozent der unteren Einkommen beziehen Sie nur 15 Prozent ein, damit die 5 Prozent, die schon etwas höher sind, nicht mehr in die Berechnung hineinfallen. Sie haben die verdeckt Armen nicht herausgerechnet. All das verstößt gegen das Urteil des Bundesverfassungsgerichts.

(Beifall bei der LINKEN - Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): Tricksen und täuschen!)

Zweitens. Der ganze Widerstand der SPD endete in willkürlich gewählten weiteren 3 Euro, die aber erst im nächsten Jahr gezahlt werden. Die SPD ist der Union und der FDP also nur 3 Euro wert, und das auch erst in einem Jahr. Das andere, das Sie aufzählen, sind völlig unverbindliche Protokollerklärungen. Die FDP wird selbst gegen die unbefriedigenden Regelungen beim Mindestlohn für die Zeitarbeit tapferen Widerstand leisten.

(Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): Alles ungedeckte Schecks!)

Drittens. Die Vergleichsprobe bei den Kindern - das habe ich schon gesagt - war unzulässig.

Viertens. Dies ist das Entscheidende in Bezug auf das Urteil: Das Bundesverfassungsgericht hat eine Grundsicherung verlangt, die ein menschenwürdiges Existenzminimum und ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben gewährleistet. Davon sind wir meilenweit entfernt.

Wir brauchen neben dieser Grundsicherung natürlich endlich einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn,

(Beifall bei der LINKEN)

der selbstverständlich in verschiedenen Branchen verbindlich überschritten werden darf, und zwar auch um das Abstandsgebot zwischen Grundsicherungsbeziehenden und Erwerbstätigen zu wahren und aus vielen anderen Gründen.

Außerdem ist Ihr Ergebnis illegal zustande gekommen.

(Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE): Richtig!)

Der Vermittlungsausschuss zwischen Bundestag und Bundesrat bildete eine Arbeitsgruppe unter Ausschluss der Linken.

(Hubertus Heil (Peine) (SPD): Falsch!)

Erst mithilfe des Bundesverfassungsgerichts wurden wir in die Arbeitsgruppe einbezogen. Ab Mitte Januar tagte sie nicht mehr. Es wurden illegale Kungelrunden organisiert.

(Widerspruch bei der FDP - Zuruf des Abg. Hubertus Heil (Peine) (SPD))

Vor der Hamburg-Wahl konnten sich Union, FDP, SPD und Grüne nicht einigen. So entschied der Bundesrat - hören Sie zu! -, erneut den Vermittlungsausschuss anzurufen, und zwar mit den Stimmen aus Brandenburg und Berlin, also auch mit den Stimmen der Linken. Bis Dienstag dieser Woche hat der angerufene Ausschuss nie getagt. Seit Sonntag gibt es aber ein Ergebnis, wieder in einer illegalen Kungelrunde unter Ausschluss der Linken zustande gekommen.

(Beifall bei der LINKEN - Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP): Da müsste die Polizei einschreiten!)

Sie wollen verhindern, dass die Linken von Ihren verabredeten Nebendeals erfahren. Aber Sie beschädigen die Demokratie, weil Sie das Wahlergebnis nicht respektieren.

(Beifall bei der LINKEN)

So wie wir die Wahl der anderen Fraktionen und die Bildung von Landesregierungen respektieren, müssten Sie eigentlich bereit sein, unsere Wahl und unsere Teilnahme an Landesregierungen anzuerkennen. Es tut mir leid: Aber Sie sind undemokratischer  und zwar alle zusammen.

(Beifall bei der LINKEN - Lachen bei der CDU/CSU und der FDP)

- Hören Sie zu! Ich mache Ihnen jetzt ein schönes Angebot. - Ich denke, wir sehen uns wieder, und zwar vor dem Bundesverfassungsgericht.

(Anhaltender Beifall bei der LINKEN - Manfred Grund (CDU/CSU): Vorwärts Genossen! - Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP): Jetzt haben wir das Eingeständnis: Wir sind undemokratisch!)