Bundeskanzlerin Merkel verordnete sich und der Koalition eine Denkpause für die EU-Verfassung. Tatsächlich plädierte sie jedoch in ihrer Regierungserklärung für die EU-Verfassung in bisheriger Form. Wenn man, wie auch die Linken, die Europäische Union will, muss man neu über den militärischen Teil nachdenken und darüber, wie der Neoliberalismus aus der Verfassung verdrängt wird. Wir brauchen eine Europäische Union des Friedens und der Abrüstung und eine Europäische Union der Wohlfahrt, aber dies nicht für die 10 Prozent Reichsten in der Gesellschaft, sondern endlich für die Mehrheit der Bevölkerungen. Dann wird es auch ein Ja zu einer veränderten und brauchbaren Verfassung für Europa geben, die wir zweifellos dringend benötigen. Gregor Gysi in der Debatte zur Regierungserklärung der Bundeskanzlerin zur Europapolitik.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Bundeskanzlerin, Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, dass die große Leistung der Europäischen Union darin bestehen kann und hoffentlich auch darin bestehen wird , dass es einen europäischen Frieden gibt, dass die Jahrhunderte der europäischen Kriege endlich überwunden werden und dass zumindest auf diesem Kontinent die kriegerische Geschichte ein Ende findet. Dann so die Hoffnung wären die kriegerischen Auseinandersetzungen innerhalb Jugoslawiens, aber auch der völkerrechtswidrige Krieg der NATO gegen Jugoslawien die hoffentlich letzten Kriege in Europa gewesen. Das wäre wichtig. (Beifall bei der LINKEN) Sie wissen, dass es in der EU-Verfassung, die von zwei Völkern mehrheitlich abgelehnt worden ist darauf komme ich noch zu sprechen , auch einen großen militärischen Teil gibt. Ich hätte es noch verstanden, wenn man die nationalen Streitkräfte durch irgendetwas Europäisches ablösen wollte. Es soll aber alles oben draufgesetzt werden: Die NATO soll bleiben, die nationalen Streitkräfte sollen bleiben und Europa will auch noch Streitkräfte. Wozu eigentlich, wenn wir Europäer keine Kriege mehr führen wollen? Das ist die Frage, die die Bevölkerungen stellen. (Beifall bei der LINKEN) Frau Bundeskanzlerin, ich hätte heute von Ihnen ein Wort zu dem Interview erwartet, in dem Verteidigungsminister Jung auf die Frage, ob für unser Militär, die Bundeswehr, wirtschaftliche Interessen, Versorgungs- und Ressourcensicherung eine Rolle spielen, sagte: Ja, das müsse man offen sagen. Das ist ein Denken wie in den früheren Jahrhunderten. Ich will nicht, dass wir noch Kriege wegen Erdgas, Erdöl und dergleichen führen. (Beifall bei der LINKEN) Das wäre auch grundgesetzwidrig. Wenn Sie die Mütter und Väter des Grundgesetzes gefragt hätten, ob sie sich vorstellen könnten, die Bundeswehr zur Durchsetzung ökonomischer Interessen einzusetzen, hätten sie das völlig zu Recht strikt verneint. Wir sollten uns an das Grundgesetz halten. (Beifall bei der LINKEN) Bis Maastricht war die Europäische Union darauf ausgerichtet, die Volkswirtschaften der Länder anzugleichen und sozusagen schrittweise eine ökonomische Gemeinschaft in Europa zu schaffen. Das war auch sehr sinnvoll. Aber wir müssen uns mit den Änderungen, die es seit Maastricht gegeben hat, auseinander setzen. Es war Helmut Kohl, der gesagt hat: erst die politische Union, dann die Währungsunion. Als er die politische Union nicht durchsetzen konnte, hat er sich entschieden, doch erst die Währungsunion einzuführen. Dafür zahlen die europäischen Völker noch heute; denn das war der Beginn der Dumpingstrukturen, mit denen wir es heute zu tun haben. (Beifall bei der LINKEN) Eigentlich hätten wir vor der Währungsunion die Verfassung gebraucht, über die jetzt diskutiert wird. Wir hatten aber keine. Immer, wenn man so etwas im Nachhinein einzuführen versucht, wird es kompliziert. Nun haben wir zum Teil einen Binnenmarkt und eine Binnenwährung auch zum Teil , aber keine wirkliche politische Verfasstheit. Das ist ein riesiges Problem. Schritt für Schritt versuchen wir jetzt, das eine oder andere zu regeln. Wie lautet denn das Argument, das immer vorgebracht wird, wenn es um die Senkung der Steuern für Konzerne, Best- und Besserverdienende geht? Das Argument lautet, das sei gerade in einem anderen europäischen Land so gemacht worden, danach müssten wir uns richten. Das ist organisiertes Steuerdumping, das dazu führt, dass die Staaten nicht mehr in der Lage sind, den sozialen und ökologischen Ausgleich zu bezahlen, der aber dringend nötig ist, und die notwendigen Investitionen vornehmen zu können. (Beifall bei der LINKEN) Wann machen wir endlich Schluss damit? Wann einigen wir uns in der Europäischen Union endlich und legen Mindeststeuern fest, die jedes Land erheben muss, zum Beispiel bei der Körperschaftsteuer? Wir brauchen diesbezüglich eine Verständigung, sonst ist das keine Union. Wir haben einen Binnenmarkt mit einer Binnenwährung, die Steuern aber sind völlig unterschiedlich. Die Unterschiede sind viel größer als diesbezüglich zwischen den Nord- und den Südstaaten in den USA. Das ist nicht zu verkraften. (Beifall bei der LINKEN) Dadurch haben wir ein Dumping bei Löhnen und bei sozialen und juristischen Standards. Weil meine Zeit dafür nicht reicht, will ich das nicht näher ausführen. Nur so viel: Bei der Zulassung der Beschwerde eines Nachbarn gegen einen Bau auf dessen Nachbargrundstück gibt es gewaltige Differenzen. Es macht aber einen Riesenunterschied, ob Sie einem Investor sagen: „Das kann acht Jahre dauern“ oder, in einem anderen Land, „Das dauert ein halbes Jahr“. Darüber muss man sich doch verständigen, wenn man eine Union sein will. (Beifall bei der LINKEN) Als die Erweiterung der Union anstand, hat man gesagt, man wolle nicht mehr zahlen, man wolle für den Aufbau der Wirtschaften in Litauen, Slowenien und in anderen Ländern nicht mehr so viel Geld ausgeben. Das führte dazu, dass die Union umgerechnet für jeden Iren 122,1 Euro im Jahr zahlt, für jeden Slowenen aber nur 44,4 Euro. Irland ist inzwischen aber das zweitreichste Land in der Union. Was ist die Folge dessen? Die Folge ist, dass Dumpingstrukturen entstehen, weil man Slowenien und andere Länder zwingt, über möglichst niedrige Steuern Anziehungskraft auszuüben. Das wirkt sich negativ in den reicheren Ländern wie Frankreich und Deutschland aus und führt zu solch negativen Stimmungen, die Sie nicht verstehen und womit Sie sich hier auseinander setzen. (Beifall bei der LINKEN) Sie haben gesagt, bei der Erarbeitung einer Verfassung bräuchten Sie eine Denkpause, Sie müssten in Ruhe darüber nachdenken. Nun sagen Sie, Sie wollen die Verfassung so, wie sie ist. Frau Bundeskanzlerin, Mehrheiten in Frankreich und in Holland haben die Verfassung abgelehnt. Das müssen Sie zur Kenntnis nehmen. (Beifall bei der LINKEN) Sie können doch nicht einfach sagen: „Wir machen eine Pause“ und dann die gleiche Verfassung wieder einbringen. Man muss sich doch Gedanken darüber machen, was man ändern muss, um die Mehrheit der Bevölkerungen dafür zu gewinnen, gerade wenn man, wie auch wir, die Europäische Union will. Ich fordere Sie auf: Denken Sie neu über den militärischen Teil nach und darüber, wie der Neoliberalismus aus der Verfassung verdrängt wird. (Beifall bei der LINKEN Zuruf des Abg. Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU)) Sie machen hier doch nichts weiter als neoliberale Politik: (Beifall bei der LINKEN) Sie wollen das Rentenalter heraufsetzen. Die Jungen sollen weniger Arbeitslosengeld II bekommen. Die von Arbeitslosengeld II Betroffenen wollen Sie auf unangenehmste Weise kontrollieren. Der Sparerfreibetrag soll heruntergesetzt werden. Dann machen Sie eine Reichensteuer, die nicht einmal ein Witz ist. Das ist die Wahrheit. So wird gegenwärtig Politik organisiert. (Beifall bei der LINKEN) Mit dieser Politik werden Sie den Haushalt nicht konsolidieren, aber die Gesellschaft weiter entsolidarisieren. Das ist das Problem. (Beifall bei der LINKEN) Wir brauchen eine Europäische Union des Friedens und der Abrüstung und eine Europäische Union der Wohlfahrt, aber dies nicht für die 10 Prozent Reichsten in der Gesellschaft, sondern endlich für die Mehrheit der Bevölkerungen. Dann wird es auch ein Ja zu einer veränderten und brauchbaren Verfassung für Europa geben, die wir zweifellos dringend benötigen. Präsident Dr. Norbert Lammert: Herr Kollege Gysi, ich weiß, dass Sie jetzt erst die richtige Betriebstemperatur erreicht haben. (Heiterkeit) Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): Das stimmt, Herr Präsident. Ich komme langsam in Form. Das haben Sie gut erkannt. (Heiterkeit) Zum Schluss möchte ich aber noch einen Gedanken vorbringen: Dann, Frau Bundeskanzlerin, habe ich die Hoffnung, dass wir eine Jugend erleben, von der wir sagen können, sie habe ein erweitertes europäisches Selbstbewusstsein. Es wäre doch eine Chance, wenn solche Leute einer europäischen Mannschaft und nicht nur ihrer Nationalmannschaft die Daumen drücken würden. Davon sind wir leider noch meilenweit entfernt, aber wir werden es noch erleben. (Beifall bei der LINKEN)Denkpausen der Bundeskanzlerin
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Rede
von
Gregor Gysi,