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Das nukleare Zeitalter muss unverzüglich beendet werden

Archiv Linksfraktion - Rede von Gregor Gysi,

Antwort auf die Regierungserklärung von Kanzlerin Merkel zu Konsequenzen aus den Ereignissen in Japan

Herr Präsident! Meine Damen und Herren!

In Japan ist eine furchtbare, unvorstellbare Katastrophe passiert. Die Menschen erlebten ein schweres Erdbeben und in dessen Folge einen Tsunami mit Tausenden Opfern, Hunderttausenden Obdachlosen und verheerenden Zerstörungen. Nun werden sie auch noch einen Super-GAU mit unvorstellbaren Folgen erleben. Millionen Menschen können durch die Radioaktivität an Krebs erkranken - mit allen Folgen.

Dies geschieht den Japanerinnen und Japanern, die als Einzige schon die furchtbaren Leiden eines Atombombeneinsatzes durch die USA 1945 auf Hiroshima und Nagasaki erleben mussten. Wir trauern um die zahlreichen Opfer. Unser tiefes Mitgefühl gilt ihren Angehörigen.
Es ist aber unvorstellbar und unverantwortlich, dass gerade nach den schrecklichen Erlebnissen 1945 japanische Konzerne und japanische Politik den vielfachen Bau von Atomkraftwerken vorantrieben. Japan hätte der erste Verweigerer sein müssen.

(Beifall bei der LINKEN)

Aber nun ist die Katastrophe geschehen. Durch keine Kritik wird sie ungeschehen. Es trifft vornehmlich immer Unbeteiligte und Unschuldige. Unsere gemeinsame erste Entscheidung muss sein, den Menschen in Japan jegliche mögliche Hilfe zu leisten.

(Beifall bei der LINKEN)

Das Ereignis in Japan ist eine Zäsur, ein Zivilisationsbruch in der Geschichte des industriell-kapitalistischen Zeitalters. In den 30er-Jahren des letzten Jahrhunderts gelang es deutschen Physikern im Laborversuch, die erste künstliche radioaktive Kernspaltung auszulösen. Die Büchse der Pandora war geöffnet. Die erste daraus folgende Katastrophe war die Entwicklung der Atombombe.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde dann zwischen der militärischen und der friedlichen Nutzung der Atomenergie unterschieden. In den 50er-Jahren setzten die Industriestaaten, das heißt sowohl die kapitalistischen als auch die staatssozialistischen Länder, auf die friedliche Nutzung der Atomenergie. Doch die Unterscheidung zwischen unfriedlicher und friedlicher Atomenergie ist aus zwei Gründen falsch und mit hohen Risiken verbunden, die weder beherrschbar noch kontrollierbar sind.

(Beifall bei der LINKEN)

Erstens. Wer über die Technologie der friedlichen Nutzung der Atomenergie verfügt und aus AKWs Strom erzeugen kann, ist potenziell in der Lage, auch Atomwaffen herzustellen. Wir wissen, dass trotz des Nichtverbreitungsvertrages inzwischen mehr Staaten als die fünf damaligen Atommächte über Atomwaffen verfügen. Außer den USA, Russland, China, Großbritannien und Frankreich verfügen auch Pakistan, Indien und Israel über Atomwaffen. Die Beispiele Iran und Nordkorea zeigen, dass diese Gefahren nicht beseitigt sind. Es muss endlich konsequent damit begonnen werden, alle Atomwaffen in dieser Welt zu vernichten. Erst dann hat die internationale Gemeinschaft das Recht, weltweit den Bau neuer Atomwaffen zu unterbinden.

(Beifall bei der LINKEN)

Zweitens. Mit der Unterscheidung zwischen militärischer und friedlicher Nutzung der Atomkraft gab man sich dem Trugschluss hin, dass die militärische Nutzung viel riskanter wäre. In vielen Industriegesellschaften, insbesondere in Frankreich und Japan, erzielte die friedliche Nutzung der Atomkraft zur Stromerzeugung eine hohe Akzeptanz. Diese Akzeptanz beruhte darauf, dass man die Risiken bei der friedlichen Nutzung für beherrschbar hielt, sich einen GAU oder gar einen Super-GAU nicht vorstellen konnte. Die Unterscheidung zwischen gutem und schlechtem Uran ist falsch. Beides   der Abwurf einer Atombombe wie ein nicht vorhersehbarer Unfall in einem Atomkraftwerk   ist hinsichtlich der Folgen nicht beherrschbar. Unsere Zivilisation kann stark beschädigt, sogar vernichtet werden.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Die Frage stellt sich: Hätten wir alle   die Verantwortlichen in Japan, in Deutschland und in allen anderen Ländern   nicht klüger und sehr viel vorsichtiger sein müssen? Es gab den Atomunfall im AKW Three Miles Island bei Harrisburg in den USA im Jahre 1979. Dort trat   auch ohne Erdbeben, ohne Tsunami   bereits eine begrenzte Kernschmelze ein, weil die Kühlsysteme versagten. Dann kam die unvorstellbar große Katastrophe von Tschernobyl vor 25 Jahren mit einer vollständigen Kernschmelze. Noch immer glüht dieser Reaktor umgeben von einem Betonsarkophag vor sich hin. Die genaue Zahl der Opfer ist bis heute nicht bekannt.
Diese deutlichen Warnungen wollten nicht verstanden werden. Harrisburg wurde nicht wirklich ernst genommen und bei Tschernobyl einfach die Unfähigkeit der Russen und der Staatssozialisten unterstellt. Im Unterschied dazu   so konnte man es lesen   bauen die Japaner, die Deutschen und andere nur höchst sichere Atomkraftwerke, bei denen nichts passieren könne. Nun sind wir in Japan auf tragische Weise vom Gegenteil überzeugt worden. Wir alle dürfen und müssen eine einzige logische Konsequenz ziehen: Der 11. März 2011 muss das Ende des nuklearen Industriezeitalters eingeleitet haben.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Das ist nicht nur eine wissenschaftlich-technische, sondern auch eine politische, eine Macht- und eine Menschheitsfrage. Die Atomindustrie besteht aus Unternehmen, die die AKW bauen, und Unternehmen, die die AKW betreiben. Diese besitzen nicht nur finanzielle und ökonomische Macht, sie haben nicht nur beträchtlichen Einfluss auf politische Entscheidungen; sie dominieren diese und damit auch die Bundesregierung und eine große Zahl von Abgeordneten.
Schon die Bundesregierung aus SPD und Grünen traute sich nicht, den Atomausstieg einfach per Gesetz im Bundestag durchzusetzen. Sie ließ sich auf Verhandlungen mit der Atomlobby ein und schloss mit ihr einen Ausstiegskompromiss ab. Warum, Herr Trittin, konnten Sie und Ihre sozialdemokratischen Mitstreiter den Atomlobbyisten nicht einfach sagen, dass die Mehrheit des Bundestages entscheiden wird? Wir sind das höchste demokratisch gewählte Organ der Bundesrepublik Deutschland. Warum feilschten Sie mit den nicht gewählten Atomlobbyisten herum, bis Sie einen unzureichenden Ausstiegskompromiss erzielten?

(Beifall bei der LINKEN)

Warum haben Sie, Frau Bundeskanzlerin, diesen Kompromiss auch noch aufgekündigt und auf Drängen der Atomlobbyisten die Verlängerung der Laufzeiten der Atomkraftwerke beschlossen? Es ging um nichts anderes als um Extraprofite der Stromkonzerne Eon, EnBW, RWE und Vattenfall in Höhe von 120 Milliarden Euro. Diese Lobbyistenpolitik gefährdet unsere Demokratie.

(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Dr. Eva Högl (SPD))

Frau Bundeskanzlerin, besitzen Sie doch die Souveränität, den Mut, den Atomlobbyisten klar und deutlich zu widersprechen, sich hier hinzustellen und Ihren Irrtum hinsichtlich der Risikogefahren einzuräumen und den unverzüglichen Ausstieg aus der Gewinnung der Atomenergie zu verkünden. Nur das entspräche Ihrem Amtseid. Nur das könnte Schaden von unserer Bevölkerung abwenden. Nur dann verhielten Sie sich wie eine Bundeskanzlerin für das gesamte Volk. Ihre heutige Erklärung spricht noch nicht für Ihre Bereitschaft, diesen notwendigen Weg zu gehen. Ein dreimonatiges Moratorium, unabhängig von der rechtlichen Bewertung, täuscht und hilft nicht weiter. Wir brauchen keine vorübergehende, sondern eine endgültige Abschaltung der Atomkraftwerke.

(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Dr. Eva Högl (SPD))

Unabhängig davon müssen Sie unverzüglich und sofort einen Strompreisstopp durchsetzen. Die Konzerne haben genügend Profitpolster. Sie müssen die Verluste tragen, nicht die Bürgerinnen und Bürger und nicht die anderen Unternehmen.

(Beifall bei der LINKEN)

Die Politik muss wieder für die Strompreiskontrolle zuständig werden.
Meine Damen und Herren von der SPD und von den Grünen, Sie haben beim Bundesverfassungsgericht eine Normenkontrollklage eingereicht, weil Ihr früherer Atomkompromiss von der Mehrheit des Bundestages unter Ausschluss des Bundesrates aufgekündigt wurde. Diesen Ausschluss und andere Regelungen halten Sie und wir für grundgesetzwidrig. Wir haben Ihnen angeboten, diese Normenkontrollklage gemeinsam zu erarbeiten. Sie haben dies abgelehnt mit dem Hinweis, das sei Ihr Thema und nicht unseres. Sie haben tatsächlich nicht begriffen, dass dies ein Thema für die gesamte Bevölkerung, auch für den linken Teil der Bevölkerung ist.

(Beifall bei der LINKEN)

Sie haben uns vorgestern, auch im Angesicht der gewaltigen Katastrophe, erklärt, dass wir die Klage nur dann mit unterschreiben dürften, wenn wir trotz Ihres Beteiligungsverbots ein Drittel der Kosten übernähmen. Überwinden Sie Ihre Kleinkariertheit! Überwinden Sie Ihren Egoismus! Überwinden Sie Ihren Egozentrismus! Lassen Sie alle, die es wollen, unterschreiben!

(Beifall bei der LINKEN)

Sie können nicht bei Ihrem alten Kompromiss - mit Ausnahme der älteren und pannengeprägten AKW - bleiben. Auch die neueren AKW können nicht mit langen Fristen - Herr Gabriel, auch nicht zehn Jahre - weiterlaufen. Auch Sie müssen sich einen Ruck geben und begreifen, dass das nukleare Zeitalter nicht irgendwann, sondern unverzüglich zu beenden ist.

(Beifall bei der LINKEN)

Es geht nicht nur um die Frage des Ausstiegs, sondern zugleich auch darum, ob sich die Politik endlich gegen die Atomindustrie durchsetzt, ob diesbezüglich das Primat der Politik hergestellt, die Demokratie wieder funktionsfähig wird. Im letzten Jahr konnte während der Finanzkrise jede und jeder erleben, dass die Spekulanten und Bankenchefs das Geschehen und die Politik dominierten. Diese sind eng mit den Atomlobbyisten verbunden. Gemeinsam scheinen sie eine kaum zu durchdringende ungeheuerliche Macht zu besitzen. Aber sie haben nur ein wirkliches Interesse: die Steigerung ihres Profits. Nur wenn die Politik den Mut und die Kraft entwickelt, die Dominanz dieser Spekulanten, Bankenchefs, Atomlobbyisten und anderer Konzernlobbyisten zu durchbrechen und den Vorrang der demokratischen Institutionen zu sichern, sind wir für unsere Bevölkerung tätig, retten wir unsere Demokratie, und werden wir unserer Funktion als Volksvertreterinnen und Volksvertreter im Bundestag gerecht!

(Beifall bei der LINKEN)

Die Linke fordert: Erstens. Wir brauchen unverzüglich ein Konzept für die mögliche Hilfe gegenüber den Japanerinnen und Japanern. Diese Hilfe ist auch zu leisten.
Zweitens. Die Nutzung der Atomkraft für militärische Zwecke und zur Energieerzeugung muss grundsätzlich ausgeschlossen werden, um den Ausstieg unumkehrbar zu machen. Deshalb brauchen wir diese Verpflichtung im Grundgesetz.

(Beifall bei der LINKEN)

Das Verbot der Nutzung von Atomenergie ist Bestandteil der Verfassung von Österreich, einem Mitgliedsland der EU. Es ist also machbar, wenn der politische Wille dazu vorhanden ist.
Drittens. Die ältesten und pannengeschüttelten acht AKWs sind sofort und auf Dauer stillzulegen.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Es handelt sich um Biblis A, Neckarwestheim 1, Biblis B, Brunsbüttel, Isar 1, Unterweser, Philippsburg 1 sowie Krümmel. Die verbleibenden neun AKWs sind unverzüglich, das heißt ohne schuldhaftes Verzögern, stillzulegen. Hierzu muss die Bundesregierung einen entsprechenden Atomausstiegsgesetzentwurf bis spätestens 30. April 2011 vorlegen.

(Beifall bei der LINKEN)

Viertens. Verboten werden muss der Export von Atomtechnologie. Siemens und andere Unternehmen haben auch für die AKWs in Japan Ausrüstungen geliefert. Sie müssen verpflichtet werden, diesen Produktionszyklus stillzulegen und aus der Technologie auszusteigen.

(Beifall bei der LINKEN)

Ebenso ist folgerichtig, Frau Bundeskanzlerin, dass wir keinen Atomstrom importieren dürfen.
Fünftens. Die Bundesregierung muss sich für die Auflösung des Euratom-Vertrages einsetzen, damit die damit einhergehende Förderung der Atomenergie beendet wird.
Sechstens. Wir fordern einen Strompreisstopp

(Lachen bei der FDP)

und die Wiedereinführung der Strompreisregulierung durch die Politik statt durch die Energiekonzerne.

(Beifall bei der LINKEN)

Siebtens. Wir brauchen unverzüglich ein Energiekonzept der Zukunft, das mit unabhängigen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, Umweltverbänden und kommunalen Energieversorgern erarbeitet werden muss, also nicht mehr die Handschrift der Energiekonzerne tragen darf. Dazu gehören aus unserer Sicht ein Sofortprogramm für die erneuerbaren Energien, ein umfassendes Energieeffizienzprogramm, ein Netzumbauplan, die Entwicklung und Etablierung effizienter Speichertechnologien und eine Dezentralisierung und Rekommunalisierung der Energieerzeugung.

(Beifall bei der LINKEN – Zurufe von der LINKEN: Bravo!)

Achtens. Die Bundesregierung muss sich bei der Organisation der Vereinten Nationen und der Europäischen Union entschieden für einen weltweiten bzw. europäischen Ausstieg aus der Atomenergie für militärische Zwecke sowie zur Energiegewinnung einsetzen. Das Gleiche gilt für ein Moratorium für sämtliche weltweit bzw. europaweit geplanten Neubauten von Atomanlagen   egal ob für militärische Zwecke oder zur Energiegewinnung.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Eine Volksinitiative der europäischen Völker zu diesen Fragen wäre sehr zu begrüßen.

(Beifall bei der LINKEN)

Heute haben wir die Chance, zu beweisen, dass wir spät   für die Japanerinnen und Japaner zu spät   Lehren aus Ereignissen ziehen können. Heute können wir beweisen: Der Deutsche Bundestag entscheidet nicht länger im Interesse der Atomlobbyisten, sondern im Interesse der Bevölkerung unseres Landes und sendet zur Lösung einer Menschheitsfrage ein wichtiges Signal weit über Deutschland hinaus.

(Anhaltender Beifall bei der LINKEN)