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»Das Grundgesetz ist die beste Verfassung in der Geschichte Deutschlands«

Archiv Linksfraktion - Rede von Gregor Gysi,

Feierstunde des Bundestages zum 65. Jahrestages des Grundgesetzes

Herr Bundespräsident! Frau Bundeskanzlerin! Herr Bundesratspräsident! Herr Präsident des Bundesverfassungsgerichts! Herr Präsident des Bundestages!

Ich habe Ihnen, Dr. Kermani, sehr gut zugehört. Ich finde, dass Sie eine ausgezeichnete Rede zu diesem Anlass gehalten haben.

(Beifall)

Es gab vielleicht hier und da ein kleines Moment, wo ich nicht ganz zugestimmt hätte; aber das waren andere als die, die Herr Kauder meinte.

(Heiterkeit)

Trotzdem sage ich: In einem sind wir uns alle einig: Das Grundgesetz ist die beste Verfassung in der Geschichte Deutschlands.

(Beifall)

Und das gilt gerade auch für die ehemaligen Bürgerinnen und Bürger der DDR. Das muss ich hier so deutlich sagen.

(Beifall)

Das Grundgesetz hat viele Väter und nur wenige Mütter; dazu komme ich noch. Artikel 1 Absatz 1 Satz 1 besagt:

Die Würde des Menschen ist unantastbar.

Das war die einzig richtige Antwort auf die Nazibarbarei, gerade in und für Deutschland.

(Beifall)

Es ist auch völlig richtig, dass dieser Satz der erste Satz ist und an erster Stelle steht. Er umfasst alle Menschen; er unterscheidet nicht zwischen ihrer Herkunft, ihrem Glauben, ihrem Geschlecht, ihrem Alter, ihrer Hautfarbe, ihrer sexuellen Orientierung oder einer Behinderung. Dieser Satz ist der bei Bürgerinnen und Bürgern am tiefsten ins Bewusstsein eingedrungene. Bei allen Formen sozialer und kultureller Diskriminierung, wirtschaftlicher Ungleichheit oder Unterdrückung berufen sich die Bürgerinnen und Bürger auf die Verletzung der Menschenwürde. Der Satz erhebt einen hohen moralischen Anspruch und prägt den jeweiligen Zeitgeist. Denn was die Würde eines Menschen ausmacht, ist selbst wieder das Ergebnis sozialer und kultureller Auseinandersetzungen. Der Satz ist und bleibt eine wichtige Grundlage für das Bundesverfassungsgericht. Zu ihm sage ich: Es ist eine sehr, sehr wichtige Einrichtung - dank des Grundgesetzes.

(Beifall)

Auch die Rechtsetzung des Bundestages muss sich die Würde des Menschen zum Maßstab nehmen. Natürlich ist die Wirkung des Satzes immer auch begrenzt; denn täglich wird die Menschenwürde auch bei uns verletzt, in der höchsten Form übrigens durch Kriege. Wir wissen, dass dieses unveräußerliche Grundrecht nie vollständig erfüllt ist. Es ist aber nicht nur Utopie, sondern auch Ansporn, gegen alle Formen der Verletzung und Missachtung der Würde des Menschen vorzugehen.

Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 besagt:

Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.

Auch Letzteres gilt für jede und jeden, nicht abhängig von der Staatsbürgerschaft, der Art der Versicherung oder davon, ob sich ein Flugbetrieb rechnet.

In Artikel 3 Absatz 2 steht seit 1949:

Männer und Frauen sind gleichberechtigt.

Das war ein gewaltiger Fortschritt. Denn die Kriegsgeneration war von einem reaktionären Frauenbild geprägt. Das Grundgesetz erteilte dem Bundestag, der natürlich überwiegend aus Männern bestand, den verfassungsrechtlichen Auftrag, bis zum 31. Dezember 1953 die der Gleichberechtigung widersprechenden ehe- und familienrechtlichen Bestimmungen des BGB zu überarbeiten. Aber es tat sich zunächst nichts. Das Bundesverfassungsgericht musste den Bundestag ausdrücklich darauf hinweisen, seine Pflichten zu erfüllen. Erst vier Jahre später, am 18. Juni 1957, wurde das erste Gleichberechtigungsgesetz verabschiedet.

Das Recht des Ehemannes, ein Arbeitsverhältnis seiner Ehefrau fristlos zu kündigen, wurde aufgehoben. Bis dahin konnte der Ehemann seiner Frau sogar verbieten, einen Beruf auszuüben und ein eigenes Konto zu führen. Die Frauen durften fortan auch gegen den Willen des Ehemannes arbeiten, aber nur, wenn der Ehemann und die Kinder nicht darunter litten.

(Heiterkeit)

Frauen erhielten ein Mitspracherecht in Familienangelegenheiten. In der Erziehung der Kinder behielten Männer aber das alleinige Entscheidungsrecht. Gesetzliche Vertreter minderjähriger Kinder blieben allein die Väter.

Einige dieser Regelungen wurden selbstverständlich vom Bundesverfassungsgericht - das zeigt, wie wichtig es ist - wegen Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes für verfassungswidrig erklärt. Erst seit 1977, also 28 Jahre nach Annahme des Grundgesetzes, das die Gleichberechtigung von Männern und Frauen fordert, dürfen Frauen auch gegen jeden Willen des Ehemannes erwerbstätig sein, wechselte das Hausfrauenmodell zum Partnerschaftsprinzip.
1994 gab es dann eine wichtige Bekräftigung im Grundgesetz durch Aufnahme folgenden Satzes in Artikel 3:

Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.

Nach wie vor sind Frauen benachteiligt. Sie verdienen im Schnitt 22 Prozent weniger als Männer. Sogenannte Frauenberufe werden immer schlecht bezahlt, was bei Kindertagesstätten und Pflege ein einziger Skandal ist.

(Beifall)

Die Grundrechte - darauf hat Herr Oppermann hingewiesen - müssen wir im digitalen Zeitalter tatsächlich lernen besser zu schützen. Herr Bundespräsident, ich bin ja sehr beruhigt, dass die NSA entschieden hat, Sie nicht mehr abzuhören, und, Frau Bundeskanzlerin, ich bin auch beruhigt, dass die NSA entschieden hat, Sie nicht mehr abzuhören, aber wir alle anderen - es tut mir leid, Herr Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Sie auch - werden abgehört. Das müsste man doch mal beenden, und zwar sofort und unverzüglich.

(Beifall)

Ich sage noch kurz etwas zum Eigentum. Artikel 14 Absatz 2 besagt:

Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.
Das sind zwei Sätze, die fast genauso tief im Bewusstsein unserer Bevölkerung verankert sind wie der Satz über die Würde des Menschen. Das ist auch interessant, weil es auch ein Schluss aus der Nazidiktatur war, diese Regelung aufzunehmen.

Dann gibt es noch den Artikel 15 Absatz 1; den muss ich Ihnen vorlesen. Da steht drin:
Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden.

(Beifall)

Das ist nicht ein linkes Wahlprogramm; das ist das Grundgesetz. Ich wollte Sie nur daran erinnern.

(Heiterkeit und Beifall)

Artikel 146 regelt, dass das Grundgesetz so lange gilt, bis eine Verfassung in Kraft tritt, „die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.“  Es wird Zeit, diesen Auftrag zu erfüllen,

(Beifall)

wobei die wichtigsten Artikel des Grundgesetzes unbedingt zu übernehmen sind: die Artikel 1 ff. über die Grundrechte, auch die Artikel 14 und 15 über das Eigentum und viele andere mehr. Trotzdem: Unser Volk hat nunmehr und in absehbarer Zeit das Recht, über seine Verfassung selbst zu entscheiden.

Danke schön.

(Beifall)