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Chancengleichheit für Kinder erreichen

Archiv Linksfraktion - Rede von Gregor Gysi,

Gregor Gysi in der Debatte über den Nationalen Bildungsbericht 2010

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zu Recht, Herr Meinhardt, haben Sie auf die Worte von Herrn Weisz hingewiesen. Mich hat es auch beeindruckt, dass er gesagt hat: Die zentrale Frage bei den Entwicklungschancen von Kindern ist die Bildung.   Aber die Situation in Deutschland ist so, dass Sie ein klares Umdenken fordern müssen, statt sich in irgendeiner Form bestätigt zu sehen.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Der Bildungsbericht nennt drei Risikolagen: Arbeitslosigkeit der Eltern, geringes Einkommen der Eltern und schlechte bzw. keine Berufsausbildung. Der Bildungsbericht sagt: Diese drei Problemlagen setzen sich dann bei den Kindern fort. Aber er sagt nicht, was eigentlich geplant ist, wirksam dagegen zu tun. Das ist unsere Kritik.

29 Prozent der 13,6 Millionen Kinder in Deutschland   das sind 4 Millionen Kinder   befinden sich in einer der drei Risikolagen. 29 Prozent der Kinder! Ich bitte Sie, darüber nachzudenken.

(Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): Das haben wir schon, Herr Gysi!)

Darunter sind 1,1 Millionen Kinder von Alleinerziehenden; das ist fast die Hälfte der Kinder von Alleinerziehenden. Darunter sind 1,7 Millionen Kinder mit Migrationshintergrund; das ist fast die Hälfte der Kinder mit Migrationshintergrund. Die Situation bezüglich der Risikolagen hat sich nicht geändert unter der Regierung von SPD und Grünen, nicht geändert unter der Regierung von Union und SPD und nicht geändert unter der Regierung von Union und FDP. Die Problemlagen sind überall die gleichen geblieben.

(Beifall bei der LINKEN - Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): Sie regieren doch auch, in Berlin!)

Sie können das ganz einfach sortieren: Kinder von reichen Familien gehen in der Regel auf höhere Schulen oder auf Privatschulen, Kinder armer Familien haben diesbezüglich viel schlechtere Chancen.

Was übrigens auch interessant ist: In der Weiterbildung setzt sich das fort. Nichterwerbstätige oder Leute mit geringer Bildung haben viel schlechtere Chancen auf Weiterbildung als andere. Das System, das, wenn man so will, schon in der Kindertagesstätte beginnt, setzt sich also bis zum Ende des Lebens fort.

Ich möchte auf die Unterschiede in der frühkindlichen Bildung hinweisen. Die Angebote im Osten sind viel verbreiteter als die Angebote im Westen. Das hat etwas mit der Geschichte zu tun. Es wird höchste Zeit, dafür zu sorgen, dass die Zahl der Kindertagesstätten in den alten Bundesländern mindestens so hoch ist wie in den neuen Bundesländern, obwohl auch dort ausgebaut werden muss.

(Beifall bei der LINKEN - Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): Wie in Rheinland-Pfalz!)

Jetzt gibt es ein Gesetz, das besagt: Für 35 Prozent der Kinder müssen bis 2013 Kitaplätze entstanden sein. Heute glaubt wohl so gut wie keiner mehr daran, dass das zu schaffen ist. Nicht einmal die Hälfte der Jugendämter geht davon aus, dass Sie das wirklich realisieren. Warum wird hier viel zu wenig getan?

Das Entscheidende ist und bleibt die soziale Ungleichheit. Sie setzt sich fort. Ich habe hier vor kurzem gesagt: Zwischen den Chancen zweier Neugeborener liegen tausend Welten. - Nur, Neugeborenen kann man noch nichts vorwerfen. Nicht einmal die FDP kann ihnen Leistungsdefizite vorwerfen;

(Heiterkeit bei Abgeordneten der LINKEN)

sie sind ja gerade erst herausgekommen und haben noch nichts gemacht. Ich sage Ihnen: Für linke Politik ist ein ganz entscheidendes Ziel, Chancengleichheit für Kinder zu erreichen, und zwar gerade und in erster Linie auch in der Bildung.

(Beifall bei der LINKEN)

Herr Matschie, was Sie wahrscheinlich nicht mitbekommen haben: Dass der Bund für die Schulbildung nicht mehr zuständig ist, liegt an einer Grundgesetzänderung, mit der der Rest seiner Zuständigkeit gestrichen wurde. Diese Grundgesetzänderung kam aber nur durch die Stimmen von Union und SPD zustande; sonst gäbe es sie gar nicht. Hier wäre also Selbstkritik in jeder Hinsicht angesagt.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Das Kooperationsverbot ist übrigens auch völlig falsch; das sehen inzwischen selbst Bildungspolitiker der Union so.

Nun möchte ich drei konservative Thesen aufstellen. Wissen Sie: Ich bin ja nicht konservativ. Aber ich bin ein Logiker. Ich finde, selbst konservative Thesen müssten in sich logisch sein.
Ihre erste These lautet: Die Deutschen haben zu wenige Kinder. Ich weiß nicht, ob das stimmt. Aber eines weiß ich: Sie haben es nicht handwerklich verlernt.

(Heiterkeit bei der LINKEN)

Das heißt, Sie von der Union müssten einmal über die Gründe nachdenken.
Ihre zweite These lautet: Wir brauchen einen flexiblen Arbeitsmarkt. Das heißt, die Lehrerin und der Architekt müssen immer dorthin gehen, wo sie gerade gebraucht werden. Sie wohnen also einmal in Thüringen; wenn sie einen Job in Bayern kriegen, gehen sie nach Bayern; dann gehen sie nach Schleswig-Holstein, und dann gehen sie nach Berlin. Sie müssen immer ganz flexibel sein und umziehen.

Jetzt füge ich Ihre beiden Thesen zusammen: Dieses Paar hat drei Kinder und soll ständig umziehen, weil beide am Arbeitsmarkt flexibel sein sollen. Erklären Sie mir doch einmal, wie Ihre dritte These dazu passt: dass wir Wettbewerb brauchen und deshalb, weil wir 16 Bundesländer haben, 16 verschiedene Schulsysteme haben. Das heißt, dass sich diese Eltern, die Sie gerade überall herumschicken, gegenüber ihren Kindern völlig verantwortungslos verhalten müssen. Bringen Sie doch wenigstens eine Logik in Ihre Politik! Dann müssten auch Sie sagen: Das mit den 16 Schulsystemen läuft nicht.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Jetzt will ich es konkret machen: Nehmen wir einmal an, ein Kind aus Bayern beginnt gerade mit der sechsten Klasse und zieht nach Berlin um.

(Uwe Schummer (CDU/CSU): Oh! Welch ein großer Abstieg!)

Dieses Kind war schon im Gymnasium und muss in Berlin wieder in die Grundschule gehen   leicht abenteuerlich.

(Patrick Meinhardt (FDP): Ich würde alles versuchen, es in Bayern zu halten!)

Aber - passen Sie auf! - der umgekehrte Fall ist noch schlimmer: Ein Kind aus Berlin zieht zu Beginn der sechsten Klasse nach Bayern, kommt dort auf ein Gymnasium und hat im Vergleich mit den anderen Kindern zunächst gar keine Chance, weil die das Gymnasium schon ein Jahr lang kennengelernt haben, das Kind aus Berlin aber aus der Grundschule kommt.

(Patrick Meinhardt (FDP): Dann machen Sie doch eine bessere Bildungspolitik in Berlin!)

Jetzt komme ich zum zweiten Beispiel   da sehen Sie nicht so gut aus  : Ein Kind   sagen wir einmal, es ist in der neunten Klasse   zieht von Bayern nach Sachsen-Anhalt. Dieses Kind aus Bayern ist fremdsprachlich etwas besser ausgebildet. Aber es hat ein Problem: Es hatte noch nie Chemieunterricht; der beginnt in Bayern erst in der neunten Klasse. In Sachsen-Anhalt hatten aber alle Kinder schon seit der siebten Klasse, seit zwei Jahren, Chemieunterricht. Das heißt, dieses arme Kind aus Bayern hat wegen Ihres komischen flexiblen Arbeitsmarktes überhaupt keine Chance.

(Heiterkeit bei Abgeordneten der LINKEN)

Sagen Sie mal: Was soll dieser ganze Unsinn?

(Beifall bei der LINKEN - Uwe Schummer (CDU/CSU): In welcher Schule waren Sie denn eigentlich?)

Warum sind wir denn nicht in der Lage, ein Top-Bildungssystem von Mecklenburg-Vorpommern bis Bayern zu schaffen, sodass man umziehen kann, ohne sich gegenüber seinen Kindern verantwortungslos zu benehmen?

(Uwe Schummer (CDU/CSU): Man merkt: Sie waren schon lange nicht mehr in einer Schule!)

Jetzt gibt es noch eine neue Perversion   das alles muss man den Leuten erzählen  : private Agenturen, die Umziehende bei der Wahl der richtigen Schule unterstützen.

(Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das wissen wir doch alle!)

Ich bitte Sie! Wo soll denn das alles enden?

(Beifall bei der LINKEN)

Jetzt kommt eines hinzu: Unsere 16 Bundesländer sind unterschiedlich finanzstark. Wenn Sie sagen, es sei reine Ländersache, dann sagen Sie ja, man könne Glück oder Pech haben. In einem reicheren Bundesland gibt es vielleicht mehr Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, mehr Lehrerinnen und mehr Lehrer, und in einem ärmeren weniger. Interessant ist, dass es so direkt nicht funktioniert. Berlin ist vieles,

(Monika Grütters (CDU/CSU): Aber leider nicht besonders schlau!)

aber sehr arm im Vergleich zu Bayern. Bayern ist auch vieles, aber vor allen Dingen deutlich reicher. Trotzdem wird in Berlin pro Kind für Bildung mehr ausgegeben als in Bayern. Darüber sollten Sie bei der CSU einmal nachdenken.

(Beifall bei der LINKEN - Zurufe von der CDU/CSU)

- Passen Sie auf! Ich liebe Bayern: schöne Landschaft, schöne Städte. Ich mag auch München. Aber eine Metropole kennen Sie nicht. Das können Sie nur in Berlin kennenlernen; das ist noch etwas anderes.

(Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN - Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): Wo sind die Vorschläge?)

Das heißt übrigens, dass es bei den Ländern doch mehr um die Einstellung der Landesregierung zu Bildungsfragen als ums Geld geht, wobei das Geld natürlich auch eine Rolle spielt, Herr Matschie. Die Grundgesetzänderung gab es nur mithilfe der SPD.
Dann haben Sie die Schuldenbremse beklagt. Die steht im Grundgesetz. Ohne die Stimmen der SPD gäbe es sie gar nicht; ich muss das einmal ganz klar sagen.

(Beifall bei der LINKEN)

So, und jetzt, Herr Matschie, werfen Sie es der Frau Bundesministerin vor und sagen, sie solle das Geld an die Schulen schaffen und solle dort Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter beschäftigen. Ja, toll! Das würde ich auch sagen.

(Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): Machen Sie doch mal eigene Vorschläge! Das ist doch Plauderei!)

Aber das Grundgesetz erlaubt das wegen der Änderung, die Sie katastrophalerweise mitgemacht haben, ja nicht mehr.

(Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): Sie sind doch nicht à jour! Sie müssen mal eigene Vorschläge machen!)

- Ich wollte ja, dass Sie sich aufregen. Dass mir das immer wieder gelingt, darauf bin ich schon ein bisschen stolz.

(Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN)

Aber nun zu den Hauptschulen. Ich sage Ihnen: Die Hauptschulen sind ein einziger sozialer Skandal. Ein Kind, das zur Hauptschule geht, ist schon sozial ausgegrenzt. Es wird abgeschrieben. Weil der Druck so zunimmt, entscheiden sich jetzt fast alle Bundesländer, Hauptschulen und Realschulen zusammenzulegen. Ich sage Ihnen erst einmal, was dabei herauskommt; nur Beispiele. Wie heißt diese zusammengelegte Haupt- und Realschule in Deutschland, in den einzelnen Bundesländern? Sekundarschule oder Mittelschule oder Oberschule oder Regelschule oder verbundene Haupt- und Realschule

(Dagmar Ziegler (SPD): Was ist denn Ihr Vorschlag? - Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): Herr Gysi, wo bleibt Ihr Vorschlag?)

oder erweiterte Realschule oder Stadtteilschule oder Regionalschule oder Realschule Plus oder Mittelstufenschule? Erklären Sie den Leuten diesen Schwachsinn einmal! Die wissen ja gar nicht, wohin sie ihre Kinder schicken sollen.

(Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Was ist Ihre Konsequenz? Was ist Ihre Lösung? Was ist Ihr Vorschlag?)

- Ja, das sage ich Ihnen gleich; das kann ich Ihnen gleich sagen. Zu meinen Konsequenzen komme ich noch.

Die Hauptschülerinnen und Hauptschüler haben es bei der Zusammenlegung aber nicht leichter, weil sie in eine Hauptschulklasse kommen und damit genauso ausgegrenzt und abgegrenzt bleiben wie früher.

In Sachsen-Anhalt regieren übrigens Union und SPD. Erstmalig in diesem Jahr ist es dort so, dass die Zahl der Schulabgängerinnen und Schulabgänger ohne Abschluss oder nur mit Hauptschulabschluss größer ist als die Zahl derjenigen, die mit Abitur abgehen. Das ist neu. Deshalb sage ich Ihnen: Es wird in Sachsen-Anhalt höchste Zeit, dass die LINKE regiert.

(Beifall bei der LINKEN - Lachen bei der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Uwe Schummer (CDU/CSU): Geht es noch tiefer?)

- Ich wusste, dass Sie sich darüber freuen.
In Bayern und in Baden-Württemberg ist das aber nicht neu. In Bayern und Baden-Württemberg ist das seit Jahren so. Jetzt sage ich Ihnen nur die Zahl für Bayern von 2009: Mit Hauptschulabschluss bzw. ohne jeden Abschluss verließen 44 552 Schülerinnen und Schüler die Schule und mit Hochschulreife   einschließlich Fachhochschulreife   nur 33 188. Auch das ist ein Skandal. Es ist der Beginn und die Fortsetzung der sozialen Ausgrenzung.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Herr Kollege Gysi, Sie haben Ihre Zeit jetzt weit überschritten.

(Swen Schulz (Spandau) (SPD): Ohne Vorschläge!)

Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
Gut, dann sage ich Ihnen als Letztes, was wir brauchen.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Noch einen Satz.

Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
Ein letzter Satz: Wir brauchen bildungsträchtige Kitas, eine Förderung jedes Kindes und Jugendlichen. Wir brauchen Gemeinschaftsschulen, wie es sie schon in großer Zahl in Berlin gibt.

(Lachen bei der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Es ist gut, Herr Gysi.
Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):

Bringen Sie auch den Kindern aus reichen Familien das soziale Leben bei! Isolieren Sie sie nicht, wie Sie das organisieren.

(Beifall bei der LINKEN)