Der Petitionsausschuss des Bundestages stellte seinen Tätigkeitsbericht 2005 vor. Petra Pau wies in ihrer Rede auf die große Bedeutung der Arbeit dieses Ausschusses für die Demokratie hin: "Ich appelliere an uns, die Probleme und Belange, die im Petitionsausschuss behandelt werden, noch viel ernster zu nehmen; denn es gibt wohl keinen Parlamentsausschuss, der näher am wahren Leben dran ist, als dieser."
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Unsere Kollegin Kersten Naumann hat die Arbeit des Petitionsausschusses als Seismografen der Nation und als eine Form direkter Demokratie gewürdigt. Dem will ich überhaupt nicht widersprechen. Im Gegenteil: Ich appelliere an uns, die Probleme und Belange, die im Petitionsausschuss behandelt werden, noch viel ernster zu nehmen; denn es gibt wohl keinen Parlamentsausschuss, der näher am wahren Leben dran ist, als dieser.Frau Naumann hat summiert: Es gab noch nie so viele Petitionen, wie im vergangenen Jahr, jedenfalls nicht seit 1992. Das ist der Positivbefund. Es darf aber spekuliert werden, was die Ursachen dafür sind. Liegt es daran, dass die demokratischen Möglichkeiten hierzulande immer engagierter genutzt werden, oder liegt es daran, dass die Bürgerinnen und Bürger von immer mehr Sorgen geplagt werden?
Wenn ich mir die Petitionen ansehe, auch die, die ich selbst bearbeite, dann stelle ich fest: Das Zweite ist der Fall. Immer mehr Bürgerinnen und Bürger fühlen sich ungerecht behandelt, geraten in soziale Nöte, ringen mit Gesetzen, die sie in ihrer Würde beschränken. Das ist der ernste Befund, über den in der heutigen Debatte zu reden ist. Die Gesundheitsreform und die Hartz-Gesetze haben dazu beigetragen. Ich verweise auch auf die berührenden Beispiele, die der Kollege Amann vorhin vorgetragen hat.
Die Subbotschaft vieler Petitionen lautet also: Wir fühlen uns von der Politik verlassen. Auch das ist ein Hauptbefund. Diese Verlassenheit korrespondiert mit aktuellen Untersuchungen. Demnach halten immer weniger Bürgerinnen und Bürger die Demokratie für eine gute Staatsform. Diese Tendenz gilt für die gesamte Bundesrepublik. Im Westen zweifelt rund ein Drittel an der Güte der Demokratie und im Osten ist es weit mehr als die Hälfte. Ich halte das für alarmierend.
Ich denke, der Bundestag darf nicht darüber hinweggehen; denn schließlich geht es nicht um irgendeine Demokratie, sondern um die Bundesrepublik und darum, wie sie von den Bürgerinnen und Bürgern wahrgenommen wird. Vielen kommt sie immer fremder vor und sie werden immer gleichgültiger.
Das aber ist ein Einfallstor für Rechtsextremisten. Diese nutzen es weidlich. Sie merken, ich fahre dort fort, wo ich gestern in der Debatte über den Rechtsextremismus aufgehört habe. Ich denke, das sollten wir immer wieder tun. Denn der sicherste Verfassungsschutz ist noch immer eine couragierte Zivilgesellschaft. Das ist eine Binsenweisheit für alle, die das Grundgesetz und die Würde des Menschen ernst nehmen.
(Beifall bei der LINKEN)
Wenn sich aber immer mehr von der Demokratie abwenden, dann ist das Grundgesetz in Gefahr. Schlimmer noch: Der Sozial- und der Bürgerrechtsstaat stehen auf dem Spiel. Auch darum geht es in dieser Debatte. Das betrifft unsere alltägliche Arbeit, nicht nur die im Petitionsausschuss.
In den Petitionen werden immer wieder zwei große Fragen angesprochen: die soziale Frage und die Gerechtigkeitsfrage. Bei beiden liegt etwas im Argen. Das ist die Generalbotschaft, die mit dem Bericht des Petitionsausschusses heute zur Debatte steht. Wir können, müssen und sollten die Arbeit des Petitionsausschusses - hier schließe ich mich dem Dank meiner Vorrednerinnen und Vorredner an - und auch die Arbeit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter würdigen. Aber es geht nicht nur darum. Es geht in diesen Debatten auch um die Grundlinien der Bundespolitik im Spiegel der Bürgerinnen und Bürger.
Seismografen sollen helfen und Hinweise geben, bevor Katastrophen ausbrechen. Wir kennen das in Zusammenhang mit Vulkanen, Erdbeben oder dem Tsunami zum Jahreswechsel 2004/2005, der uns allen noch in Erinnerung ist. Wenn aber der Petitionsausschuss ein Seismograf sein soll, dann müssen wir, der gesamte Bundestag, die Signale ernst nehmen.
Ich entnehme dem Bericht und den Petitionen, dass sie eine Vorwarnung vor einem sozialen Tsunami hierzulande sind. Die Kollegin Naumann hat hier über das Problem des Verlustes der Krankenversicherung gesprochen. Wir könnten sicherlich weitere solche Probleme aufzählen, die wir als Vorwarnung aufnehmen und die wir lösen sollten.
Es grummelt an vielen Stellen. Trotzdem führen wir im Bundestag immer öfter aufgeregte Debatten, die - das sollten wir uns selbstkritisch sagen - lebensfremd sind. Ich nenne ein Beispiel: Wie oft haben wir im vergangenen halben Jahr hier im Bundestag über Hartz-IV-Missbrauch gesprochen? Ich kenne nur eine belastbare Untersuchung zu diesem Thema und in der steht: Der Sozialmissbrauch durch Langzeitarbeitslose liegt deutlich unter 3 Prozent. Aber um diese 3 Prozent haben sich die aufgeregtesten Debatten im letzten halben Jahr gedreht und nicht um die 97 Prozent, die trotz aller Sozialbeschränkungen noch immer arbeitslos sind.
(Beifall bei der LINKEN)
Ich finde, das ist Politikmissbrauch. Vielleicht wenden sich auch deshalb so viele an den Petitionsausschuss. Aber immer mehr wenden sich ab bzw. nicht einmal mehr dorthin.
(Günter Baumann [CDU/CSU]: Die Zahl der Petitionen steigt! Das haben wir doch festgestellt!)
Jedes Klagen über den Aufwind der Neonazis bleibt brotlos, wenn wir nicht auch darüber gemeinsam nachdenken.
Die Vorsitzende des Petitionsausschusses hat einen weiteren positiven Befund gewürdigt. Das praktische Petitionsrecht wurde in den vergangenen Jahren ausgeweitet. Es kann per Internet und massenhafter wahrgenommen werden. Diese Einschätzung unterstütze ich. Aber auch hier sollten wir nicht dem Irrtum verfallen und den Baum mit dem Wald verwechseln. Denn in Fragen direkter Demokratie ist die Bundesrepublik immer noch ein EU-Entwicklungsland.
Die Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik können sich inzwischen zwar bequemer und umfassender über Missstände beschweren. Sie können - auch über den Petitionsausschuss - Anregungen geben. Aber sie haben kaum Rechte, ihre politischen Umstände direkt mitzugestalten.
In den Ländern um uns herum haben die Bürgerinnen und Bürger die Möglichkeit, ihr persönliches Votum abzugeben, zum Beispiel zum EU-Verfassungsvertrag. Nur in der Bundesrepublik wähnt sich die Mehrheit der politischen Klasse immer noch klüger. Ich finde, das ist vordemokratisch. Ich habe das hier schon mehrfach gesagt. Auch das gehört übrigens zur Negativbilanz von Rot-Grün. Dieses Manko wurde zementiert, anstatt endlich mehr direkte Demokratie zu wagen.
(Beifall bei der LINKEN - Klaus Hagemann [SPD]: Das ist doch Quatsch! - Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir haben doch einen Gesetzentwurf eingebracht!)
Gegen Demokratieverdruss hilft letztlich nur mehr Demokratie. Denn die Bürgerinnen und Bürger wollen ernst genommen werden. Die Realität in der Bundesrepublik ist anders. Sie werden oft als Souverän gehandelt, aber in der praktischen Politik als Problem behandelt.
Ich habe eingangs gefragt, was uns der Jahresbericht des Petitionsausschusses wirklich zeigt. Meine Antwort lautet: Er stellt der Bundespolitik einen gefährlichen Befund aus. Schauen wir nur auf die Wahlbeteiligung. Am vergangenen Wochenende hatten wir dazu Gelegenheit. Wahlen sind in der Demokratie die kleinste Übung. Schon sie gelten aber im Moment für eine Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger als brotlos. Wir sollten uns darum kümmern, dass das Grundgesetz und die Demokratie hier nicht leer laufen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
(Beifall bei der LINKEN)