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Binnenwirtschaft stärken statt Export

Archiv Linksfraktion - Rede von Gregor Gysi,

Gregor Gysi antwortet auf die Regierungserklärung von Wirtschaftsminister Brüderle »Aufschwung für Deutschland«

Herr Bundestagspräsident! Meine Damen und Herren! Herr Brüderle, ich habe Ihnen sehr genau zugehört, auch Ihren Ausführungen zur Atomenergie. Ich habe an Sie die Bitte, einmal ganz im Ernst über Folgendes nachzudenken: Eine Technologie muss man beherrschen.

(Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): So ist es!)

Man muss sie auch im Falle eines Unfalls beherrschen können. Wenn uns je ein Atommeiler um die Ohren fliegt, können Sie wie wir alle nichts einschätzen. Sie wissen nicht, wie viele Tote es gibt. Sie wissen nicht, ob man unser Land noch bewohnen kann. Sie wissen nicht, wie viele Generationen das betrifft. Ich sage Ihnen: Lassen Sie die Finger von einer Technologie, die wir alle nicht beherrschen! Kein Mensch in unserem Land hat verdient, dass Sie da umgekehrt vorgehen.

(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Sie haben mit Stolz verkündet, dass die Wirtschaft wächst. Ich sage: trotz der Politik der Bundesregierung, nicht etwa wegen dieser Politik. Dann schauen wir uns einmal die drei Gründe dafür an:

Der erste Grund ist, dass die Exporte nach China und Südostasien steigen. Warum? Weil die Chinesen ein gewaltiges Konjunkturprogramm gestartet haben, also das tun, was Sie für Deutschland gerade ablehnen. Dadurch können wir dorthin natürlich mehr exportieren.
Der zweite Grund liegt in der Abwertung des Euro gegenüber dem Dollar und anderen Währungen. Dadurch werden unsere Produkte billiger. Das hat noch nichts mit Qualität zu tun; sie werden erst einmal billiger und lassen sich leichter verkaufen.

Der dritte Grund ist, dass die Löhne in Deutschland in den letzten zehn Jahren real um 11 Prozent gesunken sind. Dadurch haben Sie den Export erhöht. Das Problem ist nur, dass die anderen Länder das merken. China will jetzt nicht mehr wie Deutschland das Land mit dem berühmten Exportüberschuss sein. China versucht, das zum Ende des Jahres hin zu korrigieren. Aber die Bundesregierung hier in Deutschland korrigiert das überhaupt nicht. Sie von der Bundesregierung haben nicht begriffen, wie wichtig der Binnenmarkt, die Binnenwirtschaft für Deutschland sind; Sie setzen allein auf den Export, was falsch ist.

(Beifall bei der LINKEN)

Im Übrigen ist das Ganze eine Ausnahme im Jahr 2010. Das setzt sich im Jahr 2011 nicht fort, und das hat einen Grund. Als die Krise begann, hatten Sie eine andere Logik. Da hat Frau Merkel gesagt: Ich will auf gar keinen Fall ein Sparprogramm; ich will ein Konjunkturprogramm. - Jetzt, mitten in der Krise, ändern Sie Ihre Logik. Sie haben übrigens nie erklärt, warum, warum also damals das Konjunkturprogramm richtig gewesen sein soll und warum es jetzt plötzlich richtig sein soll, dramatische Sozialkürzungen ich werde darauf noch eingehen vorzunehmen.

(Beifall bei der LINKEN - Zuruf von der FDP: Jeweils antizyklisch, Herr Gysi!)

- Ja, ja.

Der Punkt ist, dass Sie auch andere Länder zu solchen Kürzungsprogrammen, die Sie fälschlich immer „Sparpaket“ nennen da wird nichts gespart; Sie kürzen schlicht und einfach , gezwungen haben, nämlich Griechenland, Spanien, Portugal, Irland, Großbritannien und Frankreich. Was ist Ihres Erachtens die Folge, wenn dort all diese Kürzungsprogramme durchgeführt sind? Die Folge ist, dass Deutschland dorthin weniger exportieren kann; denn die Kaufkraft nimmt ab, und deshalb werden weniger Produkte verkauft. Schon damit ist Ihr Boom beendet.

Da Sie selbst in Deutschland ein solches Sparprogramm, ein solches Kürzungsprogramm, durchführen, wird es hier entsprechende Folgen geben, worauf ich noch eingehen werde. Ich sage Ihnen: Die reine Exportorientierung muss weg. Wir brauchen eine deutlich stärkere Binnenwirtschaft.

(Beifall bei der LINKEN)

Sie sagen in dem Zusammenhang, Herr Brüderle, dass es falsch wäre, wenn wir höhere Löhne in Deutschland hätten und ein Konjunkturprogramm durchführten. Ich habe an der Stelle auf zwei Sätze gewartet, in denen Sie das erklären oder begründen. Sie kamen nicht. Sie sagen einfach, es sei falsch. Wieso ist das falsch? Wieso ist es eigentlich falsch, unsere Binnenwirtschaft zu stärken? Wieso ist es falsch, mehr soziale Gerechtigkeit herzustellen? Wieso ist es falsch, die Löhne endlich wieder an die Produktivitätsentwicklung anzupassen und damit zu steigern? Wieso ist es falsch, diejenigen, die Werte schaffen, daran finanziell zu beteiligen? Dafür habe ich von Ihnen keine Erklärung bekommen.

(Beifall bei der LINKEN)

Was machen Sie jetzt? Sie schlagen ein Kürzungsprogramm vor. Ein erster Vorschlag ist die Umwandlung von Pflichtleistungen in Ermessensleistungen bei Arbeitslosen. Wenn ich mich recht erinnere, hieß doch der Slogan „Fordern und Fördern“. Das Fördern soll jetzt gestrichen werden, wenn ich das richtig verstehe. Schließlich wollen Sie 16 Milliarden Euro bis 2014 einsparen. Das heißt, die ganzen Ausbildungsprogramme und die Trainingsprogramme, all das, was es sonst noch gibt, müssen von den Jobcentern gestrichen werden. Was bieten Sie denn dann den Arbeitslosen? Alle Programme sollen doch jetzt Ermessensleistungen werden. Ich weiß gar nicht, nach welchem Ermessen entschieden wird. Entscheidet dann ein Angestellter oder eine Angestellte darüber, je nachdem, ob er oder sie Lust hat oder nicht? Ermessen ist für mich Willkür. Nein, diese Leistungen müssen Pflichtleistungen bleiben. Das ist für mich ganz entscheidend.

(Beifall bei der LINKEN)

Ein anderer Punkt ist die geplante Streichung des Zuschlages beim Übergang von Arbeitslosengeld I in Arbeitslosengeld II. Das ist grob ungerecht. Stellen Sie sich einmal Folgendes vor: Ein erwerbsloser Ingenieur bekommt Arbeitslosengeld I. Bisher war es so: Bevor dieser Ingenieur ALG II erhielt, bekam er ein Übergangsgeld, damit er sich auf diesen Bruch, auf diese Veränderung seines Lebensstandards einstellen konnte. Jetzt aber wollen Sie diesen Zuschlag einfach streichen. Sie weigern sich, vom Millionär einen halben Cent mehr zu nehmen; aber dem ALG-II-Empfänger streichen Sie das Übergangsgeld. Das können Sie nicht erklären. Mit der Vokabel „Gerechtigkeit“ hat das Ganze überhaupt nichts zu tun.

(Beifall bei der LINKEN)

Jetzt komme ich zum Elterngeld; darüber hat auch Herr Fuchs gesprochen. Beginnen wir der Ehrlichkeit halber ganz von vorne: Am Anfang war die Große Koalition. Was hat diese Große Koalition beim Elterngeld gemacht, auch Sie, meine Damen und Herren von der SPD? Stellen Sie sich doch einmal selbstkritisch hierhin und erklären Sie: Das war ein Fehler. - Bis dahin bekam die ALG-II-Empfängerin bzw. der ALG-II-Empfänger zwei Jahre lang Elterngeld in Höhe von monatlich 300 Euro.

(Zuruf von der CDU/CSU: Erziehungsgeld!)

Ja, Sie haben es anders genannt. Aber faktisch gab es dieses Geld, und zwar 24 Monate lang. - In der Großen Koalition ist entschieden worden, die Dauer des Bezugs zu halbieren, also 12 Monate zu streichen, und zwar nur aus dem einen Grund, damit man in der Regel der besserverdienenden Frau gelegentlich auch dem besserverdienenden Mann nicht mehr 300 Euro, sondern bis zu 1 800 Euro zahlt. Das heißt, die Sozialdemokratie Deutschlands hat zugestimmt, für ALG-II-Empfängerinnen und -Empfänger die Dauer des Bezugs von Elterngeld zu halbieren,

(Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE): Richtig! Das ist die Wahrheit!)

damit die Bestverdienenden einen Betrag von 1 800 Euro bekommen können. Das ist völlig antisozialdemokratisch. Sagen Sie doch einmal ehrlich, dass das ein Fehler war.

(Beifall bei der LINKEN)

Dass die Union das macht, passt zu ihrer ideologischen Logik. Aber bei der SPD kann ich es nicht nachvollziehen.

Jetzt passiert das, was immer passiert und was mich wirklich ärgert. Sie haben einen Schritt gemacht und die Dauer des Bezugs für ALG-II-Empfänger halbiert. Jetzt sagen Union und FDP: Gut, wenn die Tür schon einen Spalt geöffnet ist, dann machen wir sie ganz auf und streichen das Geld für ALG-II-Empfänger gänzlich. Das ist die Folge. Ich sage Ihnen: Sie hätten sich das nicht getraut, wenn die SPD in der Großen Koalition nicht zugestimmt hätte, die Dauer des Bezugs zu halbieren. Sie hätten sich nicht getraut, das Geld für diese Menschen ganz zu streichen. Aber genau das machen sie jetzt.

Logisch, Herr Brüderle und Herr Fuchs, ist Ihre Argumentation überhaupt nicht. Sie erklären, man könne den ALG-II-Empfängern das Geld nicht zahlen, weil es eine Lohnersatzleistung sei. Es ist doch ganz egal, was es ist. Die Menschen bekamen dafür, dass sie Kinder haben, zusätzliches Geld das war entscheidend und wichtig , und zwar über einen bestimmten Zeitraum. Dieses Geld nehmen Sie ihnen jetzt einfach weg.

Der Gattin des Millionärs, die ständig zu Hause ist und auch keine Lohnersatzleistung bekommt, sagen Sie, dass sie weiterhin Elterngeld bekommt; denn für sie wird es nicht gestrichen. Erklären Sie das einmal der ALG-II-Empfängerin! Gehen Sie zu ihr und erklären Sie, warum die Frau des Millionärs Elterngeld bekommt und sie nicht! In beiden Fällen soll es doch keine Lohnersatzleistung sein. Sie bringen keine Logik in Ihre Politik hinein.

(Beifall bei der LINKEN)

Es gibt 7 Millionen Hartz-IV-Empfängerinnen und Hartz-IV-Empfänger. Es geht also um sehr viele Menschen.

Dann wollen Sie die Heizkostenpauschale für Geringverdiener streichen. Was sagen Sie diesen Menschen, wovon sie die Heizkosten bezahlen sollen?

Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege Gysi, Herr Geis möchte Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen.

Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
Ja, bitte.

Norbert Geis (CDU/CSU):
Herr Kollege, würden Sie mit mir die Unterscheidung zwischen Elterngeld auf der einen Seite und Erziehungsgeld auf der anderen Seite machen? Erziehungsgeld wurde seit 1986 gezahlt, unabhängig davon, ob nun eine Frau zur Arbeit gegangen ist oder nicht. Das wurde als Erziehungsleistung abgegolten, weil die Frau eine bestimmte Erziehungsleistung erbracht hat. Diese Erziehungsleistung erbringt sie nach wie vor, unabhängig davon, ob sie arbeitet oder nicht. Wegen dieser Erziehungsleistung bekommt sie die 300 Euro. Diese sollen erhalten bleiben. Was haben Sie dagegen?

(Zurufe von der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
Ich habe etwas dagegen, dass Sie die Erziehungsleistung der ALG-II-Empfängerin nicht anerkennen. Das ist mein Problem. Diese leistet doch auch Erziehungsarbeit. Warum bekommt sie kein Geld? Das können Sie nicht erklären.

(Beifall bei der LINKEN Abg. Norbert Geis (CDU/CSU) meldet sich zu einer weiteren Zwischenfrage)

Er möchte noch eine Frage stellen, Herr Präsident.

Präsident Dr. Norbert Lammert:
Sie möchten offenkundig auch, dass er eine weitere Frage stellt.

(Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das würde ich an seiner Stelle auch! Das ist ja entlarvend!)

Dann stehe ich dem nicht im Wege. Bitte schön.

Norbert Geis (CDU/CSU):
Stimmen Sie mit mir überein, dass es dadurch, dass die ALG-II-Empfängerin in Form von aufgestuftem Kindergeld eine Ersatzleistung bekommt

(Katja Kipping (DIE LINKE): Das wird doch angerechnet! Weitere Zurufe von der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

lassen Sie mich doch meine Frage beenden , möglich ist, die 300 Euro zu streichen, weil in diesem Fall das Erziehungsgeld über das Kindergeld läuft.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP Zurufe von der LINKEN)

Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
Nein. Das kann ich Ihnen deshalb nicht zubilligen, weil ja das Kindergeld, von dem Sie hier sprechen, jetzt nicht erhöht wird. Sie streichen vielmehr 300 Euro, weil Sie sagen, es sei eine Leistung, die nicht gerechtfertigt ist. Es ist ja nicht so, dass Sie zugleich das Kindergeld um 300 Euro erhöhen. Wenn das der Fall wäre, dann könnten wir darüber diskutieren. Aber genau das machen Sie ja nicht. Deshalb handelt es sich um eine Schlechterstellung, und es bleibt dabei: Die Hausfrau des Millionärs bekommt weiterhin Geld Sie nennen es hier nun Erziehungsgeld , aber die ALG-II-Empfängerin bekommt nichts.

(Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das Kindergeld wird verrechnet bei Hartz IV!)

Richtig, es kommt noch hinzu, dass das Kindergeld bei Hartz-IV-Empfängern verrechnet wird. Diese bekommen gar kein Kindergeld, weil sie den Zuschlag für Kinder bekommen. Darüber haben wir uns schon immer aufgeregt. Wir halten das für eine völlig falsche Herangehensweise.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Jetzt möchte ich gerne fortsetzen. Das Problem ist doch folgendes: Wir haben eine Krise. Es gibt einige, die die Schuld für diese Krise tragen. Die Schuldigen sind nämlich die Banker, die Spekulanten und diejenigen, die für bestimmte politische Entscheidungen verantwortlich sind. Als Ergebnis Ihres sogenannten Sparpaketes kommt nun heraus, dass weder die Banker noch die Spekulanten noch die Verantwortlichen in der Politik die Folgekosten dieser Krise bezahlen; vielmehr sollen diese die ALG-II-Empfänger und die Geringverdiener in Deutschland bezahlen. Erklären Sie denen einmal, was daran gerecht sein soll. Nichts haben Sie bisher unternommen, damit die tatsächlich Verantwortlichen zur Verantwortung gezogen werden.

Die Einkommen aus Unternehmenstätigkeit werden übrigens im nächsten Jahr um 7,1 Prozent steigen. Ihr Vorgehen hat, wenn Sie schon nicht sozial denken, auch wirtschaftliche Auswirkungen: Eine ALG-II-Empfängerin gibt all das Geld aus, das sie bekommt. Wenn Sie jedoch Herrn Ackermann 100 Euro mehr geben, dann kauft er nicht für 100 Euro mehr ein, sondern er spekuliert mit diesen zusätzlichen 100 Euro. Wenn Sie einer ALG-II-Empfängerin 10 Euro mehr geben, kauft sie dafür ein. Das heißt, die ALG-II-Empfängerinnen und Empfänger wie auch die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie die Geringverdiener würden die Binnenwirtschaft stärken, wenn sie mehr Geld hätten. Die wirklich Reichen und Vermögenden spekulieren bloß, wenn sie mehr Geld bekommen, aber stärken nicht die Binnenwirtschaft. Dieser Unterschied muss doch einmal deutlich hervorgehoben werden.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich stehe mit meiner Meinung nicht alleine da. Der Wirtschaftsrat der CDU hat verlangt, endlich einmal für eine gerechtere Steuerbelastung zu sorgen. Millionäre stellen sich hin und erklären sich bereit, höhere Einkommensteuern zu zahlen. Es ist doch wirklich grotesk: Nur die FDP und die Union weigern sich und handeln konsequent dagegen.

(Hans-Michael Goldmann (FDP): Wo bleiben Sie denn da?)

Ja, ich auch. Man sollte nur Politikern trauen, deren Vorschläge dazu führen, dass auch sie selber mehr Steuern zahlen müssen. Sie dagegen machen immer Vorschläge, die dazu führen, dass Sie selber weniger Steuern zahlen. Das macht mich ungeheuer stutzig.

(Beifall bei der LINKEN Zuruf des Abg. Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP))

Jüngst haben Sie zusammen mit der SPD die Schuldenbremse eingeführt. Aufgrund dieser Schuldenbremse müssen bis 2014 knapp 96 Milliarden Euro eingespart werden. Sagen Sie mir doch einmal, wie. Sie sagen, die Hälfte solle durch Leistungskürzungen eingespart werden. Aber die Länder sind doch am Ende, und die Kommunen sind schon kaputt. Wohin soll das noch führen? Schleswig-Holstein zum Beispiel hat die Schuldenbremse in die eigene Verfassung übernommen. Wozu führt das dort? Um die Schuldenbremse einzuhalten, muss man dort 5 300 Stellen, mehrheitlich im Schulbereich, streichen. An den Hochschulen werden bestimmte Studiengänge dichtgemacht. Die Landeszuschüsse für die Schülerbeförderung werden gestrichen. Es wird also in allen Bereichen der Bildung gespart. Wenn das alles nicht reichen sollte, dann sollen auch noch Schwimmbäder geschlossen und die Zahl der Kultureinrichtungen reduziert werden. Ich frage Sie: Was ist das Ziel? Wohin soll das in diesem Land noch führen?

(Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP): Das haben Sie in Berlin doch auch alles gemacht! Gegenruf der Abg. Dr. Dagmar Enkelmann (DIE LINKE): Die Verschuldung in Berlin haben Sie doch zu verantworten!)

Ja, dass es Berlin schlecht geht, weiß ich. Im Unterschied zu Ihnen, Herr Lindner, kümmern wir uns darum.

(Beifall bei der LINKEN)

Meine Frage an die in der Bundespolitik Verantwortlichen lautet: Wohin soll das in diesem Land führen? Soll die kommunale Selbstverwaltung beseitigt werden und Zwangsverwaltung eingeführt werden? Wollen Sie keine Schwimmbäder und keine Kultureinrichtungen mehr haben? Das kann doch nicht der richtige Weg sein. Wir brauchen endlich eine klare Kurskorrektur.

(Beifall bei der LINKEN)
Sie sind stolz darauf, dass Sie die Zahl der Arbeitslosen reduzieren. Sagen Sie doch einmal die Wahrheit: Der DGB hat ermittelt, dass wir 1,6 Millionen weniger Vollzeitstellen haben und die Zahl der sogenannten prekären Beschäftigungsverhältnisse um 1,7 Millionen zugenommen hat.

Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege.

Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
Sie wollen mir wahrscheinlich sagen, dass ich zum Ende kommen soll.

Präsident Dr. Norbert Lammert:
Nein, Sie wissen doch, dass ich mit Ihnen besonders großzügig umzugehen pflege. Der Kollege Lindner möchte ebenfalls durch eine Zwischenfrage Ihre Redezeit verlängern.

Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
Na gut, Herr Lindner. Obwohl Sie mich schon in die Psychiatrie schicken wollten, höre ich mir Ihre Frage an.

Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP):
Sie können jetzt ja beweisen, dass Sie da nicht hingehören.

Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): Ob ich Sie überzeugt bekomme?

Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP):
Sie verweisen darauf, dass in Schleswig-Holstein Stellen im Schuldienst abgebaut werden. Erklären Sie uns doch einmal, wie es dazu kommen konnte, dass Ihre Partei in der rot-roten Landesregierung von Berlin insgesamt 30 000 Stellen im öffentlichen Dienst abgebaut hat, das gemeinnützige Wohnungsbauunternehmen GSW an die böse „Heuschrecke“ Cerberus und die Investmentbank Goldman Sachs verkauft hat und vor wenigen Monaten auch noch dem Börsengang der GSW zugestimmt hat, der von Goldman Sachs und Cerberus betrieben wird. Wie kommt es, dass Sie hier in Berlin das Blindengeld gekürzt haben? Wie kommt es, dass Sie gerade im Bereich des Schuldienstes gekürzt haben? Herr Gysi, wie kommt es dazu, dass Sie uns hier den puren Sozialismus predigen, aber dort, wo Sie mitregieren, das vollkommene Gegenteil machen? Wie kommt es, dass von Ihnen eine ganz andere Politik verantwortet wird?

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
Beifall für eine Frage heißt ja, dass Sie gar keine Antwort hören wollen.

(Jörg van Essen (FDP): Weil wir sie schon kennen!)

Im Klartext: Der Verkauf der Wohnungsbaugesellschaft war meines Erachtens ein Fehler. Allerdings muss ich sagen, dass FDP, Union und Grüne daran beteiligt waren. Ich werde Ihnen auch sagen, warum.

(Christian Lindner (FDP): Ich dachte, Sie wollen eine andere Politik machen!)

Ich werde es Ihnen erklären. Sie sind zum Landesverfassungsgericht gegangen und haben gesagt: Der Haushalt ist verfassungswidrig. Dann hat das Landesverfassungsgericht gesagt: Das stimmt. Es hat gesagt: Ihr müsst entweder die Einnahmen erhöhen oder bei den Leistungen kürzen. Weil man bei den Leistungen nicht kürzen wollte, ist man diesen Weg gegangen. Trotzdem sage ich: Er war falsch. Das war aber nicht in dieser Legislaturperiode, sondern in der vorigen. Dafür sind wir schon ausreichend bestraft worden. In dieser Legislaturperiode machen wir das wesentlich besser.

(Beifall bei der LINKEN Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Peinlich!)

Zweitens. Was die Stellenkürzung betrifft, können Sie Schleswig-Holstein und Berlin nicht gut vergleichen. Diese Politik wurde schon von der Union eingeleitet. Das hing damit zusammen, dass zwei öffentliche Dienste zusammengekommen sind, nämlich der öffentliche Dienst von Westberlin und der öffentliche Dienst von Ostberlin. Dadurch bedingt war vieles doppelt vorhanden. Das war wirklich eine Sondersituation. Eine solche Sondersituation hat Schleswig-Holstein nicht zu bewältigen. Es hat in Berlin nicht eine einzige betriebsbedingte Kündigung gegeben, und dabei wird es auch bleiben.

(Beifall bei der LINKEN)

Mit dieser Ausnahme in Berlin streiten wir überall dafür, dass wir mehr Stellen im öffentlichen Dienst bekommen.

(Beifall bei der LINKEN)

Weiter mit dem Thema „prekäre Beschäftigung“. Sie haben Vollzeitbeschäftigung abgebaut und stattdessen die Bereiche der Teilzeitarbeit, der Leiharbeit und der 400-Euro-Jobs erweitert, und Sie haben den Kreis der Aufstockerinnen und Aufstocker und vor allem der befristetet Beschäftigten erweitert. Das war schon unter SPD und Grünen so, ist von der Großen Koalition fortgesetzt worden und wird jetzt weiter fortgesetzt. Was glauben Sie, wie dadurch das Land verändert wird? Immer weniger Vollzeitbeschäftigung bedeutet eine Schwächung der Gewerkschaften das wissen Sie natürlich , aber das schwächt auch die Betroffenen. Es gibt immer mehr 400-Euro-Jobs und immer mehr befristete Arbeitsverhältnisse. Das, was Sie in diesem Zusammenhang organisieren, ist alles nicht hinnehmbar.

Zum Schluss muss ich kurz auf den G-20-Gipfel in Toronto eingehen. Was haben Sie dort verkündet? Sie haben gesagt: Die öffentlichen Schulden der Länder sollen bis 2013 halbiert werden. Das ist doch ein Scherz. Die meisten Länder können das überhaupt nicht. Das ist nichts weiter als das Verkünden einer Illusion.

US-Präsident Obama und sein Finanzminister haben Frau Merkel dringend gebeten, ihren harten Sparkurs in Deutschland einzustellen. Aber sie denkt gar nicht daran und hat dem widersprochen. Warum? Obama will eine Ankurbelung der Weltkonjunktur, während Sie organisieren, dass die Weltkonjunktur abstirbt. Dort ist ein tiefer Gegensatz entstanden.

(Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU): Obama hat doch zugestimmt! Lesen bildet!)

Wenn ich an die Bankenabgabe und andere Dinge denke, muss ich sagen: In letzter Zeit hat Obama in der Regel recht und Sie unrecht. Es ist schon merkwürdig, welche Entwicklung wir hier zu verzeichnen haben.

(Beifall bei der LINKEN)

Jetzt frage ich Sie: Was haben Sie bei der Regulierung der Finanzmärkte erreicht?

Präsident Dr. Norbert Lammert:
Mit dieser Fragestellung müssen Sie es dann auch fast bewenden lassen. Die Antwort darauf müssen andere geben.

Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
Das ist sehr bedauerlich. Herr Präsident, sehen Sie einmal, was Sie versäumen.

Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ja, Sie können mir das Manuskript Ihrer Rede gerne zur Verfügung stellen.

Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
Als Letztes sage ich Ihnen: Ihr Versuch, zulasten der sozial Schwachen die Krise zu lösen, ist ungeheuerlich, ist ungerecht und muss schiefgehen. Sie müssen endlich einmal den Mut haben, bei den wirklich Vermögenden, bei den Bestverdienenden die Steuern zu erhöhen oder entsprechende Steuern einzuführen. Dafür stehen Sie nicht. Deshalb setzt sich jetzt der schwarze Tag von gestern als schwarzer Tag für die Bevölkerung fort. Hoffen wir, dass es bald einmal einen roten Tag gibt.

Danke schön.

(Beifall bei der LINKEN - Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Schwarze Monate!)