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Ausbildung: Jugendgefängnisse sind teurer

Archiv Linksfraktion - Rede von Gregor Gysi,

Gregor Gysi in der Debatte über Berufsausbildung

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde, dass kein Grund zur Selbstbeweihräucherung vorliegt, wie wir sie bisher anhören durften.

(Beifall bei der LINKEN)

Schauen wir doch einmal, wie sich die Zahlen entwickelt haben: Die Zahl derer, die sich um einen Ausbildungsplatz bewerben, ist von 2002 bis heute von 480 000 auf 590 000 gestiegen. In derselben Zeit ist die Zahl der betrieblichen Ausbildungsplätze um 100 000 zurückgegangen. Das ist ein riesiges Problem, unter dem jährlich Tausende Jugendliche, die keinen Ausbildungsplatz bekommen, leiden.

(Beifall bei der LINKEN)

Da hilft es Ihnen auch nicht weiter, dass Sie die Jugendlichen, die Sie in die Warteschleife schicken, aufgrund eines Tricks einfach nicht mehr mitzählen.
Ich weiß nicht, ob Sie schon einmal Jugendliche, die sich in der Warteschleife befinden, besucht haben. Es mag hier und da auch etwas Vernünftiges passieren, aber der 16-jährige Junge, den ich besucht habe, wickelte die ganze Zeit Puppen. Na, der war vielleicht bedient. Das tat er schon den dritten Tag. Trotzdem würde ich ihm kein Baby anvertrauen. Sie müssen verstehen, dass ihm das nicht weiterhilft. Das demütigt ihn. Das ist doch kein Ausbildungsplatz, sondern eine Perspektive ohne Zukunft.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich habe in den letzten Jahren häufig daran gedacht, dass die allgemeine Schulpflicht zum Glück ja schon seit vielen Jahrzehnten besteht. Wann sie eingeführt wurde, ist für die einzelnen Bundesländer unterschiedlich. Stellen Sie sich einmal ernsthaft vor, dass nur die Hälfte unserer Kinder zur Schule ginge und wir vorschlagen würden, dass alle Kinder zur Schule gehen müssen. Dann würden Sie uns sagen: Unbezahlbar, populistisch, gar nicht machbar. - Bei der Schule besteht der große Vorteil, dass das Ob überhaupt nicht mehr zur Debatte steht, sondern nur noch das Wie. Warum bekommen wir es dann nicht hin, dass eine Ausbildung nach Schulabschluss eine völlige Selbstverständlichkeit wird und wir nicht mehr über das Ob, sondern nur noch über das Wie diskutieren?

(Beifall bei der LINKEN)

Dafür gäbe es eine ganz einfache Möglichkeit. Wir bekommen hier doch zwei Drittel zusammen. Beschließen wir doch einfach, das Grundgesetz zu ändern und hineinzuschreiben, dass jede Abgängerin und jeder Abgänger einer Schule einen Anspruch auf Ausbildung hat! Lassen Sie uns das doch im Grundgesetz verankern!

(Beifall bei der LINKEN)

Das wollen Sie aber natürlich nicht, weil Sie einen solchen Anspruch nicht wollen. Das ist das Problem. Herr Müntefering, Sie haben von einem Anspruch gesprochen, aber Sie sind nicht bereit, ihn ins Grundgesetz aufzunehmen.
Lassen Sie mich noch etwas zu den Kosten sagen. Immer wieder höre ich das Argument: Was das alles kostet! - Es kann ja sein, dass Ausbildung teuer ist, aber ich sage Ihnen: Jugendgefängnisse sind viel teurer.

(Beifall bei der LINKEN)

Wenn man jungen Leuten keine Perspektive gibt, dann zahlt man immer zu.

(Jörg Tauss (SPD): Wir haben heute Morgen schon von den Kosten gesprochen!)

Lassen Sie mich noch etwas sagen, auch wenn Sie das besonders ärgert: In der DDR wurde jede Jugendliche und jeder Jugendliche ausgebildet, wobei die Wirtschaft viel maroder war. Nicht alle bekamen den Beruf, den sie sich wünschten, aber alle bekamen eine Ausbildung.

(Beifall bei der LINKEN)

Wenn die DDR das bezahlen konnte, dann können Sie mir nicht erklären, dass die reiche Bundesrepublik Deutschland außerstande ist, das zu finanzieren.

(Jörg Tauss (SPD): Margot Honecker hat darüber entschieden, wer das Abitur machen durfte oder wer nicht! - Willi Brase (SPD): Wenn die DDR das Zukunftsmodell sein soll, dann gute Nacht!)

Ich wusste, dass Sie herumschreien. Nicht einmal auf diesen Punkt können Sie einen objektiven Blick werfen. Wir können die DDR gemeinsam kritisieren, aber akzeptieren Sie doch: Jeder Jugendliche bekam damals einen Ausbildungsplatz. Das ist heute nicht der Fall. Das ist die Wahrheit.

(Beifall bei der LINKEN - Patrick Meinhardt (FDP): Dafür keine Freiheit!)

Die SPD hatte einmal eine gute Idee. Ich erinnere mich, dass ich mit Frau Nahles auf einer Kundgebung gesprochen habe. Damals nannten wir das noch Ausbildungsplatzabgabe, inzwischen sagen wir Ausbildungsplatzumlage. Sie reden vom Bonus. Es wäre doch ganz einfach. Beispiel: Ein Handwerksmeister, der ausbilden könnte, tut das nicht.

(Patrick Meinhardt (FDP): Wer legt das denn fest?)

Daneben gibt es einen, der mehr ausbildet, als er braucht.

(Nicolette Kressl (SPD): Das Handwerk bildet doch aus!)

Sie haben das ja beschrieben. Wenn es eine Ausbildungsplatzumlage gäbe, müsste der eine etwas bezahlen, was wir dem anderen geben könnten, der mehr ausbildet.

(Beifall bei der LINKEN)

Zurzeit passiert aber Folgendes: Der eine Handwerksmeister bildet fünf Lehrlinge aus, obwohl er im Anschluss an die Ausbildung nur zwei braucht. Der andere bildet gar nicht aus, stellt sie aber ein, und zwar kostenlos. Das ist doch einfach nicht hinnehmbar und innerhalb der Wirtschaft grob ungerecht. Deshalb: Führen Sie die Ausbildungsplatzumlage ein!

(Beifall bei der LINKEN)

Zwei Parteien haben das auf ihren Parteitagen beschlossen, nämlich die Grünen und die SPD. Sie haben sieben Jahre lang regiert. Niemand hat Sie daran gehindert, das einzuführen.

(Zuruf von der SPD: Sie vergessen da etwas!)

Nein, nein, nein, nein. Dann haben Sie ein Gesetz gemacht.

(Jörg Tauss (SPD): Das ist hier sogar eingebracht worden!)

Herr Müntefering, kurz, bevor es in Kraft treten konnte, hat die Wirtschaft bei Ihnen gebettelt. Sie haben dann gesagt: Na gut, wir setzen es nicht in Kraft, wir machen mit der ewigen Bettelei bei der Wirtschaft, dass sie Ausbildungsplätze bereitstellt, weiter.

(Beifall bei der LINKEN Jörg Tauss (SPD): Das ist Geschichtsklitterung!)

Seit 1990 bin ich mit einer Unterbrechung im Bundestag. Seit 1990 erlebe ich Jahr für Jahr dasselbe erst war es Kohl, dann Schröder, jetzt Merkel : Es wurden immer Briefe an die Unternehmen geschrieben, mit der Bitte, noch ein paar Ausbildungsplätze bereitzustellen. Diese gab es dann nicht. Jedes Mal blieben Tausende Jugendliche ohne Ausbildung und damit ohne Perspektive und Zukunft. Ich sage Ihnen: Das bezahlen wir teuer.
Lassen Sie uns hier einfach einmal die Weichen umstellen und sagen, dass die Ausbildung zur Selbstverständlichkeit und im Grundgesetz festgeschrieben wird. Dann würden wir die Gesellschaft positiv verändern.
Danke.

(Beifall bei der LINKEN)