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Atomausstieg bis 2014 - Für eine erneuerbare und demokratische Energieversorgung

Archiv Linksfraktion - Rede von Gregor Gysi,

Gregor Gysi in der Aussprache über die Regierungserklärung der Bundeskanzlerin zu den Gesetzesentwürfen der Bundesregierung zum Atomausstieg

Herr Präsident! Meine Damen und Herren!

Ich bedauere sehr, Herr Präsident, dass Sie nicht das Recht haben, den Bundestag zu fragen, wer eigentlich die 700 Seiten, die uns Anfang der Woche erreicht haben, schon gelesen hat, und eine ehrliche Antwort darauf zu verlangen. Ich sage Ihnen: Diese Art von Tempo zerstört die parlamentarische Demokratie.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Keiner glaubt, dass die Abgeordneten diese 700 Seiten vor der Debatte gelesen haben.
Herr Rösler, ich habe Ihrer Rede zugehört. Manchmal imponiert mir Dreistigkeit. Ich finde aber, Sie haben die Grenze überschritten.

(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Heute geht es darum, dass Sie und nicht andere Ihre Fehler korrigieren. Das hätten Sie wenigstens einmal deutlich sagen müssen.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Immerhin scheinen wir heute fast ein Wunder zu erleben. Binnen eines halben Jahres wurden aus den Atomparteien Union und FDP Atomausstiegsparteien, zumindest halbe. Die Reaktion auf die Atomkatastrophe in Fukushima ist eindeutig: Atomtechnologie und deren Risiken sind letztlich nicht beherrschbar; also müssen wir aussteigen, und zwar so schnell wie möglich.

(Beifall bei der LINKEN)

Warum - das ist doch eine spannende Frage - gelingt das zuerst in Deutschland und nicht in Frankreich oder Polen? Ich kann Ihnen sagen, warum: Weil es in Deutschland eine ungeheuer starke Antiatombewegung gibt, die jetzt einen Erfolg feiert, für den sie jahrzehntelang gekämpft hat.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Das muss einmal klar gesagt werden.

Ich sagte es schon: Die Bundesregierung will die Energiewende, aber halbherzig. Zunächst geht es doch um nichts anderes als um die Rücknahme der im Dezember letzten Jahres beschlossenen Verlängerung. Das heißt, Sie korrigieren sich. Im Kern gehen Sie auf das zurück, was SPD und Grüne mit der Atomlobby schon ausgehandelt und wir schon immer als halbherzig bezeichnet hatten. Das heißt, das, was Sie jetzt vorlegen, ist eine Korrektur der von Ihnen beschlossenen falschen Gesetze. Das könnten Sie doch einfach einmal klar sagen.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich verstehe es nicht: Warum wollen Sie den Atomausstieg erst Ende 2022? Das sind elf weitere Jahre Fukushima-Risiko; das können wir uns überhaupt nicht leisten. Die Bundesregierung behauptet, ein früherer Atomausstieg sei nicht möglich. Frau Bundeskanzlerin, die Fachleute sagen etwas anderes: BUND sagt 2013. Professor Olav Hohmeyer, Mitglied des Sachverständigenrates für Umweltfragen der Bundesregierung, sagt 2014. Greenpeace sagt 2015. Das Öko-Institut Freiburg sagt 2015. Selbst das Umweltbundesamt, eine Behörde des Bundesumweltministeriums, spricht von 2017. Der Branchenverband der Energiewirtschaft sagt 2020. Sie kommen auf 2022. Ich sage Ihnen: Dahinter steckt nichts anderes als der Wunsch, den vier Konzernen Eon, EnBW, RWE und Vattenfall noch elf Jahre lang hohe Profite mit dem Atomstrom zu ermöglichen. Nichts anderes steckt dahinter!

(Beifall bei der LINKEN)

Wir haben uns mit den Fachleuten beraten und sind auf das Jahr 2014 gekommen. Bei einem Atomausstieg im Jahr 2014 müsste kein einziger Haushalt, kein einziges Unternehmen ohne Licht leben. Das ist realisierbar.

(Beifall bei der LINKEN)

Nun signalisiert die SPD der Bundesregierung Zustimmung zu den Gesetzentwürfen; das hat auch Herr Steinmeier gesagt. Die Spitze der Grünen liebäugelt mit der Zustimmung. Ich darf Ihnen Folgendes sagen: Wenn es wahr ist, dass die jetzige Regierungskoalition - zumindest im Kern - zu dem zurückkehrt, was Sie im Jahre 2000 verabschiedet haben, und Sie dem jetzt zustimmen wollen, dann sagen Sie damit, dass sich an Ihrem Kompromiss aus dem Jahre 2000 nach Fukushima nichts hätte ändern müssen. Das geht nicht.

(Beifall bei der LINKEN)

Auch Sie müssen Konsequenzen aus Fukushima ziehen. Deshalb brauchen wir zweifellos weitergehende Regelungen. Die Antiatombewegung sieht das übrigens ganz genauso. Die vielen Fotos von Herrn Gabriel und von Herrn Trittin bei den Demos der Antiatombewegung tragen angesichts ihrer Haltung jetzt nicht zu ihrer Glaubwürdigkeit bei.

(Beifall bei der LINKEN)

Es geht wieder einmal um das Verhältnis zur Atomlobby, um eine Machtfrage. Das ist der zweite Punkt; dieser ist spannend. Sie alle sagen jetzt: Wir wollen den Ausstieg aus der Atomenergie unumkehrbar und für immer. Frau Bundeskanzlerin, wenn wir das wirklich wollen - dass Sie mir zustimmen, nehme ich dankend zur Kenntnis -, dann habe ich eine Frage: Warum verankern wir - dies haben wir im April 2011 beantragt - das Verbot der Nutzung der Atomenergie und das Verbot von Atomwaffen nicht im Grundgesetz?

(Beifall bei der LINKEN)

Wir sind doch hier eine klare Mehrheit. Alle Fraktionen wollen das. Lieber Herr Steinmeier, Sie sagen, Sie wollen, dass die Unumkehrbarkeit im Gesetz steht. Ich muss Ihnen sagen: Das ist wirklich albern; denn ein Gesetz kann durch jede Mehrheit im Bundestag aufgehoben werden und damit auch dessen Unumkehrbarkeit.

(Dr. Frank-Walter Steinmeier (SPD): Wenn Sie das sagen, mache ich mir keine Sorgen!)

Herr Steinmeier, das ist so, als ob Sie ins Gesetz schreiben: Dieses Gesetz gilt. Das stimmt, aber das brauchen Sie nicht ins Gesetz zu schreiben. Unumkehrbar wird es nur durch eine Verankerung im Grundgesetz; denn dann müsste es, um zur Atomenergie zurückzukehren, eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag und im Bundesrat geben. Diese wird sich niemals finden. Deshalb wäre es dann unumkehrbar.

(Beifall bei der LINKEN)

Nun hat Bundesumweltminister Röttgen gesagt - Frau Bundeskanzlerin, ich glaube, es lohnt sich, darüber nachzudenken -, dass er die Aufnahme in das Grundgesetz nicht möchte, und zwar deshalb nicht, weil künftige Mehrheiten dann gebunden wären. Ja, ich möchte künftige Mehrheiten gerne binden. Wir müssen der Bevölkerung sagen, dass das Gesetz nicht mehr leicht zu ändern ist, sondern das dies höchst kompliziert wäre und dass es dafür keine Mehrheiten mehr geben wird. Das scheint mir das Entscheidende zu sein.

(Beifall bei der LINKEN)

Wenn Sie dazu Nein sagen, dann heißt das: Die Regierungskoalition will einen Atomausstieg mit Rückfahrkarte. Das ist nicht hinnehmbar.

(Beifall bei der LINKEN)

Kommen wir zum dritten Punkt. Der Atomausstieg muss untrennbar mit einer Energiewende verbunden werden. Dies hat zwei Seiten. Die eine Seite ist die Frage der erneuerbaren Energien. In Ihren Gesetzentwürfen, liebe Regierungskoalition, steht zu den erneuerbaren Energien nichts Neues. Es gibt nicht eine einzige zusätzliche Fördermaßnahme. Das ist falsch; denn wir müssen die Erzeugung erneuerbarer Energien viel stärker fördern, um aus der Atomenergie so schnell wie möglich aussteigen zu können.

Die andere Seite ist die Macht der vier Konzerne. Die vier Konzerne, die ich genannt habe, haben in den letzten Jahren einen Profit von 100 Milliarden Euro gemacht. Die werden überhaupt nicht zur Kasse gebeten. Im Gegenteil, Sie sorgen dafür, dass es dabei bleibt. Wieso haben diese Konzerne einen solchen Profit gemacht? Weil sie die Bürgerinnen und Bürger und auch die Unternehmen abgezockt haben, ohne dass Sie irgendetwas dagegen unternommen haben. Ich sage: Es ist eine Kernfrage, dass die Politik wieder für Wasser, für Bildung, für Gesundheit und auch für Energie zuständig wird. Die Bürgerinnen und Bürger müssen wissen: Das Parlament, das sie wählen, wird darüber entscheiden. Die Vorstände der vier Konzerne dürfen sie nämlich nicht wählen.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich will Ihnen ein Beispiel nennen, das deutlich macht, was für ein Unsinn dabei herauskommt. Ein Alleinstehender, der in einer kleinen Mietwohnung lebt und wenig Strom verbraucht, zahlt pro Kilowattstunde mehr als jemand, der in einer Villa mit Swimmingpool wohnt. Diese Person verbraucht nämlich mehr. Wer mehr verbraucht, bekommt billigeren Strom. Das ist so was von antiökologisch und dämlich! Wenn die Politik zuständig wäre, gäbe es solche Schwachsinnsregelungen nicht, und wenn doch, würden sie nicht halten. Das ist das Entscheidende.

(Beifall bei der LINKEN)

Die Zuständigkeit der Politik ist also eine Frage der Demokratie und der Demokratisierung. Die Stromnetze gehören in die öffentliche Hand; denn sie sind ein Machtinstrument.

(Volker Kauder (CDU/CSU): Jawohl! Volkseigener Betrieb Gysi!)

Zum Vierten. Die Energiewende soll sozial gestaltet werden. Was heißt das? Darauf gibt es von der Regierung nicht eine einzige Antwort. Wer soll eigentlich die Kosten der Energiewende tragen? Kostet erneuerbare Energie nichts? Wie stellen Sie sich die Verteilung vor? Das Erste, was Sie geregelt haben, ist: Die energieintensiven Industrien müssen die Kosten auf jeden Fall nicht tragen. Sie bekommen eine Entlastung von 1,2 Milliarden Euro. Das heißt mit anderen Worten: Die Bürgerinnen und Bürger und die kleinen Unternehmen müssen die Kosten tragen. Genau das akzeptieren wir nicht. Den Riesenprofit der Energiekonzerne habe ich bereits erwähnt. Auch dieser muss, zumindest zum Teil, herangezogen werden.
Heute haben wir die Situation, dass ein Hartz-IV-Empfänger 44 Euro im Monat für Strom ausgibt. Angerechnet werden aber nur 30,42 Euro. Auf diesen Betrag wurde der Regelsatz festgelegt. Finden Sie das in Ordnung? Ich finde das nicht in Ordnung. Hartz-IV-Empfänger wissen nämlich nicht mehr, wie sie das Ganze bezahlen sollen.

(Beifall bei der LINKEN)

Jedes Jahr werden 800 000 Strom- und Gasversorgungssperrungen vorgenommen. Haben Sie sich damit einmal beschäftigt? Ich habe eine alleinerziehende Frau mit drei Kindern besucht, bei der eine Stromsperre vorgenommen wurde. Ich sage Ihnen: Ich war wirklich entsetzt. Das verletzt Art. 1 Abs. 1 Satz 1 des Grundgesetzes. Die Würde des Menschen ist so nicht zu garantieren.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich sage Ihnen: Stromsperren und Gassperren sind zu verbieten. Dafür brauchen wir   jetzt werden Sie sich wieder furchtbar aufregen   eine staatliche Strompreiskontrolle,

(Beifall bei der LINKEN)

wie es sie übrigens unter allen Unionsregierungen bis zur Großen Koalition gab. SPD und Union haben sie dann abgeschafft mit der Begründung, es gebe genug Wettbewerb. Das war ein schlechter Scherz; denn die vier Konzerne telefonieren miteinander und verabreden, wie sie uns abzocken. Hier gibt es keinen wirklichen Wettbewerb.

(Beifall bei der LINKEN)

Jetzt sage ich Ihnen noch etwas zum sogenannten Strahlenproletariat, das entstanden ist. Ich finde, das ist ein einzigartiger Skandal.

(Volker Kauder (CDU/CSU): Einzigartig?)

  Ja. Ich sage Ihnen gleich etwas dazu.   Meine Fraktion hat eine Anfrage an die Bundesregierung gerichtet. Dabei stellte sich heraus, dass es bei den AKW-Betreibern weniger als 6 000 Festangestellte, aber über 24 000 Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter und Beschäftigte von Fremdfirmen gibt. Die Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter verdienen im Schnitt nur zwei Drittel dessen, was Festangestellte verdienen   das muss man wissen  , und   das ist der größte Skandal   sie sind einer doppelt so hohen Strahlenbelastung ausgesetzt wie die Festangestellten, weil sie immer wieder in die entsprechenden Bereiche geschickt werden. Ich sage Ihnen: Das ist eine Unverschämtheit der Konzerne!

(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Ich will auch begründen, warum. Es stecken drei Dinge dahinter.

Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege.

Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
Ich bin gleich fertig, Herr Präsident.   Die Konzerne machen einen Profit von 100 Milliarden Euro, zahlen Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter aber schlechte Löhne. Außerdem gefährden sie ihre Gesundheit. Sie verachten sie. Das ist nicht zu dulden.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Deshalb sage ich Ihnen: Wir brauchen nicht nur eine Energiewende, sondern auch eine Kulturwende und eine soziale Wende in unserem Land.

(Anhaltender Beifall bei der LINKEN)