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Afghanistan: Zwei Drittel sind für den Abzug deutscher Soldaten

Archiv Linksfraktion - Rede von Gregor Gysi,

Gregor Gysi in der Debatte über die Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutschher Streitkräfte an dem ISAF-Einsatz in Afghanistan

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Da Sie, Herr Bundesverteidigungsminister Jung, vor mir gesprochen und Sie gesagt haben, dass Sie sich auf bestimmte Wege nicht einlassen, muss ich Ihnen sagen: Die Wege, die Sie planen zu gehen, sind fernab von anderen Vorstellungen, fernab vom Grundgesetz und fernab vom Bundesverfassungsgericht. Das ist nicht hinnehmbar.

(Beifall bei der LINKEN - Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)

Lassen Sie mich einige Sätze dazu sagen. Ich kenne die Theorie, wonach man, wenn man ein entführtes Passagierflugzeug abschießt, zwar Tote verursacht, die es sowieso geben würde, aber das Leben anderer rettet. Das ist doch Ihr Ausgangspunkt.

(Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Hier vorne spielt die Musik! - Zuruf von der CDU/CSU: Sagen Sie etwas zu Afghanistan!)

- Ich sage gleich etwas zu Afghanistan. - Herr Minister Jung, Sie haben in einer solchen Situation aber nur wenige Minuten, um zu entscheiden, und Sie können nur vermuten, was der Pilot macht.

(Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Bitte etwas lauter! Gebt ihm mehr Saft!)

Es ist doch abenteuerlich, prophylaktisch zu töten. Das ist das, was Sie erklärt haben. Ich sage Ihnen: Das wäre eine Anstiftung zum vielfachen Totschlag und ist in unserer Gesellschaft nicht hinnehmbar.

(Beifall bei der LINKEN - Alexander Bonde (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ist trotzdem das falsche Thema! - Zuruf von der CDU/CSU: Zum Thema!)

Da wir jetzt über Afghanistan sprechen: Es gibt in unserer Gesellschaft sehr unterschiedliche Positionen, die Sie nicht zur Kenntnis nehmen. Der Parteitag der Grünen hat sich jetzt wieder früheren antimilitaristischen Positionen angenähert, was wir im Unterschied zu anderen begrüßen. Die anderen kritisieren die Grünen dafür, dass sie außenpolitisch unzuverlässig werden. Sie merken gar nicht mehr, dass Militär und Außenpolitik für sie zu einer Einheit geworden sind, was wir überwinden wollen.

(Beifall bei der LINKEN)

Natürlich haben die Grünen dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen Jugoslawien und bisher allen Militäreinsätzen in Afghanistan zugestimmt. Es wird höchste Zeit, dass Sie wieder einmal auf Ihre Basis hören und Ihre Positionen schrittweise verändern.

(Beifall bei der LINKEN)

Der Außenminister hat zu Recht gesagt, dass die Taliban in Afghanistan bekämpft und entmachtet werden sollten. Nun sollen auch die Menschenrechte wiederhergestellt werden. Das Talibanregime wurde beseitigt; das ist wahr. Es wird aber nie dazu gesagt, dass die Nordallianz deutlich an Macht gewonnen hat. Die Stellung der Nordallianz zu Frauen- und zu Menschenrechten ist ähnlich wie die der Taliban. Das wird verschwiegen.

(Beifall bei der LINKEN)

Es gibt jetzt eine Macht von Drogenbaronen und von Warlords, die einfach nicht hinnehmbar ist. Das Bild, das hier gemalt wird, dass jetzt alle in traumhaften Zuständen dort leben würden, hat mit der Realität nichts zu tun.

(Beifall bei der LINKEN - Zurufe von der CDU/CSU)

Es gibt entsprechende Studien. Nach sechs Jahren geht jedes fünfte Mädchen in Afghanistan zur Schule.

(Widerspruch bei der CDU/CSU und der SPD)

- Jedes fünfte Mädchen. - Das ist für Sie ein Riesenerfolg. Ich finde das eine Schande. Jedes Mädchen muss zur Schule gehen.

(Beifall bei der LINKEN - Widerspruch bei der CDU/CSU und der SPD)

Ich erkläre Ihnen, warum Sie so aufgeregt sind: Die Mehrheit der Bevölkerung ist auf unserer Seite und nicht auf Ihrer. Das macht Sie so nervös.

(Beifall bei der LINKEN - Christoph Strässer (SPD): Noch nichts vom Politbarometer gehört?)

Jetzt sage ich Ihnen noch etwas: Wir hatten gerade Besuch von Malalai Joya, einer sehr tapferen und mutigen afghanischen Frau.

(Zuruf von der SPD)

- Finden Sie nicht? - Sie ist mit vielen Stimmen in die verfassunggebende Versammlung gewählt worden. Natürlich kannte sie die Herren und sagte ganz konkret, wer Drogenbaron, wer Warlord etc. war. Daraufhin hat die Mehrheit beschlossen, sie wieder aus dem Parlament herauszuschmeißen. Das versteht man dort auch unter Demokratie.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich bin sehr froh, dass sie zu uns gekommen ist.

(Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Setzen!)

Sie vertritt nicht in allen Punkten unsere Auffassung; seien Sie doch ganz ruhig. Sie hat zum Beispiel gesagt, dass mit den deutschen Soldaten die Hoffnung auf Befreiung verbunden war. Das stimmt. Sie hat auch gesagt, dass diese Hoffnung weniger mit den US-Soldaten und eher mit den europäischen Soldaten verbunden war. Das Problem war nur, sagte sie, dass man die Nordallianz hätte entwaffnen müssen, sie aber aufgerüstet worden sei. Sie sagte weiter: Die Nordallianz achtet Frauenrechte genauso wenig wie die Taliban. - Das ist das Problem.

(Beifall bei der LINKEN)

Dasselbe sagt sie von den Warlords und den Drogenbaronen.

Eines kommt noch hinzu: Sie sagte, sie habe auf die deutschen Soldaten gehofft. Das Problem sei nur, dass sich die deutschen Soldaten der US-Strategie unterwerfen. Deshalb sei es keine Befreiung, sondern eine Besatzung geworden. - Das sagen nicht wir, das sagt diese afghanische Frau. Reden Sie doch mit ihr!

(Beifall bei der LINKEN - Christoph Strässer (SPD): Das machen wir!)

Da ich weiß, dass sie auf der Besuchertribüne sitzt, möchte ich sie - mit Ihrer Erlaubnis, Herr Präsident - herzlich begrüßen.

(Beifall bei der LINKEN)

Lassen Sie mich noch etwas zu Ihren Argumenten anmerken. Unter der sowjetischen Besatzung konnten Mädchen zur Schule gehen. Frauen durften sogar Fußball spielen. Das hat die Besatzung niemals gerechtfertigt. Damals haben Sie das auch nicht behauptet. Sie haben Ihre Vorstellungen im Laufe der Jahre sehr stark geändert. Darauf muss man hinweisen.

(Beifall bei der LINKEN)

Derzeit wird - auch bei den Grünen - darüber diskutiert, ob die Strategie der deutschen Soldaten geändert und dann gegebenenfalls dem ISAF-Mandat zugestimmt werden könnte. Abgesehen davon, dass ISAF gerade eine große Offensive gestartet hat, ist eines zu bedenken: Weder die rot-grüne noch die heutige Regierung haben die Kraft, sich gegen die USA zu stellen und eine andere Strategie zu verfolgen. Sie wollen es auch nicht. Deshalb müssten Sie nach Ihrem Parteitagbeschluss auch gegen ISAF stimmen, so wie wir das tun.

(Beifall bei der LINKEN)

Sie haben über die Frauen- und Menschenrechte angesprochen. In wie vielen Ländern wollen Sie eigentlich aus diesem Grund intervenieren? Wie ist es um die Frauenrechte in Saudi-Arabien bestellt?

(Beifall bei der LINKEN)

Dort dürfen die Frauen nicht einmal Auto fahren. Sie dürfen ohne Genehmigung ihres Ehemannes nicht das Land verlassen. Sie werden schlicht und einfach unterdrückt. Aber Herr Bush und seine Familie machen dickste Geschäfte mit der herrschenden Familie in Saudi-Arabien.

(Beifall bei der LINKEN)

Deshalb interessieren ihn dort die Menschenrechte nicht.
Es gibt sehr viele Länder in Afrika, Asien und Lateinamerika, in denen Sie einmarschieren müssten. Selbst die USA müssten Sie wegen Guantánamo angreifen. Werden Sie doch nicht albern: Als ob Sie Ihr Militär überall dorthin hinschicken, wo Menschenrechte verletzt werden.

(Beifall bei der LINKEN - Christoph Strässer (SPD): Das ist doch niveaulos!)

Es wird immer wieder gefragt, was passiert, wenn wir das Land verlassen. Als Antwort wird immer die schlimme Herrschaft der Taliban genannt. Das ist völlig falsch.

(Bernd Schmidbauer (CDU/CSU): Moralapostel! Und das bei der Vergangenheit!)

Wir müssen die Nordallianz entwaffnen.

(Widerspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Zurufe von der SPD: Wie denn?)

Sie bewaffnen hingegen die Nordallianz. Das ist die Wahrheit. Sie sehen zu, wie die Nachbarländer eine völlig unterschiedliche Politik betreiben. Ob Russland, Usbekistan, Pakistan oder der Iran: Sie alle bewaffnen entweder die Taliban oder die Nordallianz. Sie aber schauen nur zu. Das ist die Realität; darin liegt das Problem.

(Beifall bei der LINKEN - Bernd Schmidbauer (CDU/CSU): Was haben Sie denn früher gemacht?)

Sie haben angekündigt, Sie wollten die Polizei und Armee ausbilden. Was machen Sie denn seit sechs Jahren?

(Bernd Schmidbauer (CDU/CSU): Was haben Sie denn in Ihrer Vergangenheit gemacht?)

Warum gibt es noch keine eigenständige Polizei in Afghanistan? Warum gibt es keine Armee? Nichts ist diesbezüglich ernsthaft geleistet worden.

(Beifall bei der LINKEN)

Sie tun immer, als ginge es um die Menschenrechte. Ich zitiere in diesem Zusammenhang Herrn Greenspan - er ist kein Linker -, der erste Notenbankpräsident der USA, der einen ausgeglichenen Haushalt zustande gebracht hat und gerade seine Memoiren veröffentlich hat: Der wesentliche Grund für den Krieg im Irak war das Öl.

(Zuruf von der SPD: Ach!)

- Ja, das stammt nicht von mir, sondern von ihm.
Im Übrigen haben die USA hervorragend mit den menschenverachtenden Taliban verhandelt, und zwar über eine Gaspipeline durch Afghanistan.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Erst als die Verhandlungen über die Gaspipeline gescheitert waren, entdeckten sie die Menschenrechte in Afghanistan. Das ist die Wahrheit.

(Beifall bei der LINKEN)

Sie verweisen immer darauf, dass im Falle eines Abzugs der Soldaten auch die Aufbauhelfer abgezogen werden müssten. In diesem Zusammenhang beziehe ich mich wieder auf einen Nichtlinken, einen ehemaligen Arzt der Bundeswehr, mit dem ich bei einer Sendung im Bayerischen Fernsehen zusammengetroffen bin und der im Süden Afghanistans Schulen baut. Er sagt, dass das nur dann funktioniert, wenn der nächste Soldat 10 Kilometer entfernt ist. Er wurde gebeten, seine Schulen für die Wahl des Präsidenten zur Verfügung zu stellen. Er hat sich unter einer Bedingung dazu bereit erklärt, nämlich dass der nächste Soldat 10 Kilometer entfernt ist. Das hat er auch durchgesetzt mit der Folge, dass 60 Prozent der Wahlberechtigten zur Wahl gekommen sind, davon 40 Prozent Frauen. Wo die US-Soldaten standen, betrug die Wahlbeteiligung 10 Prozent, darunter nur 1 Prozent Frauen. Das ist die Wahrheit: Er braucht nicht den Schutz der Soldaten; er braucht die Soldaten nicht, um seine Aufbauarbeit in Afghanistan zu leisten.

(Beifall bei der LINKEN)

Das sagt ein ehemaliger Arzt der Bundeswehr.

(Christel Riemann-Hanewinckel (SPD): Das ist unerträglich, Herr Gysi!)

Lassen Sie mich abschließend sagen: Herr Außenminister, Sie haben hier erklärt, dass derjenige, der für den Abzug der Soldaten ist, die Macht der Taliban wiederherstellen will.

(Uta Zapf (SPD): So ist es!)

Das ist eine Unverschämtheit,

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN - Bernd Schmidbauer (CDU/CSU): Wie kommen Sie dazu, so etwas zu sagen! Unverschämt!)

die Sie zwar äußern können, Herr Außenminister, aber Sie müssen eines wissen: Zwei Drittel der deutschen Bevölkerung ist für den Abzug der deutschen Soldaten aus Afghanistan.

(Walter Kolbow (SPD): Das ist falsch!)

Damit unterstellen Sie zwei Drittel der Bevölkerung, dass sie für die Taliban ist. Was Sie hier geboten haben, ist indiskutabel.

(Beifall bei der LINKEN - Walter Kolbow (SPD): Ihre Rede war indiskutabel!)