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Foto: Rico Prauss

34,8 Mrd. Euro neue Schulden - das ist politisch unverantwortlich

Archiv Linksfraktion - Rede von Dietmar Bartsch,

Herr Präsident! Meine Damen und Herren!

Lieber Jürgen Koppelin, die Rede hat mich doch ein bisschen an eine Zeit erinnert, in der der Regierung und allen Menschen gedankt worden ist. Ich glaube, das ist bei dieser Bilanz hier wahrhaftig nicht angesagt.

(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Otto Fricke (FDP): Den Menschen wohl schon!)

Herr Kampeter, ich will Sie an die Haushaltsberatung für das Jahr 2012 erinnern; die ist noch nicht sehr lange her. Einige Redner der Opposition haben darauf aufmerksam gemacht, dass es vielleicht einen Nachtragshaushalt geben könnte. Erinnern Sie sich an Ihre Reaktion? Niemals, hier ist genügend Luft, dass wir das hinkriegen, haben Sie gesagt. Jetzt ist eine andere Situation. Nun frage ich Sie hier und heute vielleicht kann Herr Barthle darauf eingehen: Wird das denn angesichts der Risiken, die wir haben Zinsen, europäische Entwicklung, Konjunktur , der letzte Nachtragshaushalt in diesem Jahr sein? Beantworten Sie einfach diese Frage

Der Bundestag soll heute das will ich deutlich sagen 8,7 Milliarden Euro weitere Schulden beschließen. Nun klingt das angesichts der Milliardenbeträge, über die wir hin und wieder reden,

Otto Fricke (FDP): Heute ist die erste Lesung, Herr Kollege!)

nicht einmal so sehr viel. Ich will das aber einmal mit meinem Bundesland, Mecklenburg-Vorpommern, vergleichen. Der Gesamthaushalt dieses Bundeslands beträgt 7,1 Milliarden Euro. Sie schlagen heute weitere 8,7 Milliarden Euro vor. Zur Wahrheit: 34,8 Milliarden Euro neue Schulden will die Bundesregierung in diesem Jahr machen.

(Norbert Barthle (CDU/CSU): Sagen Sie mal, wofür!)

Die Schulden der Regierung in dieser Legislaturperiode nach dem bisherigen Verlauf und nach dem, was Sie planen, belaufen sich auf 142 Milliarden Euro. Es hat noch keine Legislaturperiode gegeben, in der so viele Schulden aufgenommen worden sind. In diesem Jahr, 2012, sind es 34,8 Milliarden Euro. Das gab es nur zweimal, 1996 und im Jahr 2010, als Herr Schäuble auch schon Verantwortung getragen hat. Jeweils waren der Kanzler und der Finanzminister von der Union. Das ist Ihre Bilanz. Sie reden von Konsolidierung, aber das Gegenteil ist richtig.

(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie verschulden das Land. Das ist das, was Sie vorzuweisen haben.

Herr Schäuble will sich offenbar das Abonnement auf den Titel „Schuldenminister“ reservieren. Das ist die reale Bilanz. Sie verspielen die Zukunft in diesem Land. Deutschland hat vor allen Dingen kein Recht, sich mit dieser Schuldenpolitik als Vorbild in Europa darzustellen. Ich sage es klar und deutlich: Niemand in der Linken findet die Verschuldung der öffentlichen Haushalte in Deutschland in irgendeiner Weise unproblematisch oder gar gut. Aber es kommt natürlich darauf an, wofür man neue Schulden macht.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir haben seinerzeit Konjunkturprogrammen sehr wohlwollend gegenübergestanden und es für richtig gehalten, zum Beispiel den Kommunen zu helfen. Sie aber wollen mit den Schulden die Märkte beruhigen, das Vertrauen der Märkte zurückgewinnen und andere psychotherapeutische Maßnahmen finanzieren. Nicht wenn die Märkte nervös reagieren, sondern wenn Arbeitsplätze verloren gehen, wenn Kinder in Armut sind, dann sollte Politik reagieren, aber nicht bei nervösen Märkten.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Lothar Binding (Heidelberg) (SPD))

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Fricke?

Dr. Dietmar Bartsch (DIE LINKE):
Ich gestatte eine Zwischenfrage des Kollegen Fricke.

Otto Fricke (FDP):
Herr Kollege Bartsch, man kann politisch unterschiedlicher Ansicht sein, und die Frage, was richtig oder falsch ist, werden spätere Generationen beantworten. Aber wenn es um Zahlen geht, sollten wir Haushälter immer genau sein. Habe ich Sie richtig verstanden, dass Sie gesagt haben, dass die Koalition in dieser Legislaturperiode, also in den Jahren 2010, 2011, 2012 und 2013, neue Schulden in Höhe von 142 Milliarden Euro machen wollte? Könnten Sie mir sagen, wie Sie zu dieser Summe kommen? Vielleicht habe ich irgendetwas nicht mitbekommen und Sie können mich schlaumachen. Mir ist nicht ganz klar, wie die Summe von 142 Milliarden Euro in den Jahren 2010 bis 2013 zustande kommt.

Dr. Dietmar Bartsch (DIE LINKE):
Das sind vier Jahre, und zu der Zahl komme ich, Kollege Fricke, durch Addition der vier Jahre.

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Otto Fricke (FDP): Entschuldigung! Dann sagen Sie mir das mal!)

Ihre Partei schlägt in dieser Situation sogar Steuersenkungen vor.

(Otto Fricke (FDP): Ich glaube, Sie haben die Jahreszahlen addiert!)

Nein, wenn man die Jahreszahlen addiert, kommt die Summe nicht heraus. Die Frage habe ich eben beantwortet.

Sie schlagen weitere Steuersenkungen vor, womit Sie das Haushaltsdefizit offensichtlich noch vergrößern. Sie haben nie Geld, wenn es um sozial Benachteiligte geht, wenn es um gute Arbeit geht, von der man leben kann, wenn es um die finanziell ausgebluteten Kommunen geht. Dafür haben Sie nie Geld. Sie setzen seit Jahren die Interessen des Geldkapitals durch und nicht die Interessen der Menschen. Letztere stehen nicht ganz oben auf Ihrer politischen Agenda. Ihre Versuche zur Therapie der Finanzmärkte sind der falsche Weg. Es ist eben nicht so, dass das Stabilität in Europa gebracht hat.

Wir haben in Deutschland ein Einnahmeproblem. Warum denken Sie in dieser Situation nicht einmal darüber nach, die Einnahmen in diesem Land zu erhöhen?

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Carsten Schneider (Erfurt) (SPD) Bettina Kudla (CDU/CSU): Weil man damit keinen Haushalt konsolidieren kann!)

Warum ist es absurd, über eine Millionärsteuer nachzudenken? Warum kann man in dieser Situation nicht mal den Spitzensteuersatz erhöhen? Der war zu Ihrer Zeit bei 53 Prozent, und Helmut Kohl war doch kein Linksradikaler. Warum denken Sie darüber nicht nach? Warum ist eine Anhebung der Erbschaftsteuereinnahmen nicht möglich? Bis 2020 werden in Deutschland 2,6 Billionen Euro vererbt. Davon sind über 43 Prozent Geldvermögen. Warum ist das nicht möglich? Warum können wir nicht den Steuervollzug verbessern und so zu höheren Steuereinnahmen kommen?

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Barthle?

Dr. Dietmar Bartsch (DIE LINKE):
Ich gestatte auch eine Zwischenfrage des Kollegen Barthle.

(Manfred Grund (CDU/CSU): Das ist doch keine Quälerei, oder?)

Nein. Gern!

Norbert Barthle (CDU/CSU):
Herr Kollege Bartsch, ich wollte einfach noch einmal nachfragen, ob die Additionen nach den Grundregeln von Adam Riese stattfinden. Ich führe mir einmal die Zahlen vor Augen: Wir haben im Jahr 2010 44 Milliarden Euro neue Schulden gemacht. Wir haben im Jahr 2011 17 Milliarden Euro neue Schulden gemacht. Das macht nach meiner Rechnung zusammen 61 Milliarden Euro. Wenn ich dann noch dazurechne, was wir vielleicht - vielleicht! - im Jahr 2012 laut Finanzplan an neuen Schulden machen könnten - maximal sind das 34,8 Milliarden Euro inklusive Nachtragshaushalt - , dann komme ich immer noch auf eine Zahl von unter 100 Milliarden Euro. Allerdings muss man hinzufügen, dass das Jahr 2012 noch nicht zu Ende ist.

(Zuruf von der LINKEN: Eben! Johannes Kahrs (SPD): Das heißt: Es kann auch mehr werden!)

Das ist die maximal mögliche Nettokreditaufnahme. Die Erfahrung der vergangenen Jahre zeigt, dass wir jedes Jahr weniger Schulden gemacht haben, als wir hätten machen können.
Also: Nach welchem Rechenmodus haben Sie gerechnet? Das würde mich interessieren.

(Otto Fricke (FDP): Das wird er auch wieder vermeiden! Er wird wieder nichts antworten!)

Dr. Dietmar Bartsch (DIE LINKE):
Wie Ihrem Kollegen Fricke antworte ich auch Ihnen: durch Addition.

(Otto Fricke (FDP): Dann rechnen Sie mal vor!)

Sie waren für drei Jahre bei knapp 100 Milliarden Euro. Es gibt aber noch ein Jahr davor, für das Sie auch schon die Bilanz vorgelegt haben. Wenn Sie das addieren, kommen Sie auf die von mir genannte Zahl.

(Otto Fricke (FDP): 142? Das passt doch vorn und hinten nicht! Noch nicht einmal rechnen! - Norbert Barthle (CDU/CSU): 2009 waren es 34!)

Ich fordere Sie auf, die Bundesregierung und die Bundeskanzlerin, vor allen Dingen die von Ihnen gemachten Versprechen einzulösen, nämlich die Finanzmärkte endlich spürbar zu kontrollieren und zu regeln. Das wäre die richtige Maßnahme. Ich will Ihnen eine Zahl sagen: Allein der Handel mit unregulierten Finanzprodukten betrug im ersten Halbjahr 2011 708 Billionen Dollar. Das ist fast das Zehnfache der gesamten Weltwirtschaftsleistung. Das steigt weiter an. Da müssen Sie etwas tun. Es ist doch einfach irre, was da passiert. Das Kasino muss geschlossen werden. Frau Merkel hat im Deutschen Bundestag gesagt, dass sie sich dafür einsetzt, aber faktisch ist nichts passiert.

Die Linke hat den ESM abgelehnt und lehnt logischerweise auch den Nachtragshaushalt ab.

(Otto Fricke (FDP): Noch gar nicht abgestimmt!)

Sie wird ihn ablehnen, Kollege Fricke.

(Otto Fricke (FDP): Immer unpräzise!)

Die Rettungsschirme dienen fast ausschließlich den Banken. Es ist nicht so, Herr Kampeter, dass mehr Stabilität in Europa eingetreten ist. Gucken Sie sich doch einmal die Entwicklung in Griechenland an: das fünfte Jahr Rezession, Wirtschaftswachstum: minus 7 Prozent, Arbeitslosigkeit bei fast 20 Prozent, Unruhen.

(Norbert Barthle (CDU/CSU): Schon wieder eine falsche Zahl!)

Da sprechen Sie von Stabilität in Europa? In Griechenland ist die siebte Regierung in eine Krise gekommen und das dank der Politik von Sarkozy und Merkel. Und da sprechen Sie von Stabilität in Europa? Wir gefährden mit dieser Politik die Demokratie.

(Beifall des Abg. Richard Pitterle (DIE LINKE))

Herr Monti und Herr Papademos haben sich niemals einer Wahl gestellt. Sie sind faktisch in Brüssel ernannt worden. Was ist denn das für eine Entwicklung? Und da sprechen Sie von Stabilität in Europa? Dieser Kurs hat Instabilität in Europa gebracht. Das ist das Ergebnis Ihrer Politik!

(Johannes Kahrs (SPD): Aber Berlusconi hätten Sie auch nicht behalten wollen! –
Norbert Barthle (CDU/CSU): Er will Berlusconi wiederhaben!)

Nicht nur dieser Nachtragshaushalt ist falsch, sondern Ihr gesamter europapolitischer Kurs ist falsch. Wenn Sie nicht endlich die Finanzmärkte regulieren, wenn Sie nicht endlich die Banken an die Kandare nehmen, wenn Sie nicht dafür sorgen, dass endlich für die Schwächeren in Europa etwas getan wird, dann wird dieser Kurs scheitern, und wir werden noch viel größere Probleme bekommen als bisher.

Ich bedanke mich.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Johannes Kahrs (SPD): Eine sehr sozialdemokratische Rede!)

Anmerkung:
Meine Feststellung „Die Schulden der Regierung in dieser Legislaturperiode nach dem bisherigen Verlauf und nach dem, was Sie planen, belaufen sich auf 142 Mrd. Euro.“ war so falsch.
Die Zahl 142 Mrd. Euro betrifft die Neuverschuldung der Jahre 2009 - 2013.
Betrachtet man die Jahre 2010 - 2013 (Legislatur) sind es rd. 108 Mrd. Euro.