1.) Aktuelle Situation
- Der Europäische Gerichtshof hatte 2019 entschieden[1], dass die Unionsstaaten aus Art. 3; 4 und 5 der Richtlinie 2003/88 verpflichtet sind, eine objektive, zugängliche und verlässliche Erfassung der täglichen Arbeitszeit von Beschäftigten zu regeln. Die Bundesregierung blieb untätig und hat bisher keine entsprechende Klarstellung im Arbeitszeitgesetz vorgenommen. Das BAG hatte im September 2022 entschieden[2], dass in richtlinienkonformer Auslegung des § 3 Abs. 2 Satz 1 ArbSchG eine solche Pflicht der Arbeitgeber bereits jetzt schon existiert und sie verpflichtet sind, ein objektives, verlässliches und zugängliches System zur Erfassung der von jedem Arbeitnehmer geleisteten, täglichen Arbeitszeit einzuführen und zu verwenden. Unklar ist jedoch, wie das System genau ausgestaltet werden muss. Das BMAS hat „voraussichtlich im ersten Quartal 2023“ einen „praxistauglichen Vorschlag für die Ausgestaltung der Arbeitszeiterfassung im Arbeitszeitgesetz“ angekündigt. Der inzwischen aufgetauchte Referent*innenentwurf aus dem BMAS liegt derzeit in der Frühkoordination und wird v.a. mit dem BMWK (Grüne) und dem BMF (FDP) abgestimmt. Insofern sind noch deutliche Änderungen zu erwarten, bevor dieser dem Parlament zugeleitet wird, was u.a. auch die im Koa-Vertrag (S.68) der Ampel[3] bereits für 2022 angekündigten tarifdispositiven Experimentierräume[4] betreffen könnte.
a) Interner Ref-Entwurf Arbeitszeiterfassung (Stand März 2023)
- Beginn, Ende und Dauer der Arbeitszeit (AZ) sind tagesaktuell elektronisch (auch per Excel) vom Arbeitgeber (AG) aufzuzeichnen & zwei Jahre aufzubewahren. Diese(r) kann die Erfassung an den oder die Arbeitnehmenden oder an Dritte abgeben, muss aber sicherstellen, dass denjenigen Pausen- und Ruhezeitenregelungen bekannt sind und bleibt verantwortlich (Vertrauensarbeitszeit). Der AG muss den Arbeitnehmenden auf Verlangen Einsicht gewähren & Kopie aushändigen. Von dieser Regelung kann per Tarifvertrag oder auf tarifvertragliche Grundlage erlassene Betriebs- oder Dienstvereinbarung abgewichen werden (Tariföffnungsklausel bzw. tarifdispositive Regelung):
Nichtelektronische Form oder AZ Erfassung nachträglich max. eine Woche
Komplette Ausnahme von AZ-Erfassungspflicht für bestimmte AN-Gruppen: § 16 Absatz 7 Nummer 3 ArbZG „die Pflicht zur Aufzeichnung (…) nicht gilt bei Arbeitnehmern, bei denen die gesamte Arbeitszeit wegen der besonderen Merkmale der ausgeübten Tätigkeit nicht gemessen oder nicht im Voraus festgelegt wird oder von den Arbeitnehmern selbst festgelegt werden kann“ (etwa bei Führungskräften, herausgehobenen Expert*innen oder Wissenschaftler*innen gegeben sein, die nicht verpflichtet sind, zu festgesetzten Zeiten am Arbeitsplatz anwesend zu sein, sondern über den Umfang und die Einteilung ihrer Arbeitszeit selbst entscheiden können)
- Zudem sind lange Übergangszeiten bei nichtelektronischer Aufzeichnung nach Betriebsgröße geplant, ein Jahr für alle Betriebe (bis 250 MA: 2 Jahre Übergangsfrist // bis 50 MA: 5 Jahre Übergangsfrist). Grundsätzlich keine elektronische AZ-Erfassungspflicht sind für Betriebe unter 10 MA, Entsendebetriebe bis 10 MA ohne Inlandssitz sowie für Hausangestellte in Privathaushalten geplant.
b) Kurze Einschätzung
- Der Ref-Entwurf ist kurzgehalten und soll sich auf die Umsetzung der richterlichen Urteile beschränken. Zudem ist die Festlegung auf eine elektronische und tagesaktuelle Zeiterfassung gut. Leider konterkarieren viele Ausnahmen, die u.a. ein „Schlechter mit Tarifvertrag“ bedeuten, die Zielstellung einer AZ-Erfassung aller Beschäftigten enorm. Die Option, auf eine AZ-Erfassung komplett zu verzichten, wenn dies der Arbeitsablauf nicht hergibt, ist zwar EU-konform, weckt jedoch Begehrlichkeiten nach Ausnahmen gesamter Berufsgruppen[5].Das gilt auch für die generelle Abweichung von der elektronischen Erfassungspflicht bei Betrieben unter zehn Beschäftigten, da bspw. 2/3 aller Betriebe in Deutschland in diese Kategorie fallen. Fazit: Gut, dass es einen Entwurf gibt, der eine tagesaktuelle elektronische Aufzeichnung als Standard definiert. Das hilft nur nicht viel, wenn man diesen im gleichen Atemzug über Tariföffnungsklauseln und Komplettausnahmen für KMU’s wieder aushöhlt.
c) Unsere bisherigen Positionen zu Arbeitszeit
- Wir haben bisher in mindestens sieben Anträgen[6] die Einführung einer Arbeitszeiterfassungspflicht gefordert. Neben einer Arbeitszeiterfassungspflicht haben wir in den letzten Jahren weitere Forderungen sowohl in unserem Wahlprogramm[7] als auch in unseren Anträgen gestellt, u.a. eine gesetzliche wöchentliche Höchstarbeitszeit von 40 h[8] und ein Recht auf Nichterreichbarkeit[9]. Zudem wollen wir die bisherigen Pausen- und Ruhezeiten unbedingt beibehalten[10] und weitere tarifdispositive Regelungen verhindern. Wir haben sowohl eine sanktionsbewährte Erfassung von Arbeitszeiten gefordert und eine Anti-Stress-Verordnung[11], um einer Arbeitsverdichtung zu begegnen. Vor allem im Bereich des Mindestlohns haben wir schon einzelne Forderungen konkretisiert und geschärft, um sowohl Lohnraub einzudämmen als auch den Arbeitsschutz im Niedriglohnbereich zu verbessern, u.a. eine tagesaktuelle manipulationssichere elektronische Arbeitszeiterfassung[12] und deren Beweislastumkehr[13].
2.) Unsere weiterführenden Positionen
a) Erfassung aller Arbeitszeiten aller Beschäftigten
- Die Arbeitszeiterfassungspflicht sollte grundsätzlich in allen Betrieben (keine Ausnahmen für kleine & Kleinstbetriebe) und für alle Beschäftigten[14]gelten. Daher würden wir uns, analog zu den Gewerkschaften, eine Regelung im ArbSchG wünschen, u.a. um uns an den Beschäftigtenbegriff des Arbeitsschutzgesetzes orientieren zu können, der bspw. auch arbeitnehmerähnliche Personen und Beamt*innen berücksichtigt. Gesetzesbegleitend schlagen wir vor, dass es, über den §18 ArbZG hinaus, keine weiteren Ausnahmen geben darf. Damit stellen wir uns in der aktuellen Debatte gegen möglich Ausnahmen von der Erfassungspflicht.[15] Das BAG hat mit dem Verweis auf Art. 17 Abs. 1 2003/88[16] die Möglichkeit dazu eröffnet. Hier sollten wir keine Spaltung der Belegschaften zulassen. Der Grundsatz sollte sein: Für Selbständige gilt die Arbeitszeiterfassung nicht, für alle anderen schon.
- Auch Ausnahmen für Kleine und Kleinstunternehmen sind nicht akzeptabel. Weder das ArbSchG noch das ArbZG kennen Unterschiede nach Betriebsgrößen. Eine Privilegierung bestimmter Betriebe durch Ausnahmen von der Erfassungspflicht bedeutet immer auch eine Herabstufung der Schutzrechte der Beschäftigten in diesen Betrieben. Bei zentralen Fragen des Arbeitsschutzes wie dieser ist das nicht akzeptabel. Wir haben in unseren bisherigen Positionen keine Differenzierung bestimmter Beschäftigtengruppen gefordert.
b) Elektronische Arbeitszeiterfassung
- Die Vorgaben des EuGHs nach einer objektiven und verlässlichen Arbeitszeiterfassung sind nur mittels einer elektronischen Erfassung möglich.[17]
- Eine objektive und verlässliche und damit manipulationssichere Erfassung von allen Arbeitszeiten (z.B. Rüst- und Bereitschaftszeiten[18]) ist nur mit einer technischen Einrichtung denkbar. Nur hier kann man einrichten, dass sich Beschäftigte personalisiert anmelden und die erfassten Daten nicht einseitig geändert, manipuliert werden können. Eine händische Erfassung der Daten kann leicht manipuliert werden, sie wäre aber auch nicht objektiv und bei Erfassung durch Beschäftigte auch nicht dem Arbeitgeber zugänglich. Eine objektive Erfassung ist aber auch im Sinne der Beschäftigten, weil sie damit leichter vergütungsrechtliche Ansprüche einklagen können. Zudem können elektronisch erfasste Daten auch leichter den Arbeitsschutzbehörden und dem Betriebsrat zur Kontrolle vorgelegt werden.
- Insbesondere darf eine gesetzliche Neuregelung der Arbeitszeiterfassungspflicht nicht dazu führen, dass bereits bestehende Arbeitszeiterfassungspflichten für Leiharbeit (§ 19 Abs. 1 AEntG), geringfügige Beschäftigung (§ 17 Abs. 1 MiLoG) und die in § 2a SchwarzArbG genannten Branchen aufgeweicht und hier Ausnahmen von der elektronischen Erfassungspflicht zugelassen werden.
c) Vergütungsrechtliche Ansprüche sichern und Einklagbarkeit für Betroffene verbessern
- Erfassungsregeln müssen sowohl zu vergütende als auch arbeitsschutzrechtlich relevante Arbeitszeiten umfassen. Die Dokumentation muss geeignet sein, den vergütungsrechtlichen Anspruch der Beschäftigten zu wahren und ggf. einklagen zu können. Die Beweis- und Darlegungslast im Überstundenprozess muss so modifiziert werden, dass sich eine (fehlende) Arbeitszeiterfassung seitens der AG positiv auf die Rechtsposition klagender AN auswirkt. Hierzu braucht es ggf. Änderungen in weiteren Normen, wie dem ArbGG.
- Nicht nur im Bereich des Arbeitsschutzes, sondern auch bei Fragen der Vergütung bestehen aus Beschäftigtensicht massive Probleme. Deswegen muss eine Arbeitszeiterfassungspflicht beide Aspekte im Blick haben. Aktuell müssen Beschäftigte im Überstundenprozess sowohl die tatsächliche Leistung von Überstunden nachweisen als auch die Anordnung oder Duldung durch den AG. Die Arbeitszeiterfassung muss so gestaltet sein, dass die Beschäftigten sie als Nachweis ihrer Leistung in den Überstundenprozess einbringen können. Eine Widerlegung durch den AG soll dann nicht mehr möglich sein. Wenn der AG kein Arbeitszeiterfassungssystem hat, können sich die Beschäftigten auf die eigenen Aufzeichnungen beziehen. Alle geleisteten Überstunden gelten dann sowohl als geleistet, als auch als geduldet, denn der AG hätte sich durch ein eigenes Aufzeichnungssystem Kenntnis der geleisteten Überstunden verschaffen können.[19] Eine auf diese Weise modifizierte Darlegungs- und Beweislast zugunsten der Beschäftigten ist ein wichtiges Instrument, um die Einhaltung einer Arbeitszeiterfassungspflicht in den Betrieben zu gewährleisten.
d) Geeignete Tools zur Durchsetzung und Bußgeldbewährung
- Die Bundesregierung muss zusammen mit den Arbeitsschutzbehörden der Länder für eine flächendeckende Bekanntheit und Überwachung der Arbeitszeiterfassungspflicht sorgen. Dazu gehört auch die Zurverfügungstellung von sicheren Tools[20] und die Einführung eines direkten Bußgeldes bei Verstößen gegen die Erfassungspflicht.
- Bei Verstößen gegen das ArbZG gelten bereits jetzt Bußgelder und Strafen aus § 22 und § 23 ArbZG Bei einem Verstoß gegen die Arbeitszeiterfassungspflicht würde aktuell kein Bußgeld drohen. Erst wenn eine Arbeitsschutzbehörde dem Betrieb die Auflage erteilt würde, eine Arbeitszeiterfassung einzuführen und er dieser Auflage nicht nachkommt, könnte ein Bußgeld aus § 25 Abs. 1 Nr. 2 verhängt werden. Stattdessen braucht es ein direktes Bußgeld in abschreckender Höhe von bis zu 250.000 Euro.[21]
[2] BAG 13.09.2022 1 ABR 22/21
[3] Koalitionsvertrag (bundesregierung.de)
[4] Forderung nach 12-Stunden-Tag: Nicht bedingungslos flexibel - taz.de (01.12.2022)
[5] Arbeitszeitgesetz: DAV fordert Ausnahmen für Kanzleien | juve.de
[6] 20/1852 (05/2022); 20/2058 (05/2022); 20/1503 (04/2022); 19/17134 (02/2020); 19/2522 (06/2018); 19/578 (01/2018); 18/8724 (06/2018)
[7] Wahlprogramm DIE LINKE 2021
[14] Leitenden Angestellte sind in § 5 Abs. 3 BetrVG definiert.
[15] „Der Deutsche Führungskräfteverband ULA begrüßt, dass bestimmte Arbeitnehmergruppen nationalem Recht von der Verpflichtung zur Zeiterfassung ausgenommen werden können.“ Bitkom kommentiert BAG-Urteil mit: „Wichtigste Aufgabe bei der Novelle des Arbeitszeit-Gesetzes muss sein, nicht alle Beschäftigten über einen Kamm zu scheren“.
[16] Richtlinie 2003/88/EG zur Arbeitszeitgestaltung
[17] Daniel Ulber: Vorgaben des EuGHs zur Arbeitszeiterfassung, 2020, (S. 40/41) sowie bereits in unserem Antrag 20/2058
[18] So geregelt auch in § 6 Abs. 2 GSA-Fleisch.
[19] So argumentierte auch das ArbG Emden, 20.02.2020 - 2 Ca 94/19. Das Urteil wurde durch eine Entscheidung des BAG korrigiert (04. 05. 2022, Az.: 5 AZR 359/21); mit dem Hinweis, dass die Arbeitszeiterfassung bis jetzt nur arbeitsschutzrechtliche Arbeitszeit berücksichtige.
[21] So auch unsere Forderung im Mitbestimmungskonzept bei Ordnungswidrigkeiten nach dem BetrVG.