Richard Schröders Bilanz der Einheit
Die deutsche Vereinigung ist kein abgeschlossenes historisches Ereignis, sie ist noch nicht einmal Zeitgeschichte. Über Irrtümer zu sprechen heißt daher, im gegenwärtigen politischen Prozess Deutungshoheit beanspruchen und in den Gang der Dinge eingreifen zu wollen.Richard Schröder, der die 32 „wichtigsten Irrtümer über die deutsche Einheit“ zusammengestellt hat, schreibt gegen die allgemeine Unzufriedenheit mit dem Stand der Einheit, gegen ein „ungehöriges Kritisieren“, gegen eine von ihm behauptete Vorliebe vieler, die Einheit unter „Pleiten, Pech und Pannen“ abzuhandeln. Dagegen setzt Schröder seine Sicht: Die Grundentscheidungen des Jahres 1990 seien unter den damaligen Umständen und mit dem damaligen Wissen „alternativlos“ gewesen. Hier spricht immer auch der Politiker Schröder, der für die Ost-SPD mit am runden Tisch gesessen hat. Seine „Fehlerliste“ ist kurz.
Die lange Liste der Irrtümer stellt vor allem gängige Erklärungen über einen als unbefriedigend bewerteten Gang und Zwischenstand der jüngeren deutschen Einheitsgeschichte zusammen. Es gibt eine Liste der „Irrtümer über die DDR“, der „Irrtümer der Vereinigung“ und der „Irrtümer über das vereinigte Deutschland“. Was fehlt, ist eine Liste der „Irrtümer über die BRD“. Erst eine solche Liste würde das Ausmaß der Enttäuschung, der Unzufriedenheit und der sich bei vielen Ostdeutschen spontan einstellenden skeptisch-negativen Grundhaltung zur deutschen Einheit verständlich machen. „Die Leistung des Tüchtigen zählt“, „Der Westen bietet die Chance auf wachsenden Wohlstand und soziale Sicherheit bei individueller Freiheit“ - erst als solche Erwartungen enttäuscht wurden, als die „blühenden Landschaften“ sich nicht einstellten und es vielen eben doch „schlechter ging“, setzte die Suche nach Erklärungen für die erkannte Misere an.
Woran sollten Erfolg und Misserfolg auf dem Weg der Einheit gemessen werden? Aus der Geschichte des Kalten Krieges und der Systemkonkurrenz, aber auch aus der Dynamik der Wende 1989/90 heraus liegt der Vergleich mit Westdeutschland, dem realen wie imaginierten, mehr als nahe. Schröder lässt diesen Vergleich lediglich für „Grundelemente der westlichen Ordnungen“, für Demokratie, Rechtsstaat und soziale Marktwirtschaft gelten. Wo der Maßstab auch für das alltägliche Leben, Berufaussichten, Einkommen, soziale Sicherheiten, Karrieren gelten könnte, lehnt er ihn ab. Stattdessen empfiehlt er mit dem Gestus eines moralisierenden Volkspädagogen die Umgewöhnung - an das Urteil des Auslands, an die traditionellen Nord-Süd-Unterschiede und die Zersplitterung der deutschen Länder, an Lebensstandard und Infrastruktur in anderen ehemaligen RGW-Staaten und an die Lebensbedingungen in der DDR.
Diese Maßstäbe haben den Vorteil, dass sie die deutsche Einheit als eine letztlich doch ungeheuer erfolgreiche Geschichte erscheinen lassen. Sie haben den Nachteil, dass sie zur Wahrnehmungswelt vieler Ostdeutscher über 35 nicht passen. Gegen das Gefühl der Entwertung des eigenen Lebens, gegen die Perspektivlosigkeit in manchen ländlichen Regionen, gegen das Gefühl der kulturellen Kolonialisierung nutzt das Messen an der Geschichte oder an den Verhältnissen in Rumänien nichts. Der Vergleich mit dem Westen lässt sich nicht wegargumentieren.
2007 erscheint die DDR in ihren territorialen Umrissen weiter auf jeder Karte, die die sozioökonomischen Verhältnisse in Deutschland etwa nach Kreisen oder Ländern farblich differenziert abbildet. Beim Bruttoinlandsprodukt, bei der Steuerkraft oder bei der Arbeitslosenquote - mit schlechten Kennziffern. Die sozialökonomische Annäherung zwischen Ost und West ist seit zehn Jahren nahezu zum Stillstand gekommen. Das Bruttoinlandsprodukt in den ostdeutschen Ländern verharrt bei rund zwei Dritteln der Westländer. Ostdeutschland wird eine dauerhaft subventionierte Transferökonomie bleiben, geprägt von der Abwanderung Hochqualifizierter und mehreren Dekaden eines durchgreifenden Bevölkerungsschwundes bei gleichzeitiger „Vergreisung“. In Zeiten des Wettbewerbsföderalismus und einer Föderalismusreform II , knapp gehaltener öffentlicher Kassen und wachsender Infrastrukturdefizite im Westen sind das die besten Voraussetzungen, um den Ost-West-Gegensatz noch lange als Projektionsfläche im politischen Leben zu halten. Trotzdem: Man sollte das Buch lesen. Weil es erregt, aufregt und anregt.
Von Dietmar Bartsch
Die Welt, 11. April 2007