Interview mit Linksfraktionschef Gregor Gysi: Verhältnisse sind radikaler geworden
Gregor Gysi ist Fraktionsvorsitzender der Linkspartei im Bundestag. An diesem Wochenende erinnert der 59-Jährige in Stuttgart mit Parteichef Oskar Lafontaine an den Sozialistenkongress von 1907.Herr Gysi, Sie fordern Kanzlerin Merkel auf, Verteidigungsminister Jung zu entlassen, der entführte Flugzeuge abschießen lassen will. Die Debatte ist doch nicht neu ...
... Dieser Verteidigungsminister sagt öffentlich: Mich interessiert weder das Grundgesetz noch das Verfassungsgericht, sondern ich bin bereit, eine Anstiftung zum hundertfachen Totschlag zu begehen. Karlsruhe hat klargestellt, dass Menschenleben nicht gegeneinander aufzurechnen sind. Prophylaktisches Töten ist Totschlag.
In Afghanistan sind Sie sogar für den Komplettabzug der Bundeswehr. Wer soll denn dann die Aufbauhelfer schützen?
Wir wollen die Soldaten abziehen, weil wir davon überzeugt sind, dass Terrorismus mittels Krieg nicht zu besiegen ist. Krieg produziert immer neue unschuldige Tote. Dadurch entsteht Hass, den Terroristen für sich nutzen, um ihrerseits Anschläge auf westliche Länder zu starten - wir kennen die Folgen aus London und Madrid. Der Westen muss eine neue Logik entwickeln. Der Terrorismus ist doch erfunden worden von Menschen, die uns hassen. Weil sie uns militärisch unterlegen sind, greifen sie zu Mitteln des Terrors. Und wir machen immer weiter mit: Der Westen bombardiert, es gibt neue Anschläge - diese Kette reist nicht ab. Sie fragen, wer die Aufbauhelfer schützen soll? Seit sechs Jahren sollen einheimische Soldaten und Polizisten ausgebildet werden - aber es funktioniert nicht. Seit sechs Jahren Isaf-Einsatz, nach denen noch immer vier von fünf afghanischen Mädchen nicht zur Schule gehen, auch weil die Nordallianz das wie einst die Taliban verhindert. Darum bin ich für mehr zivile Hilfe ohne Militär.
Dank solcher und anderer populären Forderungen trumpft ihre Partei mit Oskar Lafontaine im Westen viel populistischer auf als im Osten, wo sie Regierungs- und Volkspartei ist. Führt Lafontaine einen Rachefeldzug gegen die SPD auf Kosten der Glaubwürdigkeit im Osten?
Nein. Ich halte uns aber auch nicht für populistisch. Der Vorwurf entsteht doch dadurch, dass die anderen Parteien alle neoliberal geworden sind: Sie erklären, Rente kann es erst ab 67 geben, und wer sie mit 65 für machbar hält, gilt als populistisch. Aber das Entscheidende ist eben nicht die Demografie, sondern die steigende Produktivität. Darum brauchen wir eine gerechte Rentenformel - statt die Vermögenden immer nur zu verschonen und den Spitzensatz der Einkommensteuer zu reduzieren.
Lafontaine will Hartz IV abschaffen und einen generellen gesetzlichen Mindestlohn. Wie kein anderer malt er schwarzweiß und polarisiert, wo er kann - das ist unterhaltsam, aber ist er auch regierungsfähig?
Wir haben mit beidem recht. Lafontaine sagt auch genau, unter welchen Bedingungen Koalitionen möglich sind. Natürlich spitzt er anders zu, aber die Verhältnisse sind radikaler geworden. Mit Lafontaine ist auch unser Erfolg verbunden: Erstmals nach 1949 kann es uns gelingen, eine Partei links von der SPD in ganz Deutschland zu etablieren. Das schließt Koalitionen mit der SPD nicht aus, wenn sie denn mal wieder sozialdemokratisch wird. Die Probleme liegen bei der SPD, nicht bei uns - deshalb reagiert sie auch auf alles so wirr.
Die Linkspartei will die bessere SPD sein?
Nein, aber wir wollen auch, dass es wenigstens wieder jenen Sozialstaatkompromiss gibt, den Rot-Grün aufgekündigt hat. Als der fiel, wurde die WASG gegründet. Die Fusion mit der Linkspartei war im Juni. Wir haben programmatische Eckpunkte. Bis Ende November gründen wir uns auf Kreis- und Landesebenen. Danach schreiben wir ein Parteiprogramm. Ich sehe keine inhaltlichen Defizite.
Fragen: Claudia Lepping
Stuttgarter Nachrichten, 20. September 2007