Der Soziologe Professor Michael Hartmann über soziale Auslese in Deutschland, die Macht der Lobby-Gruppen und seine Vorstellung eines gerechten Bildungswesens. Sein jüngstes Buch »Eliten und Macht in Europa. Ein internationaler Vergleich« erschien bei campus.
Deutschland ist Weltmeister der sozialen Auslese im Bildungswesen. Wie funktioniert diese Auslese?In Deutschland sorgt das dreigliedrige Schulsystem dafür, dass zu einem sehr frühen Zeitpunkt, nämlich im Alter von 10 bis 11 Jahren, 60 Prozent eines Jahrgangs ein Studium de facto verschlossen bleibt. Das ist der Kern. Aber man muss auch sehen, dass es davor und danach ergänzende Mechanismen gibt: Die vorschulische Bildung fällt weitgehend aus und die Grundschule ist eine Halbtagsschule. Beide Maßnahmen führen dazu, dass familiäre Defizite durch öffentliche Institutionen nur sehr unzureichend ausgeglichen werden können. Je länger Kinder aus Familien, in denen soziale, finanzielle oder Bildungsprobleme existieren, in öffentlichen Einrichtungen sind, desto größer ist die Chance, dass zumindest ein Teil der Bildungsdefizite ausgeglichen werden kann. Solange es kaum vorschulische Bildungseinrichtungen gibt, ist bereits vor der Entscheidung für oder gegen ein Gymnasium eine große Chance vertan. Danach gibt es weitere Mechanismen. Das eine ist die Beurteilung gleicher Leistungen je nachdem welcher soziale Hintergrund existiert: Kinder von leitenden Angestellten werden trotz gleicher Leistung besser beurteilt als Kinder, deren Eltern nicht leitende Angestellte sind. Und: Die Universität ist für Kinder aus nicht-akademischem Elternhaus eine fremde Welt. Dementsprechend muss eine Hemmschwelle überwunden werden. Diese Hemmschwelle wird zurzeit durch Studiengebühren noch erhöht. Im Studium müssen Kinder aus Arbeiterfamilien außerdem viel häufiger für ihren Lebensunterhalt arbeiten. Das heißt, sie brauchen für ihr Studium länger und brechen zu einem größeren Prozentsatz ihr Studium ab.
Obgleich Studien regelmäßig den Bildungsnotstand in Deutschland dokumentieren, führen sie nicht zu einem Aufschrei in den Medien und in der Politik. Warum nicht?
Das wesentliche Argument ist finanzieller Natur. Würde man diese Kritik ernst nehmen, müsste man umgehend mehr Geld ins Bildungssystem stecken. Um auf skandinavische Größenordnungen zu kommen, müsste man die bisherigen Ausgaben fast verdoppeln. Das ist nur zu machen, wenn parallel die Steuern deutlich angehoben werden. Aktuell würde sich die Diskussion um die Erbschaftssteuer dazu anbieten. Aber ob Spitzensteuersatz oder Unternehmenssteuer - im Moment wird überall reduziert, statt angehoben. Das dreigliedrige Schulsystem hat, zweitens, eine extrem starke Lobby. Der Großteil der Eltern, die ihre Kinder selbstverständlich auf das Gymnasium schicken und deren Kinder selbstverständlich Abitur machen, hat ein relativ geringes Interesse daran, dass diese Strukturen aufgebrochen werden. Die aktuellen Debatten zeigen: Mittelfristig wird es auf ein zweigliedriges Schulsystem hinauslaufen. Die Hauptschule ist dauerhaft nicht zu halten, darin sind sich die meisten Beobachter einig. Aber der Sonderstatus des Gymnasiums bleibt erhalten. Denn die Lobby für das Gymnasium ist relativ stark.
Ist die frühe Selektion denn im Interesse der Wirtschaft?
In der Wirtschaft gibt es unterschiedliche Auffassungen: Es gibt zahlreiche Klagen seitens der Handwerker, weil sie mit dem Problem der Hauptschulabgänger direkt konfrontiert sind. Die Großindustrie wird mit diesem Problem kaum konfrontiert, sie kann nach wie vor aus einem breiten Pool von Bewerbern aussuchen. In einem Punkt aber ist sich die Wirtschaft weitgehend einig: das ist der Wunsch nach weiteren steuerlichen Entlastungen. Wenn man seitens der Wirtschaft tatsächlich am Bildungssystem etwas verändern wollte, müsste man auch bereit sein, in einem gewissen Umfang höhere steuerliche Belastungen hinzunehmen. Diese Bereitschaft sehe ich zurzeit nicht.
Man hat den Eindruck, die Politik spricht viel von Bildungschancen, tut aber wenig. Was müsste passieren?
Es gibt einzelne zaghafte Schritte in die richtige Richtung, zum Beispiel die besser Ausfinanzierung der Kindergartenplätze, allerdings mit einer langen Zielvorgabe bis 2013. Das ist nicht gerade überwältigend. Es gibt aber eine viel größere Anzahl an Schritten in die andere Richtung. Beispielsweise wird die gymnasiale Schulzeit auf 12 Jahre verkürzt. Das bedeutet für Kinder, die nicht von vornherein auf einem Gymnasium sind, wird es sehr viel schwerer auf das Gymnasium zu wechseln, weil es keine glatten Übergänge mehr gibt. Auf der Hochschulebene greifen Studiengebühren, Auswahlverfahren und die Ausweitung des Numerus Clausus um sich. Das sind alles Maßnahmen, die die soziale Selektivität des Bildungswesens verstärken. Stattdessen müsste man ganz wesentlich unten anfangen: Man müsste die vorschulische Bildung massiv ausbauen - in einem sehr viel kürzeren Zeitrahmen als bisher geplant. Die Art der vorschulischen Bildung müsste ebenso verbessert werden wie die Ausbildung derjenigen, die diese vorschulische Bildung tragen. Dann müsste die Ganztagsschule eingeführt und das dreigliedrige Schulsystem müsste - das versteht sich von selbst - abgeschafft werden. Auf Hochschulebene müssten die Maßnahmen, die im Augenblick getroffen werden - Studiengebühren, Auswahlverfahren -, zurück gedreht werden zugunsten eines möglichst einfachen Zugangs zu einem differenzierten Hochschulsystem nach skandinavischem Vorbild.
Interview: Ruben Lehnert
linksfraktion.de, 30. November 2007