49 Prozent der Klagen gegen Hartz IV erfolgreich / Kundgebung für höheren Regelsatz am Montag
Die Linksfraktion hält wichtige Grundsätze der Hartz-IV-Reform weiterhin für verfassungswidrig. Doch der Weg nach Karlsruhe ist weit und steinig.Kann man, »jetzt mal verfassungsrechtlich gesehen«, den gesetzlichen Pfändungs-Freibetrag »nicht doch irgendwie« gegen den insgesamt niedrigeren Hartz-IV-Satz in Stellung bringen? Bei manchen Fragen muss auch Sabine Berghahn passen. Dabei ist die Privatdozentin an der FU Berlin als Juristin und Politologin eine Expertin auf dem Gebiet und als solche von der Bundestags-LINKEN zur Anhörung gebeten. Doch lassen die zahlreichen Details und Winkel des »4. Gesetzes für moderne Dienstleistungen auf dem Arbeitsmarkt« so viele Fragen offen, dass niemand auf alles eine Antwort haben kann. Beim nächsten Problem weiß Berghahn zumindest eine Erklärung: Dass das Kindergeld den Eltern auf ALG II angerechnet wird, sei »eine Erblast aus dem Reglement der alten Sozialhilfe«.
Auch Jahre nach der Einführung reißt die Welle der Klagen und Widersprüche im Zusammenhang mit Hartz IV nicht ab. Ganz im Gegenteil, sagt Volker Mundt. Der Berliner Rechtsanwalt ist einer von denen, die Woche für Woche an diesem Papierberg mitarbeiten. Dabei ist ihm aufgefallen, dass »49 Prozent der Klagen und jeder dritte Widerspruch« in Sachen Hartz IV erfolgreich verlaufen.
Fast jede zweite Klage erfolgreich
Eine enorme Quote, sagt Katja Kipping, die nicht nur auf handwerkliche Mängel hinweise, sondern auf grundsätzliche Probleme. Deswegen will die Vizevorsitzende der Partei, deren Entstehung so eng mit der Bewegung gegen Hartz IV verbunden ist, die Grundlagen des Gesetzes gern durch den Grundgesetztest schicken.
Schon der Regelsatz steht dabei im Blickpunkt. Zwar sieht die herrschende Rechtsprechung 347 Euro offenbar als ausreichend an, das grundgesetzlich geforderte Leben in Würde zu ermöglichen. »Verfassungsrechtlich bedenklich« sei dagegen die oft unzureichende Gewährung von Sonderbedarfen - etwa bestimmter Diäten. »Sehr bedenklich« findet Kipping die Festlegung des Regelsatzes für Kinder und Jugendliche, denen 80 bzw. 60 Prozent eines Erwachsenen-Satzes zustehen. Diese »normative Ableitung« sei »weder inhaltlich aussagekräftig begründet noch rational nachvollziehbar«.
Eine zweite Großbaustelle sieht Anwalt Mundt in dem Prinzip, ALG-II-Bezieher bei »Fehlverhalten« jeglicher Art finanziell zu sanktionieren. Wenn der Regelsatz schon das Existenzminimum darstelle, lasse sich argumentieren, wie könne der Staat dann selbst in dieses noch empfindlich eingreifen, bis hin zur Kürzung auf Null? Das widerspreche dem Menschenwürdegrundsatz und dem Sozialstaatsgebot im Grundgesetz - und leiste im Einzelfall der Willkür Tür und Tor. Etwa 40 Prozent aller ausgesprochenen Sanktionen erweisen sich bei Überprüfung denn auch als anfechtbar.
Ein weiter Weg bis zur höchsten Instanz
Den dritten Ansatz, Hartz nach Karlsruhe zu zitieren, sieht die LINKE in der Konstruktion der »Bedarfsgemeinschaften«. Dort würden »Unterhaltsverpflichtungen statuiert«, wo sie weder das Bürgerliche Gesetzbuch noch das Familienrecht kennt - bei der Beweislastumkehr für eheähnliche Gemeinschaften, bei der Einordnung von Stiefkindern und der »Stallpflicht« für Unter-25-Jährige.
Angriffspunkte bietet Hartz IV genug, auch verfassungsrechtlich. Doch ist der Weg nach Karlsruhe weit. Wer individuell gegen Details klagt, bekommt zwar oft Recht. Doch ist damit keine Normen-Überprüfung verbunden.
Manchmal allerdings reagiert Berlin schnell, sogar vorauseilend. So soll im Regierungsapparat derzeit ein Referentenentwurf kursieren, der eine neu gefasste »Eingliederungsvereinbarung« zum Ziel hat. Irgendjemand muss aufgefallen sein, dass ein unter Sanktionsdrohungen pflichtgemäß unterzeichnetes Papier gegen den Grundsatz der Vertragsfreiheit verstößt. Dabei, sagt Kipping fast enttäuscht, hatte die Opposition dieses Fass noch nicht einmal richtig aufgemacht.
Zum Juli steigt der Regelsatz um ganze vier Euro. Für eine völlig neue Berechnung soll am Montag vor dem Brandenburger Tor demonstiert werden - zeitgleich zu einer Anhörung zum Thema im Sozialausschuss des Bundestags.
Von Velten Schäfer
Neues Deutschland, 14. Juni 2008