Brief der Vorsitzenden der Bundestagsfraktion und der Partei DIE LINKE an Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier
Sehr geehrter Herr Bundespräsident,
in Erwartung Ihrer baldigen Befassung mit der Ausfertigung und Verkündung des Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes (Bundestagsdrucksachen 20/5370 und 20/6015) fühlen wir uns verpflichtet, auf die besonderen Umstände bezüglich des gegenständlichen Gesetzgebungsverfahrens sowie auf die verfassungspolitischen Auswirkungen hinzuweisen.
Am letzten Freitag haben die Abgeordneten der Koalition ein neues Wahlrecht gegen die Stimmen der Union, der Linken sowie die überwiegende Anzahl der Stimmen der AfD beschlossen. Von einem politisch besonders relevanten Aspekt der Gesetzesänderung, nämlich der faktischen Abschaffung der so genannten Grundmandatsklausel haben die Abgeordneten der Opposition erst eine knappe Woche vor der Abstimmung durch die Presse erfahren.
Seit vielen Jahrzehnten ist es geübte parlamentarische Praxis, bei Wahlrechtsänderungen einen möglichst großen überparteilichen Konsens herzustellen. Dadurch soll stets ein hohes Maß an Akzeptanz in der Bevölkerung gewährleistet werden. Es soll insbesondere der Eindruck vermieden werden, dass die jeweils regierungstragenden Teile des politischen Spektrums ihre Position nutzen, um durch Wahlrechtsänderungen ihre Chancen auf Wiederwahl zu verbessern.
Wir halten es für geboten, aus verfassungspolitischer Sicht auf die geplante Gesetzesänderung zu blicken.
Das Grundgesetz gewährt dem parlamentarischen Gesetzgeber ein hohes Maß an Gestaltungsspielraum, wenn es um das Wahlrecht geht. Die Existenz der Grundmandatsklausel ist dabei nicht zwingend.