Linke will Hessen als Tor zum Westen - Gysi mit 60 nicht müde
Kassel (dpa) - Es ist Gysis Show. 65 Minuten steht der Vorsitzende der Bundestagsfraktion der Linken auf der Bühne. Seine freie Rede am Montagabend in Kassel ist eine Mischung aus Angriff, Information, Kabarett und Selbstironie. Er startet mit einem Kalauer. Immer dieser demütigende Akt, dass er die Mikrofone auf seine Höhe herunterbiegen müsse, sagt der Mann mit der Körpergröße 1,63 Meter. »Ich bin vielleicht etwas kurz geraten, deswegen aber noch nicht klein«, amüsiert er seine Zuhörer, die zur großen Freude der örtlichen Linken knapp zwei Wochen vor der Landtagswahl in Hessen viel zahlreicher als erwartet erschienen sind. Sie stehen bis auf die Flure und feiern Gysi mit Beifall, als er ruft: Verändern wir Deutschland!«Gysi selbst hat auch etwas zu feiern. Er wird an diesem Mittwoch 60 Jahre alt und er hat sich noch viel vorgenommen. »Ich will noch erleben, dass kein Kind mehr in Armut leben muss«, sagt er auf die Frage, wann für ihn Schluss sein wird mit der Politik. Angesichts von 2,5 Millionen in Armut lebenden Kindern in Deutschland kann seine Partei noch lange mit ihm rechnen. Und angesichts ihres Mangels an Führungspersönlichkeiten ist sie darauf auch angewiesen.
Gysi wurde am 16. Januar 1948 als Sohn einer alt eingesessenen Familie mit jüdischen Vorfahren in Berlin geboren. Sein Vater war Kulturminister in der DDR. Mit 19 trat Gysi in die Staatspartei SED ein. Politisch spielte er in der DDR nie eine Rolle. Nach dem Fall der Mauer wandelte er die SED durch den Bruch mit der stalinistischen Vergangenheit in die Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS). Seine Fraktion ehrt ihn am Mittwoch mit einem großen Empfang. Geschenke will Gysi nicht haben. Er wünscht sich, dass seine Fraktion für ein SOS-Kinderdorf in Brandenburg spendet.
Im Zusammenspiel mit seinem Co-Vorsitzenden Oskar Lafontaine hat Gysi eine neue Machtbasis geschaffen, von der die PDS - später Linkspartei - früher nur träumte: Die Ausdehnung in den Westen der Republik. Die erste gesamtdeutsche Linke habe bereits die politische Achse nach links verschoben, erklären beide. In Kassel sagt Gysi: »Ich weiß doch, dass wir nicht mehr sind, als ein Korrekturfaktor, aber wir verändern den Zeitgeist und das ist unsere Aufgabe.«
Die Linke malt sich Chancen aus, in Hessen erstmals in das Parlament eines westdeutschen Flächenlandes zu kommen. Lafontaine ist überzeugt, Ministerpräsident Roland Koch (CDU) habe mit seiner scharfen Forderung nach einem verschärften Jugendstrafrecht ein Eigentor geschossen. »Die Kampagne ist gegen die Wand gefahren.«
Gysi lässt in seinem Wahlkampfauftritt so gut wie kein Thema aus: Rentner, Kranke, Arbeitslose, Kinder, Mittelschicht, Anti-Terror-Kampf, Kultur, Millionäre, Steuergerechtigkeit. Er bringt die Menge im Saal in Wallung. Er wettert gegen die Privatisierung öffentlichen Eigentums wie der Stromversorgung. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) habe auf Energiepreise genauso viel Einfluss wie er: »Nämlich keinen.« Nur Merkel und Gysi könne man wählen. Konzern-Chefs nicht.
Damit das nun auch klappt mit dem Einzug in den hessischen Landtag, hält Gysi auch in der Sitzung der Bundestagsfraktion am Dienstag in Kassel noch eine flammende Rede vor den eigenen Abgeordneten und Kandidaten. »Wir müssen kämpfen bis zuletzt und dürfen nicht in den letzten drei Tagen ermüden«, warnt Gysi kein bisschen müde. »Ich weiß, man hat sich dann schon 14 Mal gehört und beginnt sich mit sich zu langweilen. Aber wir haben jetzt die Chance, das Land politisch-kulturell zu verändern.«
Von Kristina Dunz und Kirsten Baukhage
dpa, 15. Januar 2008