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Rüdiger Simmel von HintenFoto: Torben Weiß

»Uns trennt ein Oben und Unten, ein Arm und Reich«

Archiv Linksfraktion - Nachricht,

Es sind nicht nur die Ärmsten, denen die Preiskrise zu schaffen macht: Rentnerinnen und Rentner, Normal­verdienende, Familien – sie alle leiden unter den explodierenden Ausgaben für Lebensmittel, Sprit, Energie, Wohnen. Was sich für viele Politikerinnen und Politiker nur als abstrakte Statistik darstellt, ist für viele Menschen konkrete Realität. Wir haben mit einem von ihnen gesprochen.

Der Radius, in dem sich der 67-jährige Rüdiger Simmel bewegt, wird kleiner. Das liegt nicht daran, dass er sich nichts mehr leisten kann, seit Miete und Energiepreise im vergangenen Jahr um 300 Euro gestiegen sind. Es liegt auch nicht an den hohen Lebensmittelpreisen. Es liegt an seinen Augen. Nachdem sich im vergangenen Sommer seine Netzhaut ablöste, kann er auf beiden Augen kaum noch sehen. 

Wenn er durch seinen Stadtteil Linden in Hannover läuft, dann orientiert er sich an Pollern, die den Bürgersteig vom Fahrradweg trennen. Die kann er gut sehen, die geben ihm Sicherheit. Die Arme streckt er leicht vor, um nicht aufzufallen. Manchmal schwankt er beim Laufen ein klitzekleines bisschen. Das liegt daran, dass die Augen ein Teil des Gleichgewichtsorgans sind. Weil sie nicht so funktionieren, wie sie sollen, gerät Rüdigers Welt dann für den Bruchteil einer Sekunde aus dem Tritt. 

Wenn Rüdigers Frau Simone in zwei Jahren in Rente gehen wird, dann wird auch der gemeinsame Haushalt der beiden aus dem Tritt geraten. »Dann sind wir bei 1.800 Euro brutto – zusammen«, rechnet er vor. Bei über 1.000 Euro Miete für die Wohnung bleibt da nicht mehr viel zum Leben übrig. Arm sind sie damit zwar noch nicht, aber eben auch nicht weit genug davon entfernt.

Einen Nebenjob schafft Rüdiger mit seinen Augen nicht. Dabei würde ihm das helfen, sobald auch seine Frau in Rente geht. Als er auf seine Lebensgeschichte zu sprechen kommt, erzählt er: »Wir waren arm, wir sind arm, wir werden immer arm bleiben – das ist der Stern, unter dem ich aufgewachsen bin. Das hat nichts damit zu tun, dass ich kein Geld in der Tasche habe, sondern damit, welcher Klasse ich angehöre.« 

Rüdiger ist ein politischer Mensch, das wird im Gespräch mit ihm deutlich. Anfang der 1970er Jahre war er während der Ausbildung zum Industriekaufmann Jugendvertreter bei der AEG, bis ihm »wegen politischer Betätigung und sozialer Unverträglichkeit« gekündigt wurde. 1973 trat er in die Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend (SDAJ) ein, später dann in die DKP. Ab 2000 war er dann bei DIE LINKE aktiv – bis er 2021 aus gesundheitlichen Gründen kürzertreten musste.

Rüdiger Simmel, seine Frau und die gemeinsamen Kinder heißen eigentlich anders. Sie möchten lieber anonym bleiben – zu groß ist die Sorge, dass sie sich schaden könnten. Wenn Rüdiger mit seiner tiefen, rauchigen Stimme spricht, dann schwimmen seine Pupillen in den Augen oft träge umher. Doch auf seinen Lippen liegt häufig ein Lächeln, wenn er beim Erzählen mit großer Ruhe nach den passenden Wörtern sucht. 

Es ist mittags, wir sitzen im Raucherbereich des Café Centrum am Lindener Marktplatz. Vor Rüdiger steht ein Aschenbecher, daneben liegen seine Zigaretten, die Sonnen­brille gegen die Helligkeit draußen, eine kleine Taschenlupe und sein Klapp­handy. »Das läuft noch mit Braunkohle«, sagt er und lacht dabei so ausgelassen, dass man mitlachen möchte. Die kleine Taschenlupe hat er dabei, um die Zahlen und Buchstaben auf seinem Handy zu entziffern. 

»Die Politik hat uns erst richtig ins Visier genommen.«

Seit 2014 sind die Mieten in Hannover im Durchschnitt um mehr als 40 Prozent gestiegen. Dazu kommen noch die explodierenden Energiekosten. Für viele Menschen ist das kaum mehr stemmbar. Und die Rettungspakete, die von der Ampelkoalition geschnürt werden, sind höchstens Pflaster auf den Wunden der Ungleichheit. So wundert es nicht, als Rüdiger erzählt, dass er und seine Frau von der Gaspreisbremse gar nichts hätten. Gerechtigkeit? Fehlanzeige!

So wie Rüdiger und seiner Frau Simone geht es derzeit vielen Menschen. Sie, ihre beiden Kinder und die Kinder ihrer Tochter Sarah sind nicht arm – und müssen dennoch schauen, wie sie über die Runden kommen, seitdem die durch die Inflation gestiegenen Kosten ihre Gehälter und Renten auffressen. 

Der Zusammenhalt in der Familie Simmel ist dafür umso größer: Damit ihr gemeinsamer Sohn Daniel sein Studium beenden kann, wohnt er mit Anfang dreißig bei seinen Eltern. Daniel arbeitet drei Tage die Woche, die anderen beiden Tage studiert er in Hamburg. Es geht eben nur zusammen, aber das ist ohnehin die Maxime im Hause Simmel.

Für diesen Tag haben Rüdiger und seine Frau Simone die Betreuung ihrer Enkelkinder übernommen. Das machen sie jeden Mittwoch und abwechselnd Samstag oder Sonntag. Anders könnte Tochter Sarah ihre Umschulung nicht abschließen. 

Rüdiger muss deswegen gleich aufbrechen, um bei der Betreuung seines Enkelkindes zu helfen. Vor dem Café Centrum ist es nass und windig. Doch etwas liegt Rüdiger noch auf dem Herzen, jetzt redet er sich in Fahrt. Dass in der Politik und in den Medien ständig von einem »Wir« gesprochen werde, ärgert ihn. »Wer ist dieses ›Wir‹?«, fragt er. »Uns trennt ein Oben und Unten, ein Arm und Reich. Die einen besitzen, die anderen nicht. Diese reale Welt wird aber nicht abgebildet.«

Hat sich sein Verhältnis zur Politik verändert, seitdem die Preise für Gas, Strom und Lebensmittel immer weiter steigen? Rüdiger zuckt mit den Schultern. »Die Reserven werden aufgefressen. Ich habe den Eindruck, die Politik hat uns erst richtig ins Visier genommen«, sagt er. 

Eine Studie, die im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales erstellt wurde, bestätigt seinen Eindruck. Darin heißt es unter anderem: »Die Politik des Bundestages reagiert häufiger auf die Ansichten 
und Anliegen der obersten Einkommensschichten.« Rüdiger ist vor seiner Wohnungstür angekommen. Er geht die Stufen zur Haustür hoch, dreht sich um und verabschiedet sich. Die Enkelkinder warten.

Text: Olivier David

Fotos: Torben Weiß


So wollen wir die Menschen entlasten

Die finanzielle Belastung durch die steigenden Preise für Wohnen, Heizen und Lebensmittel sind für immer mehr Menschen nicht mehr tragbar. Deswegen setzt sich die Fraktion DIE LINKE. im Bundestag für spürbare Entlastung ein: Wir haben beantragt, dass die Mehrwertsteuer auf Grundnahrungsmittel ausgesetzt wird. Eine Preiskontrolle soll dabei sicherstellen, dass die Reduzierung an den Supermarktkassen an die Verbraucher weitergegeben wird.

Um die steigenden Energiekosten aufzufangen, haben wir monatliche Zahlungen von mindestens 125 Euro pro Haushalt beantragt sowie eine Einmalzahlung von 200 Euro an alle armutsgefährdeten Menschen. Zusätzlich haben wir vorgeschlagen, die Mehrwertsteuer auf Erdgas, Strom und Fernwärme auf 7 Prozent zu reduzieren und den CO2-Preis für das Heizen vollständig an die Vermieter zu übertragen. Wir machen uns außerdem dafür stark, dass bei Menschen in Grundsicherung die tatsächlichen Energiekosten übernommen sowie Strom- und Gassperren für Privathaushalte verboten werden.

Die Fraktion DIE LINKE. im Bundestag setzt sich für die Verlängerung des 9-Euro-Tickets, ein sozial gerechtes Mobilitätsgeld, ein Energiegrundkontingent für alle Bürgerinnen und Bürger zu günstigen und stabilen Preisen sowie eine unbürokratische und schnelle Unterstützung für Studierende ein. Diese Maßnahmen würden die Menschen in diesem Land merklich entlasten – und wurden allesamt von den Ampel-Parteien SPD, Grüne und FDP im Bundestag abgelehnt.


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