Ein 'Aussteiger' packt aus
Von Hans-Gerd ÖfingerAngie ist Anfang 30. Als sie ihren Job bei einer Leiharbeitsfirma verliert, gründet sie ihre eigene Personalagentur und vermittelt Menschen, die um jeden Preis bereit sind zu arbeiten. Sie entdeckt, dass sie mit illegalen Praktiken mehr Geld machen kann. Sie wird zur Ausbeuterin.
Angie ist die Hauptfigur in dem sozialkritischen Spielfilm »It´s a free world« (»Dies ist eine freie Welt«) von Ken Loach. Der Film spielt in London. Doch er könnte auch in Deutschland spielen, wo sich die Zustände in den letzten Jahren erheblich verschlechtert haben. Die deutschen Angies überleben nur, wenn sie tricksen, mit harten Bandagen kämpfen und zu rücksichtsloser Ausbeutung bereit sind.
Hans Marquardt (Name wurde von der Redaktion geändert), weiß wovon er spricht: Er selbst war jahrelang in dem »Gewerbe« irgendwo im deutschen Süden tätig. Marquardt wurde »Aussteiger«, weil er es nach zehn aufreibenden Jahren als Persponaldisponent in der Leiharbeitsbranche nicht mehr ausgehalten hat.
»Wenn Sie hier morgens reinkommen, müssen Sie Moral und Anstandsbegriffe an der Garderobe abgeben.« Diese Worte seines Ex-Chefs klingen Hans Marquardt noch Jahre später in den Ohren. »Man wird selbst so ein ekliger Typ«, beschreibt er den Wandlungsprozess eines engagierten Disponenten, der sich anfangs Hoffnungen machte, mit Verhandlungsgeschick gutes Geld zu verdienen und Menschen zu helfen.
In seinem Job begegnete Marquardt Arbeitssuchenden unterschiedlichster Herkunft, Altersgruppen und Qualifikation. Viele haben mit 50 trotz bester Eignung anderswo keine Chance. Diese Notlage machen sich Leiharbeitsfirmen zunutze, von denen etliche erst seit der Jahrtausendwende entstanden sind. Ihnen kommt zugute, dass durch Gesetzesänderungen Leiharbeit von einer befristeten Ausnahme zur Gewohnheit wurde.
Arbeitsagenturen sparen zu lasten der Arbeitlosen
Leiharbeitsfirmen sind eng mit den Arbeitsagenturen verflochten, die ihnen oft über private Arbeitsvermittler arbeitslose Menschen zuweisen und »Erfolge erwarten auf Teufel komm raus«, so der Ex-Disponent. Wer sich trotz miserabler Bedingungen nicht bewirbt und eine Stelle nicht annimmt, muss Leistungskürzungen befürchten. »Der Staat bindet die Firmen in das Repressaliensystem ein und macht sie zum verlängerten Arm der Arbeitsagentur. Für viele Arbeitssuchende ist der Personaldisponent eine Autorität, der einen bei der Agentur als arbeitsunwillig verpfeifen kann«, erklärt Marquardt: »Erpresserischer Tonfall und Nötigung sind gang und gäbe.«
Sein eigenes Einkommen bestand neben einem Grundgehalt aus Prämien auf den von ihm persönlich erzielten Umsatz. Die Prämien sind in manchen Firmen jederzeit veränderbar. So sieht sich jeder Disponent unter dem Zwang, möglichst viele Menschen zu vermitteln - egal wie.
Preisdruck in der Branche üben auch die Kunden aus: »Die kommen und fordern immer unverschämtere Billigpreise für Arbeitnehmer. Den Kostendruck gaben wir an die Arbeiter weiter. Da ist keine Qualität mehr drin. Pfusch bei Montagearbeit am Bau durch unmotivierte Leih-Handwerker ist vorprogrammiert«, prangert Marquardt die »Geiz ist geil«-Mentalität an.
Jede Vermittlung müsse schnell gehen, so Marquardt: »Die Leute werden für sechs oder sieben Euro Stundenlohn herumgeschubst, manchmal auch über 800 km vom Heimatort entfernt.« Vielfach würden Arbeitnehmerrechte missachtet und Leiharbeitern bewusst tarifliche Leistungen vorenthalten. Wochenendpendler wüssten oft nicht, dass sie die Fahrzeit auch als Arbeitszeit verbuchen können. »Die Branche lebt davon, dass die Arbeiter uninformiert sind und Angst vor einer Autorität haben«, so Marquardt.
Dabei sind die Bestimmungen der Tarifverträge alles andere als üppig. Ein Teil wurde zwischen dem Arbeitgeberverband Mittelständischer Personaldienstleister (AMP) und der »Tarifgemeinschaft Christlicher Gewerkschaften für Zeitarbeit und Personal Service-Agenturen (CGZP)« abgeschlossen, einem Ableger des Christlichen Gewerkschaftsbunds (CGB).
Bei solchen sklavenartigen Arbeitsbedingungen und unchristlichen Löhnen könnte auch unter nicht religiös eingestellten Leiharbeitern die Hoffnung auf ein besseres Leben nach dem Tod aufkeimen. Der AMP ist einer von mehreren konkurrierenden Arbeitgeberverbänden für Zeitarbeitsunternehmen und umfasst vor allem neuere und kleinere Firmen, die Emporkömmlinge und »Angies« der Branche. DGB-Gewerkschaften werfen der CGZP »Gefälligkeitstarifverträge« vor, Arbeitsgerichte halten sie für nicht tariffähig und verweisen darauf, dass die CGZP nicht einmal Mitgliedszahlen nennen könne
Kranksein ist nicht vorgesehen
Aus Angst schleppen sich viele Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter krank zur Arbeit. »Eine Kündigung kann auch bei Erkrankung erfolgen«, steht als Warnung in einem »Mitarbeitervertrag«. Lohnfortzahlung im Krankheitsfall ist ein Reizwort. »Ein Mitarbeiter war tatsächlich krank. Ich musste ihn zwingen, einen Ersatzmann zu finden. Ein Verwandter ging tatsächlich für ihn eine Woche lang hin. Es ist nicht auszudenken, was bei einem Arbeitsunfall geschehen wäre«, erinnert sich Marquardt.
Viele Leiharbeiter wollen nur anonym über ihre Erfahrungen reden. Ein Passus im Arbeitsvertrag verlangt ausdrücklich die Schweigepflicht. »Bei einem Verstoß gegen dagegen kann der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis kündigen« (O-Ton Mitarbeitervertrag).
In seinem Job erlebte Marquardt vor Ort Zustände wie in Reportagen des Enthüllungsjournalisten Günter Wallraff oder Charlie Chaplins Film »Moderne Zeiten«. So etwa in einer Wurstfabrik, in der Leiharbeiterinnen acht Stunden lang bei Temperaturen um den Gefrierpunkt und penetrantem Fleischgeruch Würstchen verpacken mussten - für Stundenlöhne um sechs Euro. »Wer da arbeitet, sollte eigentlich mehr verdienen als ein Sachbearbeiter am PC in einem klimatisierten Büro«, so Marquardt.
Die Erfahrungen als Personaldisponent lassen Hans Marquardt nicht ruhen. Er ist besorgt über den Zustand eines Landes, in dem auch viele Konzerne ihre eigene interne Zeitarbeitsfirma gründen. Mit einem derartigen »historischen Rückschritt«, bei dem »die Gesellschaft in vorgewerkschaftliche Zeiten zurückgebombt« wird, will er sich nicht abfinden.
Damit stößt er bei Sabine Zimmermann, arbeitsmarktpolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE. im Deutschen Bundestag auf offene Ohren. Die sächsische Gewerkschafterin spricht Klartext und fordert gleichen Lohn für gleiche Arbeit ab dem ersten Einsatztag: »Alles andere ist moderne Sklaverei.«
Die derzeitigen Regelungen zur Leiharbeit ist ein gigantisches Lohndumpingprogramm. Die rot-grüne Regierung von 1998 bis 2005 und die schwarz-rote Koalition von 2005 bis 2009 haben diese Zustände zu verantworten. »Es ist ein Skandal, dass es hunderttausende Arbeitnehmer zweiter Klasse gibt, die weniger Gehalt bekommen und obendrein noch einen unsicheren Arbeitsplatz haben«, kritisiert Sabine Zimmermann. Die derzeitigen Regelungen seien auch ein Angriff auf die Gewerkschaften. Denn viele Unternehmen missbrauchten Leiharbeiter, um bisher gültige Arbeitsbedingungen zu unterlaufen oder setzen Leiharbeiter als Streikbrecher ein.
DIE LINKE im Bundestag will Leiharbeit wieder beschränken und fordert, dass die in den letzten zehn Jahren beschlossenen Gesetzeslockerungen zurückgenommen werden. Missbrauch müsse durch strenge Regeln ausgeschlossen werden. Leiharbeit sei in bestreikten Betrieben zu verbieten. Ebenso dürfe kein anderer Tarifvertrag schlechtere Bedingungen als die für den Einsatzbetrieb gültigen Tarifverträge vorsehen. Zudem verlangt Sabine Zimmermann Mitbestimmungsrechte für Betriebsräte im Zusammenhang mit dem Einsatz von Leiharbeit
Dieser Artikel erscheint in der gedruckten 14. Ausgabe des Fraktionsmagazins »Clara«, die am 7. Dezember herauskommt.